Kapitel 21 - Stau


Zur nächsten Zaubertränkestunde stand Snape in üblicher Positur - wie zur Statue erstarrt - vor der Klasse. Ihm bereitete es eine diebische Freude, die Plagegeister, auch bekannt als Schüler, zusammenzucken zu sehen, sobald er sich bewegte. Wahrscheinlich von der Angst besessen, er bewegte sich auf sie zu. Aber das war gut so.

Der heutige Tag, sein Vorhaben überhaupt, verlieh dem Ganzen noch eine ganz besondere Note und verstärkte sein Hochgefühl. Ein Hochgefühl, das ihm natürlich niemand ansah.

Mit unbeweglicher Miene kündigte er die Stundenarbeit an.

"Sie brauen zur Auffrischung den Schlaftrank. Holen Sie sich, was Sie benötigen. Ich setze voraus, dass Sie dieses fundamentalen Wissens noch nicht verlustig gegangen sind. Zum Ende der Stunde will ich Resultate sehen."

Das war zwar nicht gerade kurz und bündig, wie es seine Art war, doch als er geendet hatte, nahm er gelassen hinter seinem Schreibtisch Platz.

Aniram legte den Kopf schief. Kurzerhand belegte sie ihn mit dem Ehrentitel Mistkerl. Nein! Ihr Denken sträubte sich mit Kräften dagegen, dass er ihren gestrigen Fauxpas so gnadenlos gegen sie einsetzte.

Nichtsdestotrotz bemühte sie sich, ihre Emotionen nicht augenblicklich aufs Gesicht zu zaubern, sondern blieb mindestens so gelassen sitzen wie der Meister persönlich und rührte sich nicht. Erst als nach zwei Minuten noch keine Sonderrolle unter ihrer Nase hing, ging ihr auf, dass sie denselben Trank zu brauen hatte. Verdammt! Mit europäischen Mitteln, mit einem europäischen Buch. Einfach unglaublich. Auf ihrer Oberlippe bildeten sich kleine Schweißperlen.

Snape, dem ihre Regungslosigkeit keinesfalls entgangen war, entschloss sich, deutlicher zu werden.

"Das gilt auch für Sie, Miss Hawkwing."

Dieser Satz erreichte Aniram wie aus einer anderen Welt und schreckte sie auf. Nun packte sie die - leider - auch verbale Wut. Mit derselben Wut stand sie auf und verkündete:

"Nein, das können Sie nicht machen, Sie wissen...", weiter kam sie nicht, denn Snape schnitt ihr das Wort ab.

"50 Punkte von Ravenclaw wegen Arbeitsverweigerung."

Aniram war dermaßen in Rage, dass sie nicht mehr darauf achtete, was sie sagte. In Sekundenbruchteilen war sie zur Abend-Aniram mutiert.

"Ich verweigere nichts, sondern erachte es für unter meiner Würde, auf einem mir unbekannten Territorium, welches sich Europa nennt, diesen Trank zu brauen."

Das Wort "Europa" schleuderte sie mit einer dermaßen großen Verachtung von sich, dass sie jeder nur noch groß ansah. Natürlich hatten inzwischen alle anderen Schüler bemerkt, dass sie auf Grund ihres Wissens und Könnens bei Professor Snape irgendeine Sonderstellung einzunehmen schien. Doch jedem Schüler erschien es undenkbar, sich so weit zu vergessen. Das tat nicht einmal ein Slytherin. Andererseits - warum bekam sie am laufenden Band Strafarbeiten? Das passte nicht zusammen.

Selbstgefällig lehnte sich Snape zurück. Er musste ein für alle Mal dafür sorgen, dass sie klar zwischen Unterricht und Abend differenzierte.

"Auch SIE werden diesen Trank brauen, haben wir uns verstanden?"

In der Klasse war es mucksmäuschenstill. Jeder an ihrer Stelle hätte jetzt den Mund gehalten, schon wegen der Punkte.

"Dann geben Sie mir gefälligst ein Buch, Sie dämlicher Kerl. DAMIT ich anfangen kann."

Puffe von Josy und Tritte von Cho war alles, was sie von ihren Nachbarn abbekam. Von vorn kam etwas völlig anderes. Lang gezogen, gedehnt, gelangweilt.

"Weitere 50 Punkte von Ravenclaw wegen Beleidigung einer Lehrerpersönlichkeit. Die Bücher liegen dort vorn im Schrank."

Ein extrem knappes Kopfnicken in diese Richtung erachtete er an dieser Stelle für ausreichend. Mit unbewegter Miene notierte er den weiteren Punktabzug. Das sah wundervoll aus und salbte seine Augen.

"Miss Chang, weitere 10 Punkte von Ravenclaw. Das, was Sie mit Miss Hawkwing tun, existiert zu meinem Bedauern noch nicht als offizieller Sport."

Bedauern schwang jedoch nicht in seiner Stimme. Sie troff vor Ironie.

Während alle anderen arbeiteten und Cho zwischenzeitlich der Mund aufklappte, schritt Aniram mit hochrotem Kopf an seinem Pult vorbei, nahm sich ein Buch aus dem Schrank und machte sich wieder auf den Rückweg. Ihr lag etliches auf der Zunge. Ihre Überfliegernatur überlegte nicht lange, weshalb sie das, was auf der Zunge lag, nicht in ihrer Rage herauslassen sollte.

"Weshalb bekomme ich keine Sonderaufgaben wie sonst immer? Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich mehr als ein paar Minuten benötige, um diesen Trank zu brauen? Es wäre eventuell angebracht, sich in der verbleibenden Zeit einen Trank gegen größenwahnsinnige Fledermäuse auszudenken! Damit sie schrumpfen? Was weiß ich! Jedenfalls nicht mehr so auffällig herumlungern."

Snape, abends Severus, erhob sich.

"Diese Bemerkung, Miss Hawkwing, hat eine Verlängerung Ihrer Strafarbeit zur Folge. Vier Wochen mindestens. Es liegt ganz bei Ihnen, diese Zeitspanne voll auszukosten." Er machte eine kleine Pause. "Was ich bei Ihrem Temperament durchaus vermute. Und jetzt verschwinden Sie auf Ihren Platz und beginnen Sie."

Gefährlich böse, gefährlich leise wurde seine Stimme. Von dieser Unaussprechlichkeit, die mit hochrotem Kopf vor ihm stand, erntete er jedoch nur einen genervten Blick und ein trockenes Schnauben.

Er wusste, was sie jetzt dachte. ‚Punktabzug und Strafarbeit sind alles, was euch einfällt.'

Trotz der Kürze und Banalität dieses Satzes gefiel ihm das und er begann seine Runde durchs Klassenzimmer.

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Aniram ging wütend an ihren Platz zurück. Sie konnte sich nicht entscheiden, welches Gefühl in ihr überwiegen sollte. Sollte sie Trauer oder Wut den Vorzug geben? Sollte sie traurig darüber sein, dass er sie so gnadenlos ausschlachtete und nebenbei noch das ganze Haus - oder eher wütend? Ein Schlachtfest war es allemal. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und bevor sie selbst so rund wurde wie der Kessel vor ihr, war es wohl doch besser, diesen komischen Trank zu brauen.

Ganz tief steckte sie ihren Kopf in das Buch und zuckte zu ihrem eigenen Erschrecken zurück. Denn sie stellte fest, dass Klappe halten wohl angebrachter gewesen wäre. Was dort an Zutaten stand, wich nicht stark von der australischen Variante ab. Irgendwie war ihr jetzt unbedingt nach dem Aufspüren eines Mauselochs zumute, in das sie sich verkriechen konnte. Würden ihr ihre Hauskameraden das jemals verzeihen? Die Strafarbeit betraf nur sie, mit den Punkten sah das schon anders aus.

Zu ihrem Leidwesen machten sich ihre Gedanken äußerst selbstständig, denn sie stand noch immer wie erstarrt und stierte in das Buch.

Irgendwann, fast wie in Trance, sammelte sie alles zusammen und begann mit der Arbeit. Es war ein eigenartiges Gefühl, dasselbe wie die anderen zu brauen. Dennoch - gemäß ihrer eigenen Einschätzung war sie nach fünf Minuten fertig. Ihre einmal eingefahrene Geschwindigkeit beim Trankbrauen konnte sie nicht bremsen. Sie mochte sich gar nicht ausmalen, was passierte, sollte sie jemals langsamer arbeiten. Dass sie es eines Tages einmal MUSSTE, stand auf einem anderen Blatt. Dieses Blatt war noch nicht soweit, gelesen zu werden.

Snape hatte ihre Unruhe bemerkt. Denn wenn sie wie erstarrt dastand, stimmte etwas nicht. War sie wieder einmal fertig und traute sich diesmal nicht zu fragen, welchen Trank sie als nächstes abzuarbeiten hatte?

Die Möglichkeit einer erneuten Panikattacke lag natürlich genauso nahe. Langsam schlich er sich von hinten an sie an. Normalerweise war das bei anderen Schülern seine Lieblingsbeschäftigung, allerdings kam er sich in diesem Moment selbst deplaziert vor. Es entsprach einfach nicht seiner bis jetzt gezeigten Gewohnheit, sich diesem australischen Wirbelwind zu nähern.

"Fertig?" peitschte er.

"Ja."

Wenn sie überrascht war, dann konnte sie das gut verbergen. ZU gut. Sie zuckte nicht einmal zusammen.

Anschließend an diesen Gedankengang registrierte Snape zufrieden, dass sie nun endlich still geworden war. Dann musste sie wohl wütender sein als angenommen. Es interessierte ihn brennend, wie wütend ein Australier werden konnte. Oder aber sie hielt endlich einmal ihre lose Schleuder und vergeudete nicht noch mehr Punkte. Flitwick würde erfreut sein zu hören, dass nur eine einzige Ravenclaw es schaffte, den Punktestand seines Hauses ins Unterirdische wachsen zu lassen.

"Dann stelle ich Ihnen die Zusatzaufgabe, diesen Trank auf fünf Tage und drei Stunden zu begrenzen."

"Ich arbeite daran", würgte sie mit knirschenden Zähnen hervor. Sicher wäre es besser gewesen, gar nichts zu sagen, aber diesen Kommentar konnte sie sich nicht verkneifen.

So ein Dämlack! Aniram war froh, heilfroh, mit dieser Sonderaufgabe beehrt worden zu sein. Ansonsten würde sie wohl den Wermut saufen und die Affodillwurzel unbehandelt als Hauptmahlzeit zu sich nehmen.

Es war die erste Stunde Zaubertränke, deren Ende sie herbeisehnte, seit sie in Hogwarts war. Sie machte drei überdimensionale Kreuze, als sie mit den anderen durch den Gong erlöst wurde. wurde. Noch nie war ihr eine Stunde so anstrengend erschienen. Nicht einmal damals.

Eine Phiole des Trankes nahm sie ab, verkorkte sie ordnungsgemäß und überreichte sie wortlos dem Herrscher der Kerkerlandschaften.

So schnell wie nie stürmte sie - immer noch mit zusammengebissenen Zähnen - mit den anderen hinaus. Das nächste Fach war Fliegen. Sie wusste nicht, ob sie das als Glück definieren sollte. Einerseits grauste ihr vor dem Besen immer noch, andererseits jedoch fand dieser Unterricht unter freiem Himmel statt.

Auf dem Weg zum Quidditch-Feld musste sie noch einiges wegstecken. Sie hatte es geahnt oder auch gewusst. Die Strafarbeit war ihnen allen egal, aber die Punkte nicht.

Josy meinte: "Was war nur mit dir los? Du musst doch Snape langsam kennen, oder? Du traust dir viel, aber heute wars echt zu viel. Ich glaub nicht, dass wir die Punkte wieder so schnell reinholen können. Da müssten wir schon erst mal die nächsten Spiele gewinnen."

Aniram war weder nach Reden noch Rechtfertigen zumute. "Mir ist einfach nur kotzübel. Das versteht sowieso keiner."

Cho kam hinterher und packte sie rabiat am Umhangärmel.

"Das gibt dir noch lange nicht das Recht, unser Haus in den Ruin zu treiben. Mir ist auch manchmal schlecht, aber du solltest vielleicht nachdenken, bevor du redest."

Aniram riss sich los und stürmte davon.

"Komisch", meinte Josy, "hast du mal ihre Augen gesehen? Ich glaube, sie hat seit Tagen nicht geschlafen. Und sie sehen auch nicht mehr so leuchtend aus. Möchte wissen, was sie hat."

"Oh Mann!!" Cho fuchtelte aufgeregt mit dem Besen. "Nicht leuchtende Augen sind noch lange kein Grund, sich so dämlich zu benehmen."

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Der Tag war durchsetzt von kurzfristigen Aussetzern. Im Anschluss an die Zaubertrankstunde konnte Aniram auch nicht vom Fach Fliegen überzeugt werden. Wie sehr sehnte sie sich nach ihrem ergonomisch geformten Teppich! Wenn sie vom Besen stieg, war sie grün im Gesicht. Dass sie heute beinahe heruntergefallen war, überzeugte sie erst Recht, im falschen Teil der Welt gelandet zu sein.

Der Rest des Unterrichts fand leider im Gebäude statt, so dass sie sich noch mehr eingeengt fühlte. Die Beklemmung, die sich schon seit Tagen bemerkbar machte, wuchs ins Unermessliche. Es war, als ob sie zu wenig Sauerstoff bekam. Der mangelnde Sauerstoff gaukelte ihr Halluzinationen vor.

Manchmal erschien es ihr, als würden die Mauern auf sie zuwachsen. Es war schlichtweg grässlich. Nur ein einziges Mal hatte sie sich so gefühlt wie heute. Allerdings waren damals zwei starke Arme und zwei lange Beine da gewesen und hatten sie vom Abgrund zurückgerissen.

Es lag nicht nur daran, dass der Unterricht in Hogwarts oder besser gesagt Europa anders war als zu Hause. Aniram hatte kein Problem damit, dass es hier andere Unterrichtsfächer gab. Wobei sie schonungslos zugab, dass sie insbesondere die Erforschung der Magnetfeldlinien und Traumzeitpfade ganz besonders vermisste.

Nein, die Wurzel allen Übels war in der Umgebung zu suchen. Dieses Übel wurde allein von den Menschen getoppt. Die Umgebung war eng und düster, die Menschen und die Umgebung unpersönlich und das alles schien sie erst recht einschüchtern zu wollen. Mehr als einmal wischte sie sich mit dem Umhangärmel den Schweiß von der Stirn.

Bevor sie wieder eine solche Panikattacke wie in Snapes Kerker überraschte, stellte sie ernsthaft die Überlegung an, doch auf ihre eisernen Reserven zurückzugreifen. Natürlich war ihr bewusst, was sie da dachte, aber die Tage gingen ins Land und viele Auswege sah sie nicht mehr aus ihrer Situation. Der einzige Ausweg, der ihr helfen könnte, hieß Australien.

Es war gefährlich, was sie dachte und vorhatte, aber vielleicht machte es ihren Kopf etwas freier. Vielleicht sah sie klarer und fand die Wege wieder - ALLEIN wieder. Denn mittlerweile war sie gezwungen, sich ständig an den Rockzipfel einer ihrer Mitschüler zu klemmen und gerade das könnte sich nach dem Desaster in der ersten Stunde als äußerst schwierig und - Aniram seufzte - ebenfalls gefährlich herausstellen.

Ihr Verhalten nach dem Abendessen glich einer regelrechten Flucht. Sie stürzte ins Freie und wollte diese lächerliche Weite genießen, bevor sie wieder in den Kerker hinab stieg. Unter einem Baum blieb sie sitzen, bis ihr die Sonne sagte, dass es an der Zeit war. Das Herzklopfen in der Kehle hatte sich beruhigt.

Es war Abend, endlich Abend. Endlich? Leider? Sie konnte sich darauf selbst keine Antwort geben, suchte noch einmal alle Wutfäden des Tages zusammen, holte tief Luft und ging ins Schloss.

Mit Todesverachtung stürmte sie durch die gigantische Eingangshalle, rannte beinahe den Kerkergang entlang und riss die Tür zum Kerker auf.

Sie stürmte ans Pult und donnerte ihm ins Gesicht: "Was sollte diese Farce heute im Unterricht?"

Snape las weiter in seinem Buch, das er sich gerade geholt hatte. Ganz langsam löste er seine Augen davon und schaute noch langsamer nach oben. Dabei musterte er sie mit einem Blick, der im Normalfall jeden Schüler zum Schweigen brachte, da dieser wusste, dass seine Frage - gleich welcher Art - nicht beantwortet werden würde.

"Wenn sich ein Schüler im Unterricht dermaßen daneben benimmt wie Sie heute, Miss Hawkwing, dann liegt es einzig und allein in meinem Ermessen, diesen Schüler entsprechend zu reglementieren."

"Diesen Schüler entsprechend zu reglementieren…", sie äffte ihn nach. "Sie können ja sogar vollständige Sätze bilden, wenn Sie wollen."

"Sie bewegen sich schon wieder auf eine gefährliche Grenze zu, Miss Hawkwing. Der Fairness halber mache ich Sie darauf aufmerksam, dass Sie diese bald erreicht haben."

"Mein Name ist Aniram, Schätzchen, einfach nur Aniram. Dieses ‚Miss Hawkwing' können Sie stecken lassen. Ich habe die Schnauze gestrichen voll. Voll von diesem erzkonservativen Hogwarts, voll von diesem finsteren, mittelalterlichen Europa, voll von euch."

Es musste alles heraus und zur Bekräftigung und einfach weil ihr danach war, unterstrich sie die entsprechenden Adjektive inklusive des Wortes VOLL mit heftigen Tritten gegen seinen Schreibtisch.

Gelangweilt blätterte Snape eine Seite um.

"Bildet Australien auch Tischler aus? Wenn die Antwort ja lautet, dürfen Sie weiter treten."

"DU...", sie stürzte sich quer über den Tisch und packte ihn am Umhangkragen.

Er sah auf und in ein wutverzerrtes Gesicht. Es interessierte ihn brennend, wie dieser Satz zu Ende gehen sollte. Er bemerkte ein leichtes Glimmen in ihren Augen. Seltsamerweise suchte er diese überdimensional leuchtende Bernsteinfarbe umsonst, die Farbe ihrer Iris näherte sich einem schmutzigen Dunkelgelb.

"Es heißt immer noch SIE, wenn ich Gnädigste darauf hinweisen dürfte. Ich bin der Meinung, wir sollten uns schon etwas nach der Etikette richten."

Er musste sich anstrengen, dermaßen unterkühlt und distanziert zu klingen. Alles an Nonchalance brachte er auf, um so zu tun, als ob ihn das nicht im Mindesten tangierte. Als ob diese Sätze an ihm vorbei pfiffen und eigentlich für jemand anderen gedacht waren.

Der kleine Sev in ihm jedoch frohlockte. Wenn sie wütend war, dann betrachtete er das als Zahltag. Was hatte er am Anfang gegeben, um sie so zu erleben. Tja, das war am Anfang gewesen. Inzwischen kannte er mehrere Facetten von ihr, auch die negativen, die sie anscheinend nicht unter Kontrolle hatte. Ihre Augenfarbe irritierte ihn. Warum ihm in diesem Zusammenhang dieser Gedanke kam, konnte er nicht im Mindesten sagen. So verpasste er auch beinahe ihre trotzige Antwort.

"Etiketten auf den Flaschen, was?"

"Scheren Sie sich endlich zu Ihrem Trank oder es war die längste Zeit Ihrer gewesen!"

Aniram stampfte auf, drehte sich um und murmelte: "Idiot."

"Fledermäuse haben erstaunlich gute Ohren. Das sind noch einmal 100 Punkte von Ravenclaw. Ich bin mir sicher, dass jeder Ihrer Mitschüler diese Zahl sofort mit Ihnen identifizieren dürfte."

Mit diesen Worten klappte er sein schmales Büchlein auf und vermerkte den neuerlichen Punktverlust. Lernte sie denn nie dazu?

Wütend und enttäuscht näherte sie sich dem Arbeitstisch. Die wievielte Wut war das heute schon? Auf dem Weg dorthin entledigte sie sich ihres Umhangs. Irgendwie hatte sie von dieser Farbe den Kanal voll. Sie musste sich zusammenreißen, damit sich ihre Tränenflüssigkeit nicht verselbstständigte.

Nach einem kurzen Blick auf die Arbeitsanleitung stellte sie fest, dass sie heute das außerordentliche Vergnügen hatte, das Alraunenkraut von seiner Wurzel zu befreien. Oder umgedreht. Je nachdem, wie man es sah. Es handelte sich zwar um junge Alraunen, die jedoch in ihrem aggressiven Verhalten den alten in nichts nachstanden.

Zunächst besorgte sie sich ein Brett und ein großes Messer. Das war gerade richtig zum Austoben. Sie packte es fest am Griff und mit demselben festen Griff nahm sie sich eine Alraune und legte sie aufs Brett. Dann begann sie damit, auf das Kraut einzudreschen.

Die Alraune musste sie dabei ordentlich festhalten, so dass sie etliche Male gebissen wurde. Ihre Wut stieg und sie wusste nicht, wohin damit. Sie konnte sie einfach nicht kompensieren. Es gab kein Ventil dafür. Ihr war wirklich zum Heulen zumute. Was sie heute tat, entsprach tatsächlich einer Strafarbeit.

Zum einen vermisste sie ihre eigene Stimme und zum anderen seine. Durch diese unerträgliche Stille waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Austoben, Fechten, um die Wetten rennen oder sonstige sportliche Aktivitäten - wenn das fehlte, wäre es immer noch einigermaßen annehmbar. Aber nicht, wenn Stimmen fehlten, nein, das ging gar nicht.

Ein erneuter Biss. "Elendes Viech, halt doch endlich mal still, ich will doch nur dein Kraut. Mensch, dass ihr Pflanzen so blöd sein könnt!"

Die Alraune landete mit dem Maul nach unten auf dem Brett und wurde von Aniram weiterhin mit Inbrunst bearbeitet.

"Wenn Sie dieses Messer weiterhin schwingen wie eine Machete, hacken Sie sich die Hand ab."

Sie knurrte zurück, obwohl sie froh war, endlich einmal einen Ton zu hören.

"Oh, der Herr kennt sich auch noch in Regionen aus, wo eine Machete verwendet wird. Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut."

Dass sie daraufhin nun wieder keine Antwort erhielt, gefiel ihr nicht. Was wollte er denn nun? Reden, nicht reden, Strafarbeiten verteilen? Schon zog sie genervt die Luft zwischen den Zähnen durch, als ihr Blick auf den Kessel fiel. Dort trudelte gerade ein Salamanderauge vom Grund des Kessels an die Oberfläche und zog einsam seine Bahn. Das erschien ihr gerade richtig als Ventil und Unterhaltungspartner.

"Was glotzt du mich so dämlich an? Mit irgendwem muss ich ja reden. Oder ist dir das zu hoch?"

Das Salamanderauge trudelte wieder beleidigt gen Kesselboden. Es war der Moment, in dem Aniram endlich schwitzend das Kraut von der Alraune entfernt hatte. Das war diesmal harte Arbeit gewesen. Ihre Fantasie ging mit ihr durch und sie erwog für einen kleinen Moment, ob es mit Superkleber dort angebracht worden sei.

Ihre Stirn legte sich in Falten, um sich gleich darauf wieder zu glätten. Nie im Leben! Würde er so etwas tun? Zwar war es ihm nach den heutigen Aktionen zuzutrauen, doch er bekam ja nicht mit, wie sie schwitzte und jammerte und nebenbei innerlich verkümmerte und eigentlich und im Grunde genommen vor Wut kochte. Yeah, es war der Tag der grenzenlosen Wut!

Sie kratzte sich an der Stirn, schüttelte erneut den Kopf und arbeitete weiter. Genau wie im Unterricht wartete Aniram ausnahmsweise diesmal wirklich darauf, dass ihre Zeit hier unten zu Ende war.

Das Verlangen, ihren Hauskameraden in die Hände zu fallen, tendierte gegen Null. Menschen, denen imaginäre Punkte wichtiger waren, konnte sie einfach nicht ernst nehmen. Doch durch das ungewohnte Schweigen, das sie kurzerhand als feindseliges Anschweigen definierte, stieg ihr Unwohlsein, das sie schon den ganzen Tag über begleitete. Im Moment wollte sie nichts weiter als sich in ihr Versteck zu verkrümeln.

Umso überraschter war sie, als sie neben sich eine Bewegung ausmachte und ein Topf Kaffee vor ihr stand. Vorsichtig stupste sie die Tasse mit dem Messer an, ob sie auch real war. Dann erst wandte sie ihren Kopf in seine Richtung und zog eine Augenbraue hoch.




Kapitel 22 - Der Weg in den Abgrund


Snape hatte sehr wohl bemerkt, was in ihr vorging. Obwohl sie ihm den Rücken zuwandte, konnte er an der Bewegung ihrer Schultern ihren Gemütszustand ausmachen. Langsam und bedächtig hatte er sich ihr mit den Kaffeebechern genähert. Bereit, ihr ein für allemal eine Lektion zu erteilen.

Ihre hochgezogene Augenbraue irritierte ihn etwas. Dass ihr übliches Plappern fehlte, zeigte ihm, dass irgendetwas nicht mit ihr stimmte. Strafarbeit hin oder her. Also interpretierte er diese wanderfähige Braue als Frage und begann den Disput mit einer Gegenfrage.

"Sind Sie nicht auch der Meinung, halb Hogwarts kommt es eigenartig vor, dass Sie seit Wochen Strafarbeiten erledigen müssen, obwohl Sie im Unterricht gute Ergebnisse abliefern?"

Anirams zweite Augenbraue schnellte ebenfalls nach oben und da sie dazu noch die Augen aufriss, sah sie im Moment wie ein verirrter Kuckuck aus. Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Ja, diesmal war sie mit ihrer Schlagfertigkeit ausnahmsweise am Ende. Um nicht gar so vertrottelt dazustehen, nahm sie den Kaffeebecher zur Hand und trank.

Dass diese heutigen Aktionen, die sie seit dem frühen Morgen konstant Nerven gekostet hatten, eiskalte Berechnung gewesen sein sollten, wollte nicht in ihren Kopf. Noch nicht. Warum hatte er das nicht mit ihr abgesprochen? Warum kamen seine Art und Weise ihr gegenüber samt Punktabzug inklusive Strafarbeit so aus dem Blauen? Sie ahnte es. Sie begann zu verstehen. Weil sie in diesem Fall nie, nie und nimmer, so echt reagiert hätte. Es hätte eventuell den Anschein erweckt, als hätte sie darauf warten und hätte dann angemessen reagieren können. Aber dann wäre ihre Reaktion nicht heftig genug und demzufolge für sie untypisch ausgefallen. Nicht australisch, sondern vielleicht noch mit europäischem Touch. Auf die Klasse hätte es vielleicht wirklich wie ein einstudiertes Ritual gewirkt. Vielleicht.

Als ihr das alles langsam dämmerte und sie sich der Tragweite seiner provozierenden Handlungen bewusst wurde, konnte sie nicht umhin, ihm im Stillen Abbitte zu leisten. Er hatte weiter vorausgedacht als sie. Gewissermaßen war sie ihm dankbar dafür, denn sie hatte beinahe schon nicht mehr gewusst, was sie zu den Mahlzeiten über ihre Strafarbeit erzählen sollte.

Als sie alles aufgearbeitet hatte, regte sich der alte Widerspruchsgeist.

"Mussten es denn unbedingt 200 Punkte sein? Können Sie nicht die letzten 100 streichen und wieder dazu tun?"

Snape hatte sie genau beobachtet und es bereitete ihm eine diebische Freude, sie sprachlos zu sehen. Natürlich zeigte er das nicht nach außen - auch jetzt noch nicht - denn er wollte erst warten, ob sie alles folgerichtig kombinierte und ihre eigenen und hoffentlich richtigen Schlüsse zog.

Dass es im üblichen Geplänkel ausartete, damit hatte er nicht gerechnet. In der Erwartung, dass sie klein beigab, dass sie ihn anfuhr und womöglich noch mehr Punkte verlustig ging - dies alles existierte in seiner Vorstellung. Aber nie und nimmer diese Nörgelei, die in seinen Augen vollkommen unangemessen war.

Deshalb antwortete er auch ungehaltener als beabsichtigt. Es war ganz offensichtlich, dass sie eine Doppel- wenn nicht sogar Dreifachlektion benötigte.

"Ja, es mussten 200 sein und ich denke nicht im Traum daran, auch nur einen HALBEN Punkt "dazuzutun". Um eines zu klären: ICH bin Ihr Lehrer, SIE haben zu machen, was immer ich von Ihnen verlange. Sollten Sie mir jemals wieder im Unterricht widersprechen, werde ich Sie sehr deutlich fühlen lassen, was es heißt, einen Professor Severus Snape herauszufordern. Denn ich bin Professor Snape, Ihr Zaubertranklehrer, der zu gegebener Zeit äußerst ungehalten werden kann. Meinen Ruf lasse ich mir nicht ruinieren, auch nicht von Ihnen. War das deutlich?"

Der letzte Satz bestand nur noch aus einem Zischen.

Aniram kniff die Lippen zusammen und obwohl sie wusste, dass er Recht hatte, brachte sie nur zwei Worte zu Stande.

"Aye, Sir!"

Snape war auf dem besten Wege, sich darüber zu amüsieren. Na bitte, warum nicht gleich so? Ob er sie noch etwas kleinlauter bekam? Er grübelte, lehnte sich an den Arbeitstisch und fragte:

"Enthält unser Verbotsvertrag eigentlich eine Klausel, wie ich Sie bestrafen darf, sollten Sie mich jemals wieder mit ‚Sir' ansprechen?"

Aniram war perplex. "Nein, enthält er nicht."

"So, enthält er nicht. Ich bin für eine Vervollständigung. Denn wenn Sie mich schon ein Verbot unterschreiben lassen und sich dann selbst nicht daran halten, wäre ich dafür, eine angemessene Bestrafung über Ihnen auszuschütten. Ehrlich gesagt, die Androhung der Todesstrafe in Form von Vergiften, Erwürgen oder Vierteilen oder was auch immer ist zu banal. Denn dann leben Sie nicht mehr. Was ich will, ist eine richtige Strafe."

Sein Blick wurde beinahe schwärmerisch.

Aniram nippte leicht am Kaffee und fragte: "Was schwebt Ihnen denn vor?"

Snape erinnerte sich an ihre Lieblingshaltung. "Nun, Sie könnten zehn Minuten neben mir knien."

"Back to the roots, häh? Auf die Knie? Mitnichten, Kamerad."

Sein Atem stockte. Er war ja schon alles Mögliche für sie. Jetzt auch noch ein Kamerad? Sie sprachen sich mit dem Vornamen an und im Grunde genommen rechnete er jeden Tag damit, dass sie ihn einfach duzte. Bevor er ihr jedoch wegen dieser laxen Katalogisierung seiner Persönlichkeit in die Parade fahren konnte, kam sie ihm schon wieder zuvor.

"Nur, wenn ich zwischendurch Ihr Bein streicheln darf. Allerdings müssten Sie noch die Grenze angeben, bis wohin ich streicheln sollte, nicht dass gewisse Körperteile eine nicht nachvollziehbare Eigendynamik entwickeln."

Sie grinste ihm breit ins Gesicht und löste mit diesen Worten doch tatsächlich einen Hauch von rosé auf seinen Wangen aus. Aber vielleicht war ihm auch sein eigener Kaffee zu heiß.

Ihr Kopf zuckte allerdings zurück, als er wie ein Raubvogel auf sie zuschoss.

"Das entspricht nicht meinen Vorstellungen. Dann lecken Sie eben meine Schuhe blank."

Er konnte sich zwischendurch einfach nicht die Zeit nehmen, schockiert zu wirken. Was für ein unmoralisches Angebot!

Doch es sollte schlimmer kommen.

"Lecken? Hm, mit Lecken komm ich klar."

Nach diesen Worten nahm sie einen tiefen Schluck Kaffee und schaute ihn an. Das hätte sie nicht tun sollen. Denn das hatte zur Folge, dass Professor Snape zum ersten Mal in seinem Leben braun war. Auch wenn die Bräune lediglich in Form von Sprenkeln existierte, wie leicht verirrte Sommersprossen. Was ihm da im Gesicht gelandet war, war Anirams Kaffee. Sie brachte es noch fertig, den Rest des Kaffees aus ihren Mundwinkeln laufen zu lassen und ihre weiße Bluse vollzutropfen. Unter schallendem Gelächter sank sie auf die Knie und jammerte in einem fort:

"Hiiilfe, ich kann nicht mehr..."

Dieser Moment war unbezahlbar. Sie schaute wieder nach oben und blieb erst recht unten hocken. Denn dieser dümmlich-fassungslose Ausdruck in seinem Gesicht war schlichtweg anbetungswürdig.

Er sank ebenfalls auf die Knie und normalerweise befand er sich in einem Stadium, in dem er ihr locker den Hintern versohlt hätte, wenn sie nicht wieder eine Aktion gestartet hätte, die ihn absolut überrumpelte. Sie zeigte auf ihre Bluse und keuchte außer Atem.

"Jetzt weiß ich, warum ihr in Schwarz rumlauft. Severus, Severus, wenn Sie noch nicht alt genug zum Kaffee trinken sind, dann sollten Sie es lassen."

Unter großem Kichern nahm sie kurzerhand seine Umhangzipfel in die Hand und wischte ihm das Gesicht sauber.

Der frischgebackene Kamerad konnte sie nicht einmal darauf aufmerksam machen, dass es nicht sein Kaffee war, den er im Gesicht hatte und dass er durchaus über ein gewisses Alter mit der dazugehörigen Feinmotorik verfügte, um seinen Kaffee ordnungsgemäß und unfallfrei zum Mund zu führen.

Sie wischte und wischte, bis schon lange nichts mehr da war. Ihr Kichern hörte sich irgendwann überspitzt und unecht an. Die Umhangzipfel befanden sich auch nicht mehr in seinem Gesicht, sondern machten sich an seiner Brust zu schaffen. Aniram selbst merkte, dass sie sich wieder dieser Grenze näherte, vor der sie so fürchterliche Angst hatte. Alle angestauten Gefühle brachen sich in diesem Moment ihre Bahnen. Sie merkte, wie ihr die Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte, das Gesicht herunter liefen. Es war grauenvoll. Grauenvoll zu merken, dass sie im Inneren brach und leer war. Schlussendlich sackte sie vollkommen vor ihm zusammen und schaffte es nicht einmal mehr, einen Blusenknopf zu öffnen. Sie hatte aber so wahnsinnige Angst vor diesem Erstickungstod.

"Aniram?"

Severus kannte diese Anzeichen. Anzeichen dafür, wenn aus einem flapsigen Etwas ein totales Nervenbündel wurde. Als Antwort erreichte ihn ein Wimmern vom Fußboden.

"Kann ich jetzt raus?"

Nur gehaucht, ganz leise, fast nicht hörbar. Jetzt bekam er wirklich Gänsehaut. Sorgsam nahm er ihren Kopf in beide Hände und hob ihn zu sich an. Was er sah, erschreckte ihn zutiefst. Er waren nicht nur die Tränen, es war nicht nur das angstverzerrte Gesicht. Nein, es waren ihre Augen.

Was hätte er noch vor einigen Wochen dafür gegeben, dieses Leuchtfeuer nicht mehr sehen zu müssen. Und nun? Sie würde wohl selbst wissen, wie sie aussah. Dieses stumpfe Dunkelgelb machte selbst ihm Angst. Das wollte etwas heißen, denn er bildete sich ein, in so manchen Abgrund geschaut zu haben. Hieß es nicht, die Augen seien der Spiegel zur Seele? Dann musste es wirklich schlimm um sie stehen. Er fackelte auch nicht lange.

"Geh."

Seine Gedanken von vorhin, als er sich darüber monierte, eines Tages würde sie ihn wohl unverhofft duzen, kamen ihm dabei nicht in den Sinn. In diesem Moment hatte er nur ihr Wohlergehen im Auge. Und das meinte er ehrlich. Genauso grundehrlich, wie sie bis jetzt immer gewesen war.

"Schaffst du es allein?"

Statt einer Antwort klappte Aniram nur die Lider nach unten. Das musste genügen, denn zu mehr fühlte sie sich nicht in der Lage. Auch wenn sie wusste, dass das halb gelogen war.

"Geht schon wieder, wenn ich Frischluft habe."

Severus geleitete sie zur Tür und entließ sie.

Aniram torkelte in den Gang hinaus und obwohl heute wieder ein Gemälde mit der Namensvergabe an der Reihe gewesen wäre, schaffte sie es lediglich, jedem Gemälde quasi die Schulter zu reichen. Ihre Fortbewegungsart glich einem einziges Torkeln und sie konnte von Glück reden, dass der Weg zum Kerker relativ eng war, denn ansonsten hätte sie nicht die Wände besucht, sondern diesen Gang nach Quadratmetern vermessen. Dass ihr der Meister höchstpersönlich hinterher schaute und jeden Moment damit rechnete einzugreifen, wusste sie nicht.

Also stieß sie weiterhin forsch und herzergreifend mit jedem Gemälde an und wunderte sich, dass eines ganz weich war. Am Aufgang zur Großen Halle angekommen wandte sie sich zum Westflügel und versuchte, mühsam die Treppen zum Astronomieturm zu erklimmen. Den Grund für diesen umständlichen Weg, noch dazu in ihrem augenblicklichen Zustand, konnte sie sich nicht erklären. Absolut nicht. Denn diesmal wäre wirklich der Weg bis zur Eingangstür definitiv der günstigere gewesen. Anirams Verstand war jedoch so benebelt, dass er nicht mehr wusste, wie er zu entscheiden hatte. An den Aufenthalt auf dem Astronomieturm hatte sie sich inzwischen gewöhnt. Basta.

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Severus fühlte sich unwohl. Es war schon wirklich eine Seltenheit, dass er von seinen ausgesuchten Gemälden begafft wurde, die anscheinend eine Antwort erwarteten. So zuckte er nur die Schultern und schlug die Tür hinter sich zu.

Raschen Schrittes begab er sich zum Arbeitstisch und versuchte zu erkennen, ob der letzte Arbeitsschritt markiert war. So wie sie heute ausgesehen hatte, rechnete er nicht damit, dass sie morgen wieder hier stand. Und wenn er sie höchstpersönlich vor die Tür geleiten und ihr Gesellschaft leisten würde. Unwillkürlich wanderten seine Augen vom Tisch zur Arbeitsanleitung und - als hätte er eine magische Anziehungskraft - auf ihren Platz im Unterricht. Verwunderung überkam ihn, als er registrierte, dass sie ohne Umhang durch das Schloss marschierte. Er ging hin und nahm ihn an sich.

"Sev, Sev, wo reitest du dich da hinein?"

Dieser Monolog fand ein abruptes Ende und ging in Gedanken über. Sie hatte doch vorher noch gekichert. Kurz vorher sogar. Und dann? Die Geschwindigkeit dieses Stimmungsumschwungs war beängstigend. Er wollte ihr gern helfen, weil sie so anders war. Aber er wusste nicht wie. Und Obliviate? Oh nein. Das hatte er im heutigen Chaos völlig vergessen. Vergessen! Er! Dermaßen in seine Grübelei versunken, die streckenweise von wirklichem Erschrecken über sich selbst durchsetzt war, überhörte er das Klopfen an der Tür. Erst als in seinem Kerker jemand hüstelte, drehte er sich beinahe panikartig um. So etwas war ihm ebenfalls noch nie passiert. Noch nie!

Er schaute seinem Direktor ins Gesicht, der nicht minder verdattert schaute. Severus drehte sich wieder dem Arbeitstisch zu und antwortete auf die Frage, die im Gesicht seines Vorgesetzten zu lesen war.

"Ich weiß, Albus, sie sieht fürchterlich aus."

Albus kam näher. "Sie sieht nicht nur fürchterlich aus, sie FÜHLT sich mit Sicherheit auch so. Sie stieß eben mit mir im Gang zusammen und hat es nicht einmal gemerkt. Und ich muss dir ehrlich sagen, wenn jemand überhaupt nichts mehr bemerkt, dann ist er ein Fall für das St. Mungos. Bei unserem speziellen Fall Hawkwing stellt sich allerdings die Frage, ob sie dort gut aufgehoben wäre."

Severus schüttelte den Kopf. "Das glaube ich nicht. Schließlich kann keine Rede von Verletzungen oder Fluchschäden sein. Was ihr zu schaffen macht, ist das Schloss. Aber ich kann doch meinen Unterricht nicht im Freien abhalten."

Albus war überrascht, dass Severus eine solche Möglichkeit überhaupt in Betracht zog und sie dann auch noch aussprach.

"Glaubst du nicht, dass wir irgendetwas tun können?"

Severus brachte ein außerordentlich schiefes Grinsen zu Stande. "Ich glaube, du weißt selbst, dass wir nichts tun können. Nicht, solange sie nicht von sich aus zu uns kommt und um Hilfe bittet. Sollte dieses Unmögliche jemals passieren, wage ich zu bezweifeln, dass wir in der Lage sind, ihr helfen zu können. Leider."

"Ja, sie kann außerordentlich stur sein. Das habe ich an ihrem Ankunftstag erlebt. Nur war sie mir leicht Blut überströmt wesentlich lieber als jetzt."

Severus beschränkte sich auf ein Nicken und starrte weiter vor sich hin. Albus gab irgendwann auf und verbuchte seinen heutigen Besuch im Kerker als ausgesprochen kurz und uninformativ. In Severus dringen zu wollen erschien ihm absolut unmöglich. Dieser war mit sich selbst beschäftigt.

"Also, ich wünsche dir eine gute Nacht."

Als keine Antwort kam, drehte er sich um und ging.

xxxXXXxxx

Während dieses knappe Gespräch stattfand, dauerte es nicht lange, bis Aniram mit den restlichen Gemälden im Schloss im Clinch lag. Da sie einmal so schön in Schwung war, wiederholte sie hier im Treppenaufgang ihre Aktivitäten vom Kerkergang und begann, Bekanntschaft mit den Gemälden zu machen.

Dass eines Tages der Umstand eintreten sollte, dass sie den Weg zum Astronomieturm vergaß, damit hatte sie nicht gerechnet und es irritierte sie gewaltig. Alles war nur noch dumpf, pochte im Kopf, ihr war übel und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich, endlich unter freiem Himmel zu sein. Auf ihrem mühevollen Weg nach oben zog es sie immer weiter nach unten. Ab und zu musste sie sogar eine Pause einlegen und es war ihr egal, wogegen sie sich lehnte. Wenn dieses blöde Hogwarts-Ding mit den Portraits von Hexen und Zauberern vergangener Epochen angeben musste, war das nicht ihr Problem.

Manche, gegen die sie stieß, verhielten sich still oder aber hatten einen gesunden Schlaf. Andere, die gerade erst in einen glücklichen Schlummer gefallen waren und damit beginnen wollten, den Schlaf der Gerechten zu schlafen, begehrten auf. Anfangs waren sie in der Minorität, wurden aber von einem Wurzelmännchen aufgescheucht. Dieses Wurzelmännchen namens Emil der Eingebildete zischte sie äußerst unfreundlich an, absolut nicht erbaut darüber, zu so später Stunde wieder geweckt zu werden.

Aniram konterte, wenn auch schwach: "Dann sag mir doch gefälligst, wo es zum Astro… Astrodings geht. Ich hab den Weg vergessen." Damit schleppte sie sich weiter die Treppe hoch.

Emil der Eingebildete folgte ihr und startete eine Verfolgungsjagd durch mehrere Gemälde.

"Wie es zum Astro-DINGS geht? Wir haben kein Astrodings. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Erstens, dass du es dir erdreistest, mitten in der Nacht hier herumzujammern und alle aufzuwecken und zweitens, obwohl du Schüler zu sein scheinst, nicht einmal den Weg zum Astronomieturm kennst. Das ist jämmerlich. Erbärmlich. Regelrecht skandalös. Wirklich. Und schau dich an! Nicht einmal einen Umhang hast du an."

Spätestens dieser Satz sorgte dafür, dass sie von allen angestarrt wurde, durch deren Gemälde Emil gerade stiefelte und die sich leise und gewiss nicht anerkennend über sie äußerten. Das war ihr auch so etwas von egal. Scheiß-Umhang. Ist doch nur schwarz und weiter nichts.

Da Emil nicht aufhörte, ihr Vorhaltungen gleich welcher Art zu machen, brüllte sie ihn einfach an: "WO - IST - DER - WEG???"

Emil zuckte zurück und fiel über Sir Montgomery, der sich unter einer weit ausladenden Buche ein gemütliches Nachtlager zurechtgemacht hatte. Dieser war etwas edler im Gemüt und beschrieb ihr den Weg. Allerdings musste sie sich so viele Treppen und Wendungen merken, dass ihr noch zusätzlich schlecht wurde.

Emil begann noch lauter zu meckern. "Das war ja zu erwarten, dass du ihr hilfst. Was hat sie um diese Zeit hier verloren und wenn…"

"Halt die Klappe!" Aniram benutzte ihr Zauberwort, welches normalerweise und gerade überraschenderweise bei den Gemälden im Kerkergang wirkte.

Sir Montgomery schüttelte den Kopf. "Der Kerker ist nicht überall, wisst Ihr?"

Aniram wunderte sich erst, dann war sie perplex. Hatte sich das bis hier oben herumgesprochen? Wahnsinn, dann müsste sie ja wirklich gemäldetechnisch Schulgespräch sein. Egal, Gespräch oder nicht, während sie weiterstapfte und sich an die Wegbeschreibung Sir Montgomerys zu halten versuchte, schoss ihr wie ein Blitz die kurze Unterhaltung in den Kopf, bevor sie gegangen war.

Eigentlich war es keine richtige Unterhaltung gewesen. Seine Gedanken waren so klar und deutlich gewesen, dass sie sich von allein in ihrem Kopf zu Sätzen manifestierten. Sie hatte gespürt, dass da jemand war, der sich aufrichtig um sie kümmern wollte und der in irgendeiner Form Mitleid mit ihr hatte. So dicht am Abgrund wie sie auch gewesen war - sie hatte alles mitbekommen. Sein Erschrecken. Seine Trauer. Seine Angst. Und auch seine Unsicherheit. Seine Zuneigung. Seine Besorgnis, ob sie es allein schaffen könne.

Verdammt, sie brauchte so dringend jemanden zur Kompensation ihres Gemütszustandes und erkannte instinktiv, dass dieser Jemand nur der sein konnte, bei dem sie jeden Abend Strafarbeiten verrichtete. Weil es ihm genauso ging, dass er jemanden brauchte. Auch wenn er es um keinen Preis der Welt zugeben würde. Nicht einmal vor sich selbst. Aber seine Gedanken sprachen für sich. Wenn dieser Jemand noch die Sitten und Rituale der Australier kennen würde, würde er ihr helfen können. Und vor allem - er würde ihr helfen WOLLEN. Das war die Grundvoraussetzung dafür.

Während sie sich weiter zog und betete, nicht kurz vor dem Ziel zusammenzuklappen, hämmerte es unaufhörlich in ihrem Hirn. Mein Geist zu deinem Geist, meine Gedanken zu deinen Gedanken.

Beinahe war es paradox. Aber so viel Unterschied zwischen der Gedankenverschmelzung der Vulkanier - die man natürlich nur kannte, wenn man Muggel war und sich für diese Fernsehserie begeisterte - und des Rituals der mentalen Vereinigung existierte gar nicht. Wirklich paradox, weil sie vor nicht gar zu langer Zeit Trekkies erwähnt hatte.

Aber endlich, sie hatte es geschafft. Aniram torkelte ins Freie, lehnte sich an eine Wand und ließ sich an ihr hinab gleiten. Für das, was sie jetzt tun wollte, benötigte sie ruhige Hände. Also musste sie nur warten, bis ihr Gehirn wieder mit genügend Sauerstoff versorgt war und sie von dieser Kante zurück riss. Sie nahm ihre Meditationshaltung ein und versuchte sich zu versenken. Schon allein die Tatsache, dass sie lediglich an einen Versuch dachte, zeigte ihr, wie schlimm es wirklich um sie stand. Denn ansonsten hätte sie sich mit eiserner Disziplin dazu gezwungen. So aber schien es, als sei es ihr egal. Das durfte aber nicht sein. Nicht für das, was sie vorhatte.

Aniram schloss ihre Augen, legte ihre Handgelenke auf die Kniegelenke und atmete tief durch. Vielleicht half es. Vielleicht, donnerte ihr Unterbewusstsein, seit wann gibst du dich mit Vielleichts ab? Es war aber schon ein gutes Zeichen, dass sie mit sich selbst schimpfen konnte. Das bedeutete, ihre Seele kehrte zurück. Zwar dauerte es diesmal lange, aber irgendwann stellte sie glücklich fest, dass sie ihren inneren Ruhepol wieder gefunden hatte.

Wie oft würde ihr das noch passieren in dieser nicht einmal selbst gewählten Hölle? Für die anderen war es Spaß, sie fanden Freude daran, wenn sich die Treppen verschoben oder sie vom fünften Stock in den Kerker hinunter rasen mussten und auch noch zwischendrin die Große Halle drei Mal am Tag unsicher machen durften - für Aniram jedoch war es die blanke Hölle.

Noch einmal atmete sie tief aus und öffnete die Augen. Nach einer kleinen Ewigkeit schien die Welt wieder normal zu sein. Oder auszusehen. Langsam drehte sie ihre Handflächen nach oben und hob ihre Hände an. Sie zitterte nicht mehr. Bedächtig öffnete sie ihre Bluse und zog eine Kette heraus. An ihr hing ein recht abenteuerlich aussehender Anhänger, der die Form einer antiken Amphore hatte. Obwohl sie durchaus für Altertümer zu begeistern war, hatte sie diesmal kein Auge dafür. Kette egal. Anhänger egal. Einzig und allein dessen Inhalt war ihr wichtig.

Lange hatte sie überlegt und war immer wieder vor diesem Schritt zurückgezuckt. Der heutige Tag allerdings ließ ihr keine Wahl mehr. In dieser Angelegenheit war sie auf sich allein gestellt. Sie hatte hier in diesem gottverlassenen Winkel keine Eltern, sie hatte keinen Mentor. Nichts, nur sich.

Nur die Sterne waren Zeuge, als sie mit einem leisen *plopp* den Verschluss entfernte und sich drei Krümel auf die Hand schüttete. Mit verkniffenen Lippen schüttete sie eines zurück. Die Substanz war zu kostbar, als dass man sie gleich im ersten Anlauf verbraten könnte. Ihre Handfläche leckte sie ab, behielt die Krümel auf der Zunge und ließ die verkorkte Amphore schnell wieder unter ihrer Bluse verschwinden. Anschließend lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Langsam und immer wieder drückte sie ihre Zunge gegen den Gaumen.

Ja, sie wusste, nur für den Ernstfall. Und ja, sie wusste auch, eigentlich nur für einen Trank-Ernstfall. Niemand hatte sich je damit auseinandergesetzt, wie es pur auf Menschen wirkte. Es war der reine Sarkasmus, der sie durchstreifte, als sie über sich selbst witzelte. ‚Aniram von Australien, du bist wie immer bei allem die erste.' Das Fatale war nur, dass niemand die Konsequenzen kannte. Aber mehr als sterben konnte sie nicht. Demzufolge lohnte sich dieser Selbstversuch allemal. Das Blöde daran war nur, dass sie zu Hause nicht davon berichten konnte, sollte sie wirklich hier im einsamen Schottland den Löffel abgeben.

Ein kleines Kichern kullerte vom Bauch nach oben, erreichte jedoch nie ihre Kehle.



Kapitel 23 - Wiedergeburt


Von einem Moment auf den anderen verkrampfte sich in ihr alles und sie verfluchte sich für das, was sie getan hatte. Vollkommen unkontrolliert schlug sie mit dem Kopf gegen die Mauer, so dass es weh tat und öffnete die Augen.

Was sie sah, ließ sie nach Luft schnappen. Es schien, als würde sie die Geburt des Universums erleben. Übernatürliche Helligkeit strömte auf sie ein und reizte ihre Iris, doch sie brachte es nicht fertig, die Augen zu schließen. In letzter Zeit des hellen Sonnenlichtes entwöhnt konnte und wollte sie sich dieser beinahe psychedelischen Wirkung nicht entziehen. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, sog sie sich daran fest.

So fantastisch, so hell, so wunderschön war dieser Augenblick, dass sie sich wünschte, sie wäre in der Lage, die Zeit anzuhalten. Sie wollte darin versinken. Für immer. Ihre dunkle, triste Gegenwart hinter sich lassen und so leben, wie sie es gewohnt war. Mit einem klitzekleinen Kick zusätzlich.

Der Himmel schien nur für sie zu leuchten, für sie allein. Für sie, die die ganze Zeit in diesem unnatürlichen Schuppen eingesperrt war. Noch nie hatte sie davon gehört, dass der Himmel des Nachts leuchtete, aber war dieser vollkommen nebensächliche Gedanke in diesem Augenblick von Bedeutung?

Ein nie gekanntes Glücksgefühl durchströmte sie und so störte es sie auch nicht weiter, dass sie anscheinend Sinnestäuschungen unterlag. Die Sternbilder verschoben sich, wie sie gerade lustig waren. Aniram sah alles so, als hätte sie Linsen unterschiedlicher Krümmungen vor den Augen, die ihr ab und zu weggenommen wurden. Die Sterne kamen heran, sie gingen weg, sie kamen heran, sie gingen weg…

Eine halbe Ewigkeit dauerte dieser Zustand an. Aniram tat alles, um ihn im Hier und Jetzt zu behalten. Um nichts in der Welt wollte sie diese Emotion, diese Erfahrung, dieses Glück je wieder verlieren. Dies war eine Erfahrung, die vor ihr noch keiner gemacht hatte und kaum hatte sich dieser Aspekt in ihrem Hirn eingenistet, begann etwas von diesem Rausch abzuklingen.

Ja, dieser Zustand, in dem sie schwebte, konnte sich nur als rauschartig bezeichnen lassen. Des rationalen Denkens immer noch beraubt wusste sie zwar, wodurch ES hervorgerufen wurde; und stellte sich gleichzeitig die Frage, warum niemand vor ihr diesen Schritt gegangen war. In heimatlicher Umgebung war er sicherlich unnötig, aber war wirklich noch nie jemand so neugierig gewesen, um es auszuprobieren? Oder hatte sich doch jemand getraut und es nicht erzählt? Nur warum nicht? Denn das Behalten von Erfahrung und Wissen widersprach ihrem Kodex. War es so schlimm zu sagen, dass man fliegen konnte? Dass sich vor dem Auge eine Farbenpracht entfaltete, die niemals jemand zuvor gesehen hatte?

Als sie merkte, dass ihr Gehirn wieder zu arbeiten begann, blinzelte sie verwirrt.

Urplötzlich gab es einen Knall im Kopf, den sie nicht einordnen konnte. In der Angst zu erblinden, presste sie ihre Augenlider zusammen. Erneut wurde sie von einer Welle der Übelkeit überrollt und kippte stöhnend zur Seite. Schwer atmend blieb sie liegen und wartete auf weitere unangenehme Überraschungen.

Diese blieben aus und als sie ihre Augen wieder öffnete, spürte sie, dass weder die vorangegangenen Krämpfe noch der Knall irgendetwas Schädigendes in ihr hinterlassen hatten. Im Gegenteil.

Sie war frei.

Als hätte dieser Knall den überdimensionalen gordischen Knoten zerschlagen, der ihr Herz mehr und mehr zusammengeschnürt hatte. Und nicht nur ihr Herz, sondern sie selbst.

Doch nun war sie sogar so frei, dass sie keine Angst hatte aufzustehen und so unauffällig wie möglich den Gemeinschaftsraum der Ravenclaws zu suchen. Oder aufzusuchen? Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Aber wie auch immer, es bedeutete im Grundtenor - sich wieder ins Schloss zu wagen. Auf dem Weg zu ihrer Schlafstätte machte sie sich lediglich Sorgen darüber, dass dieser Zustand abklingen könnte.

Auch wenn es ein völlig irrationales Gefühl war, durch Gänge zu laufen, die vor ihr zurück wichen. Sie hätte diesen Schritt schon längst tun sollen, dann hätte sie nicht so riesige Angst vor allem. Vor jedem neuen Tag, jeder neuen Stunde, die sie hier verbringen musste.

Denn seit ihrem ersten Anfall dieser Art hätte sie im Grunde genommen die einfache Gleichung "einmal ausgeknockt, immer ausgeknockt" aufstellen können. Sie hätte damit rechnen MÜSSEN. Wissen und kalkulieren müssen, dass diese Anfälle von Klaustrophobie in kürzeren Abständen und um das doppelte intensiver wiederkamen. Doch lediglich von Klaustrophobie zu reden war lächerlich, es war etwas vollkommen anderes, das wusste sie.

Demzufolge war es lediglich eine Frage der Zeit, bis man sie ins Steinzeitlazarett schleppte und wiederum niemand etwas mit ihr anfangen konnte. Kaum hatte sie das Wort Steinzeit gedacht, begann sie wieder zu kichern. Allerdings leise, denn sie legte keinen Wert darauf, erneut mit den Gemälden zu kollidieren. In welchem Sumpf sie auch mit ihren Gedanken gesteckt hatte - an die Gemälde erinnerte sie sich.

Endlich war sie vor der Ritterrüstung angekommen und sagte das Passwort. Beim Hineinschlüpfen wollte sie ihren Umhang an sich ziehen und griff ins Leere. Verwundert hielt sie inne. Nanu? Im selben Moment, in dem sich die Tür hinter ihr rasselnd schloss, ging ihr auf, dass dieses spezielle Kleidungsstück nur an einer einzigen Stelle im Schloss sein konnte. Beim Herrscher. Und Meister. Und Kamerad.

Aniram war noch völlig planlos, wie sie morgen wieder an ihren Umhang kommen sollte. So sehr sie die Farbe Schwarz verabscheute, so sehr war sie dennoch gezwungen, damit herumzulaufen. Umhänge gab es auch nicht wie Sand am Meer, jeder Schüler hatte nur zwei. Ob es sich gut machte, mit dem Festumhang im Unterricht aufzutauchen, war äußerst fraglich. In ihrer euphorischen Stimmung verschwendete sie allerdings keinerlei Gedanken an derlei Nichtigkeiten, sondern ging ins Bett.

Zum ersten Mal, seit sie hier lebte, glitt sie hinüber in einen traumlosen und festen Schlaf.

xxxXXXxxx

Am nächsten Morgen sprang sie quicklebendig aus dem Bett und wollte um jeden Preis die erste im Bad sein. Begründen konnte sie das nicht. Die vergangene Nacht kam ihr im Nachhinein betrachtet vor wie eine Woche Scheintod. Wenn dieses eigenartige Wetter nicht wäre, würde sie glauben, in Australien zu sitzen. Ein Blick aus dem Fenster belehrte sie aber schnell eines Besseren. Kopfschüttelnd beendete sie ihre Morgentoilette und machte sie daran, zum Schluss noch ihr Haar zu bändigen.

Als sie dabei in den Spiegel schaute, prallte sie zurück.

Vielmehr beschäftigte sie sich nicht mit ihrem Spiegelbild, sondern mit dem Spiegel an sich. Vor ihr hing eine leicht nach außen gewölbte Kugel. Obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass alle Spiegel glatt waren, gab es daran kein Rütteln. Um sich zu vergewissern, dass dem so war, strich sie mit ihren Fingern sorgfältig darüber. Wenn sie die Augen schloss, war der Spiegel eine gerade Fläche. Öffnete sie sie, war er definitiv rund.

Das bedeutete lediglich - und darüber war sie äußerst erleichtert - dass dieser Zustand, um dessen Nichtnachlassen sie gestern oder auch heute Morgen gebettelt hatte, wirklich noch anhielt. Erleichterung durchströmte sie. Vielleicht wurde jetzt alles ein bisschen einfacher. Einfacher, pah! Sie schaute wieder geradeaus und murmelte: "Tu nicht so einfältig, höchstens bis zum nächsten Overkill."

Aniram konnte nur hoffen, nicht irgendwo dagegen zu knallen in der Annahme, es wäre noch genug Platz und in Wirklichkeit waren die Wand oder der Tisch oder was auch immer schon längst erreicht. Sie zuckte mit den Schultern. Wenn dieser Moment kam, würde sie es an ihren Knochen merken.

Die größte Schwierigkeit sah sie bei der Nahrungsaufnahme. Lebhaft stellte sie sich vor, mit den Fingern zuzugreifen oder am Glas vorbei. Diese äußerst bildliche Vorstellung ließ sie prusten. Und während sie prustete, tat sie das, weshalb sie überhaupt in den Spiegel geschaut hatte: sie bearbeitet in Ruhe ihr Haar.

"Alles okay mit dir? Du bist doch in Ordnung?" Leicht zögerlich kam die Frage von Josy und Aniram meinte munter: "Klar doch, warum nicht?"

"Öh ja, ich dachte du weinst oder so?" Josy hatte dieses eigenartige Prusten gehört und sich Sorgen gemacht. Denn ihre Freundin hatte sich auf eine dermaßen radikale Art und Weise verändert, die ihr unbekannt war. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als ginge es seit Schulbeginn konstant bergab. Doch die putzmunteren Worte zeugten eher vom Gegenteil.

Aniram wollte wieder in den Schlafsaal rauschen, um sich anzukleiden und musste dazu an Josy vorbei. Sie zwinkerte ihr zu und meinte: "Warum soll ich denn weinen? Ich hab gelacht. Okay, ich hab laut gegrinst."

Josy schaute sie an wie einen Geist. Zeitgleich mit einem halbherzig gestammelten und obendrein verspäteten Morgengruß platzte es aus ihr heraus: "Was hast du denn mit deinen Augen gemacht? Die waren doch so", kurz wedelte sie sich mit der Hand vor dem Gesicht hin und her, "anders. Auch du bist anders? Bist du du?"

Dabei stupste sie Aniram in die Brust, um sich zu überzeugen, dass diese wirklich quicklebendig vor ihr stand und sie nicht irgendeiner Sinnestäuschung unterlag.

Aniram zögerte kurz. "Klar bin ich ich. Guck!" Mit dieser Aufforderung schleuderte sie ihre mahagonifarbene Mähne um sich, die sie doch gerade so wunderschön bearbeitet hatte. Aber das mit den Augen war schwieriger. Dann hatte sie die rettende Idee.

"Ach weißt du, eigentlich hat mir nur Frischluft gefehlt, glaube ich. Ich saß die ganze Nacht auf dem Astronomieturm und bin als erstes ins Bad geturnt, weil es gegen Morgen doch ein bisschen frisch war. Ähm, irgendwie."

Um einer weiteren Erklärung zu entkommen, flüchtete sie endgültig in den Schlafsaal. Dort tauchte sie in erst einmal in den Schrank ab. Nicht etwa, um sich SOFORT die Kleidung für den heutigen Tag herauszuholen, nein, um sich an der Gegebenheit zu erfreuen, dass ihre Augenfarbe wieder da war. Mehr als einmal war sie in letzter Zeit vor dem Spiegel zurückgezuckt, als sie diesen stumpfen Blick gesehen hatte. Jetzt allerdings bildete sie sich ein, dass dieses Bernsteingelb noch nie so kraftvoll geleuchtet hatte.

Nachdem sie alles zusammengekramt hatte, was sie benötigte - was ein recht schwieriges Unterfangen war und erst jetzt konnte sie das Ausmaß ihres "Danebengreifens" so richtig einschätzen - stand sie auf und zog sich an.

Noch ein Griff zum Umhang und dann konnte sie gehen. Als sie jedoch ins Leere griff, stutzte sie kurz. Sie befahl ihrem Erinnerungsvermögen eine sofortige Rückkehr. Sie versuchte sich den Zeitrahmen abzustecken. Als er da war, gab es einen typischen "Ah.-Oh.-Ja."-Effekt. Sie wusste, wo er war.

Aber es war vollkommen ausgeschlossen, dass sie nun schon in den frühen Morgenstunden eine Stippvisite in den Kerker machte. Unmöglich. Grübelnd und nachdenklich ging sie hinunter in den Gemeinschaftsraum. Nicht ahnend, dass noch jemand grübelte.

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Professor Snape grübelte und zögerte sichtlich, sich zum Frühstück zu begeben. Ihm wollte beim besten Willen keine Lösung einfallen, wie er Anirams Umhang an den Mann - oder in diesem Fall - das Mädchen bringen sollte.

Das war aber nicht einmal das Wesentlichste, denn in diesem Umhang befand sich auch ihr Zauberstab, ohne den sie heute nicht arbeitsfähig war. Also fiel seine Idee, sie zur Strafarbeit zu zitieren und ihr dann den Umhang auszuhändigen, schon einmal gründlich flach.

Zur Strafarbeit kam sie sowieso. Wenn. Wenn nicht, bedeutete das für ihn wieder Gleichklang und Langeweile im Kerker. Unmöglich, über was er hier alles nachdachte. Und das alles nach einer so gut wie schlaflosen Nacht.

Eines war ihm nach ihrem gestrigen Zusammenbruch jedoch bewusst geworden - wenn ihre Anwesenheit bedeutete, dass er sie damit zu Grunde richtete, wollte er diese Strafarbeiten, die keine waren, unter keinen Umständen aufrechterhalten. Sollte er es dennoch tun, würde er es sich niemals verzeihen können, nie. Unwillig ruckte er mit den Schultern und wieder fiel sein Blick auf den Zauberstab, den er nun schon seit Stunden in der Hand hielt. Schön warm fühlte er sich an, geschmeidig. Er musste Miss Turbobrauer bei Gelegenheit fragen, woraus er gemacht war.

Neugierig wie er war hatte er diesen Zauberstab hin und her gewendet und tat es noch - und konnte nur mit Müh und Not der Versuchung widerstehen, irgendeinen Spruch damit auszuführen. Er hatte mehr als einmal erlebt, was dieses Ding anrichten konnte. Was, wenn er auf einmal einen Degen in der Hand hielt?

Warum nur wollte ihm kein rettender Gedanke kommen? Er überlegte schon, ob er sich das Frühstück in den Kerker bringen lassen sollte.

Kaum hatte er das gedacht, überkam ihn eine Erleuchtung und schlagartig wurde es hell im Kerker.

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Die Ritterrüstung schepperte, die Tür schwang auf und Aniram fuhr herum. Sie schaute auf dieses kleine und putzige Etwas, das in der Tür stand.

"Missy Hawkwing?", piepste es.

"Ja, das bin ich. Wer bist du denn?"

"Oh, es steht Pyro nicht zu, zu sagen wer er ist. Ich soll..." Dabei schlackerte er wie wild mit seinen Ohren, die den Eindruck erwecken wollten, als gehörten sie nicht zum Körper.

"Na hör mal, du hast doch eben gesagt, wie du heißt. Und Pyro finde ich putzig, du lässt wohl alles anbrennen, wie?" Aniram hockte sich hin, damit sie mit ihrem Gesprächspartner auf Augenhöhe war und grinste.

"Missy sollen in Kerker kommen, sofort. Bitte."

"Ah-ha. Ja, gut, mach ich. Ich weiß immer noch nicht, wer du bist. Willst du mich begleiten?"

"Oh nein, Pyro darf das nicht, er muss wieder in die Küche."

"Na und, da kommen wir doch fast am Kerker vorbei und wir können ein bisschen plaudern."

Jetzt wurde Pyro beinahe grün vor Angst.

"Hauselfen plaudern nicht, Missy, sie arbeiten."

Als hätte er damit schon zuviel gesagt, verschwand er. Er verschwand so schnell, dass Aniram der Unterkiefer aufklappte. Das passierte bei ihr außerordentlich selten. Aber wenn sie nicht alles täuschte, dann hatte sie gerade eben INNERHALB EINES GEBÄUDES eine Teleportation erlebt. Oder zumindest etwas, das dem sehr nahe kam. Als sie sich wieder gefangen hatte, überfiel sie der Neid und sie würgte hervor:

"Boah, stark, ey."

Leider kam sie nicht mehr dazu, Pyro zu fragen, wie er das angestellt hatte. Vielleicht gab es einen Weg in die Küche und sie konnte die Unterhaltung dort weiterführen? Oder aber sie fragte Severus. Jawohl, denn der hatte ihn geschickt. Also musste er auch wissen, ob sich Hauselfen springend, hüpfend oder seitwärts bewegten.

Alles in allem war das ein sehr einschneidendes Erlebnis für Aniram, denn sie hatte noch nie einen Hauselfen gesehen. Wie denn auch, wo es keine Häuser gab.

"Also gut, sollte ich jemals wieder zu Hause sein, mach ich den Vorschlag, Outback-Elfen einzuführen. So ein Quatsch, sie arbeiten nur."

Kopfschüttelnd und dennoch voller Zuversicht, einige Fragen beantwortet zu bekommen, ging sie nach unten, fand den Weg schneller und zielgerichteter als vermutet und klopfte. Auf ein dumpfes "herein" betrat sie den Kerker.

Snape erstarrte. War sie geflogen? War Pyro geflogen? Oder hatten sich die beiden in der Mitte getroffen? Auf gar keinen Fall aber hätte er die Trägerin des Umhangs, den er schleunigst loswerden wollte, so schnell erwartet. Genauso wenig war er darauf vorbereitet, dass sie putzmunter im Raum stand und nicht gerade den Eindruck erweckte, als wäre sie gestern zusammengebrochen.

Er entschloss sich für dezente Zurückhaltung und blieb sitzen.

"Hier vorne liegt Ihr Umhang und hier ist Ihr Zauberstab." Diesen legte er, wenn auch äußerst widerwillig, an den Rand seines Pultes. Tausend Fragen purzelten zu dem Ding durch seinen Kopf.

"Oh danke, ich hab mir schon Sorgen gemacht, wo das Teil steckt. Ähm, ich meine, wie ich vor dem Abend rankomme. Sie sind wirklich ein Schatz."

Snape schloss die Augen und fauchte: "Es ist früh am Morgen, Miss Hawkwing, vielleicht lassen Sie sich ein Erinnermich schenken, das sie auf die Tageszeiten und die dazugehörigen Konversationsformen hinweist. Es sollte Sie regelrecht anbrüllen, verstanden?"

Und ER Trottel hatte geglaubt, sie wäre über Nacht gestorben. Sorgenvoll hatte er kein Auge zugetan. Und nun? Eigentlich hätte er erwartet, dass sie nur als zittriges Nervenbündel hier stand.

"Ja, ist ja gut", murmelte sie beschwichtigend, "ich verpeil das manchmal, wissen Sie."

Jetzt fuhr er wirklich auf. "Ist das angekommen, was ich gestern gesagt habe oder haben Sie nur so getan, als würden Sie zuhören? Punktabzug gefällig? Ich kann auch noch mehr Strafarbeiten austeilen, das stellt nicht das geringste Problem für mich dar. Ich hoffe für Sie, dass Sie das nicht im Unterricht verpeilen, sonst bringe ich Sie eigenhändig um!"

"Oh, dann kriegt die Spalte doch noch ein Kreuz? Ich bin begeistert."

Aniram spürte, dass sie wieder die Alte war und war darüber dermaßen glücklich, dass sie nicht im Traum daran dachte, einen Gang herunterzuschalten.

Ihr "Schatz" allerdings stöhnte, schnellte auf und wollte auf sie zuspringen. Beim Wollen blieb es allerdings. Denn auf eine ganz und gar merkwürdige Weise blieb er wie im Raum hängen - gebannt von zwei Sonnen. Seine Lider klapperten im Eiltempo rauf und runter.

Aniram jedoch, die dachte, dass ihre Worte diese Zuckungen ausgelöst hätten, trat besorgt näher.

"Alles roger? Ich meine, befinden Sie sich gut, Professor Snape?"

Dabei machte sie ein Gesicht, als müsse sie sich übergeben. Professor nannte sie ihn ja nicht einmal im Unterricht.

Snape erreichte dieser mittelalterlich anmutende Satz überhaupt nicht, sondern er platze heraus: "Was ist mit Ihren Augen passiert?"

Aniram strahlte mit der Sonne um die Wette. "Toll, nicht? Ich war die ganze Nacht auf dem Astronomieturm, ich hätte mich ja gestern glaub ich fast verlaufen. Oh, und da Sie nun schon der zweite sind, der mich fragt, was mit meinen Augen passiert ist, werde ich mir wohl ein Schild malen und um die Brust hängen. Dann weiß auch der Letzte Bescheid."

Ungeduldig trommelten ihre Fingerspitzen auf dem Pult. "Mist, Sonnenbrille macht sich schlecht in eurem Käfig."

Snape seufzte halb unwillig, halb ergeben und knurrte: "In der Tat."

"Warum sind Sie eigentlich nicht beim Essen? Keinen Hunger?"

"Nein", kam es gereizt zurück, "ich musste mir etwas einfallen lassen, um Ihnen Ihren Umhang wieder angedeihen zu lassen, meinen Sie nicht auch? Oder funken Ihnen Ihre frisch polierten Äuglein ins Kurzzeitgedächtnis?"

"Ist ja gut, Se..." Sein warnender und für jeden anderen tödlicher Blick kam zu spät. Obwohl sie fand, dass er noch gut dabei wegkam, weil sie 75 Prozent seines Namens verschluckte.

"Ich meine, ich hab auch überlegt, ob es ratsam ist, schon um diese Uhrzeit hier aufzutauchen. Schlafen Sie eigentlich auch hier? Ansonsten hätte ich Ihre Privaträume aufgesucht oder aufsuchen müssen. Nee, Pyro war schon ne tolle Idee."

"Meine Privatsphäre geht Sie nicht das Geringste an und jetzt raus hier."

Aniram rollte mit den Augen und fand, dass er sich wirklich einmal eine andere Abschiedsszene einfallen lassen könnte. Aber irgendetwas wollte sie doch noch fragen?

"Ach so, bevor ich gehe, können Hauselfen teleportieren? Pyro war so schnell weg, ich konnte ihn nicht mal fragen. Und ich dachte mir, wenn er das kann, dann ich vielleicht auch und ich muss nicht mehr laufen. Das wäre doch geil."

Ein äußerst zweifelnder Blick traf sie. Dann ließ sich Snape zu einer Antwort herab.

"Hauselfen sind die einzigen magischen Wesen, die in Hogwarts apparieren können. Nicht teleportieren. Deshalb ist davon auszugehen, dass Sie sich beim Versuch, das zu unternehmen, sehr wehtun werden."

"Ah. Mist. Na ja, ne Frage war es wert. Gehen wir essen?" Als ihr diese Frage herausrutschte, dachte sich Aniram eigentlich nichts dabei.

Snape erhob sich und ging zwei Schritte auf sie zu. Sein Mundwinkel verzog sich spöttisch.

"Natürlich, Miss Hawkwing, denn in Hogwarts ist es durchaus üblich, dass der Slytherin-Hauslehrer mit einer Ravenclaw-Schülerin am Arm bei Tisch auftaucht."

Mit diesen Worten wies er auf seine kerkereigene Tür. "Heute Abend."

Als Aniram in Richtung Tür stürmte, schaute er auf seinen Zauberstab und dachte, dass er diesen Zauber ein für alle Mal ins Reich der ungesagten Flüche verbannen sollte. Erst als die Tür ins Schloss fiel, leistete er sich ein Brummen.

"Verdammt, sonst fuchtle ich mir die Hand wund."



Kapitel 24 - Mythos Australien


Erst draußen hatte Aniram Zeit genug, um sich diesen sarkastischen Satz zu verinnerlichen. Denn ihr war bewusst geworden, dass er ihr in fast demselben Moment diesen ulkigen Vergessenszauber angehext hatte und sie sich gezwungen sah, so blöd wie möglich aus der Wäsche zu glotzen. Erleichtert über dieses "heute Abend" hatte sie dann beinahe panisch die Flucht ergriffen.

Verdammt, wie lange würde sie das noch aushalten? Bekloppter konnte man ja schon nicht mehr gucken. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich verriet.

Seufzend schleppte sie sich den Kerkergang entlang und vertröstete die Gemälde mit der Namensverleihung bis zum Abend. Natürlich wollten alle wissen, ob es denn den Tatsachen entsprach, dass sie gestern mit anderen Gemälden zusammengerauscht war. Diese Frage brachten sie allerdings in einem Tonfall vor, der durchscheinen ließ, dass sie ein "Zusammenrauschen mit Aniram" als ihr Privileg betrachteten.

Während sie lief, antwortete sie: "Na sicher. Die da oben wissen ja auch, dass wir uns zoffen, oder? Von mir aus gezofft haben, aber wenn ihr nicht so viel plappern würdet, wären mein Name und unser einzigartiges Verhältnis, Ladies und Gentlemen, im Schloss weitgehend unbekannt."

"Ach nun komm schon", tönte es von rechts, wo Reginald der Rachsüchtige hing, "wir sind froh, dass wir auch mal was zu erzählen haben. Wir konnten ja nicht ahnen, dass du mit anderen genauso umgehst."

Wie zur Bekräftigung nickte und wackelte alles und jeder um ihn herum.

"Schließlich hängen wir in einem Bereich, da fliehen normalerweise die Schüler."

"Tja, woran mag das wohl liegen? An eurer charmanten Art?"

Bevor noch irgendein Gemälde nach Luft schnappen konnte, sagte sie: "He, ihr wisst, von wem es kommt, oder? Also bis später."

Damit verschwand sie endgültig und stemmte sich gegen die Tür zur Großen Halle, um das zu tun, wonach ihr im Moment der Sinn stand: essen.

Diese Tätigkeit stellte sich wirklich als die schwierigste heraus, denn wie sie geahnt hatte, griff sie einige Male daneben und musste sich zügeln. Nach einigen Fehlversuchen beschloss sie, alles langsamer angehen zu lassen und so zu tun, als würde sie sich mit Bedacht ihre Speisen aussuchen.

Beim Blick über die Tafel schoss ihr wieder Pyro in den Sinn. Mit dem musste sie sich unbedingt unterhalten. Da er ihr gesagt hatte, wo er zu finden wäre, musste sie theoretisch nur noch die Küche finden. Praktisch natürlich auch.

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Professor Snape hingegen hatte immer noch mit der Erscheinungsform von Miss Hawkwing zu kämpfen. Vielleicht war ihre Schilderidee doch nicht so verkehrt und er müsste sich eines anfertigen, worauf stand, dass er sie tagsüber so und nicht anders zu nennen hatte. Sollte ihm jemals im Unterricht ihr Vorname herausrutschen, mochte er sich die Konsequenzen nicht ausmalen.

Also bestellte er sich lieber ein kleines, für ihn typisches Frühstück in den Kerker und hing während des Essens seinen Gedanken nach. Diese Zuflucht brauchte er, weil er sehr bald wieder vor zwar kleinlauten, aber genauso kleinkariert denkenden Schülern stehen durfte.

Er grübelte unablässig. Wie im Namen von Merlins Bart und Glatze hatte sie ihre Augen hinbekommen? Wie hatte sie das angestellt? Mittlerweile mutierten seine Unkenntnis und nicht befriedigte Neugier zu einer absolut nervtötenden Angelegenheit.

Er schüttelte immer noch den Kopf, denn nach dem gestrigen Desaster hatte er erwartet, sie als zitterndes und schlotterndes Bündel wiederzusehen.

Die Flapsigkeit jedoch, an die er sich mittlerweile gewöhnt hatte, ihre ganze Art und Weise sich zu geben, zeugten eigentlich von einem Menschen, der sich und seine Umwelt fest im Griff hatte. Und diese Augen! Erneut hämmerte es: WIE? Während er seinen Kaffee trank, konnte er sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen. Sie zu fragen würde wohl noch weniger Sinn machen. Obwohl…

Nachdenklich schaute er seinen Kaffeebecher an, als könnte der ihm eine Eingebung verpassen. Als er dann weiter trank, beschloss er, seine Strategie leicht zu ändern. Ob sie funktionierte, da würde er wohl abwarten müssen.

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Aniram schwebte durch diesen Tag, als sei sie hier aufgewachsen. Nichts und niemand konnte sie stören oder aufhalten. Niemanden musste sie mehr fragen, in welche Richtung es ging. Alles lief fast wie von allein. Auch wenn es bei ihren Mitschülern Verwunderung, ja sogar Befremden auslöste, so sah sie nicht im Mindesten ein, umfangreich zu erläutern, warum das auf einmal so war.

Diese ungewohnte, viel zu lange entbehrte Weite sprang sie an und spielte mit ihr. Zum Jubeln nahm sie sich jedoch keine Zeit, denn sie wusste, eines Tages würde es wieder geschehen. Und wie sah ihre weitere Zukunft aus, wenn sie den Vorrat, der eigentlich für etwas anderes gedacht war, aufgebraucht hatte? Diesen Gedanken schob sie weit von sich. Sie wollte nicht daran denken, nicht jetzt. Sie hatte keine Ahnung, wie lange dieses jetzt anhielt, doch es bedeutete, dass sie für eine gewisse Zeitspanne Ruhe hatte und diese so intensiv wie möglich auskosten wollte.

Dies schloss natürlich ihre abendlichen Tätigkeiten ein, von denen sie ausging, dass sie weiterhin existent blieben. Es mangelte ihr nicht an Selbstvertrauen und neu gefasstem Mut, allabendlich im Kerker zu arbeiten, allerdings fragte sie sich, ob ihr Aufenthalt dort unten in den tiefsten Regionen ihren Zustand vielleicht forciert hatte. Logisch wäre es. Irgendwie.

Trotz dieser Überlegungen, die sie kurzerhand vom Tisch wischte, machte sie sich abends auf in den Kerker. Auf zu ihrem Trank.

Locker und beschwingt trat sie ein und blieb an der ersten Bankreihe stehen. Ihr Blick pendelte zwischen Severus und Kandinsky. Es war ihr egal, ob Severus nun diesen in ihren Augen auf der Nase liegenden Namen für diesen Trank akzeptierte oder nicht, sie nahm sich vor, ihn künftig Kandinsky zu nennen.

Snape hob den Kopf und schaute sie an. "Irgendwelche Fragen?"

Aniram, die durchaus mit einigen gerechnet hatte, allerdings seinerseits, schüttelte den Kopf.

"Nein, es sei denn, Sie haben welche." Damit spielte sie auf seine Fassungslosigkeit vom Morgen an.

Er jedoch mochte ungern daran erinnert werden und schüttelte ebenfalls den Kopf.

"Na dann werde ich mal weitermachen. Ich hörte neulich von zwei Leuten, die haben sich tot geschüttelt."

Nach diesen Worten schwenkte sie nach rechts, besah sich die Arbeitsanleitung und begann.

Snape musste gegen seinen Willen grinsen. Glücklicherweise registrierte das ihr Rücken nicht.

"Wer waren denn die Opfer?"

"Au Scheiße!"

Aniram fluchte, wie man das als Fünftklässler zu tun pflegte, den eine Frage des Zaubertrankmeisters aus dem Hinterhalt erwischte und man dabei fast die soeben entkorkte Phiole mit dem Gift der Buschmeisterschlange fallen ließ.

"Herrje, das war doch ein Witz! Sagen Sie mir jetzt ja nicht, Sie kennen das nicht. Darüber wäre ich wirklich entsetzt. Ich meine, das sagt man doch so, wenn zwei Leute dasselbe tun, dabei ist es unerheblich, was sie tun, und man beendet das Ganze mit tot gelacht, tot geschüttelt, tot gerührt oder was auch immer. Na ja, sollten Sie das wirklich nicht kennen, können Sie damit Ihre kommunikativ-kreative Ader ausbauen. Sie dürfen auch sagen, dass es von mir kommt."

Schon steckte eine Pipette in der geschickt aufgefangenen Phiole, als sie noch sagte: "Es wäre vielleicht hilfreich, vor allem im Sinne Ihrer Vorräte, wenn Sie mich demnächst etwas vorwarnen würden."

"Ach, tatsächlich, muss ich das? Wer hat denn hier Opern gesungen, Arzt gespielt und irgendwelche krausen Muggelsachen durch den Kerker geschrieen? Sie können mir glauben, MEINE Pergamente waren davon auch nicht angetan, als ich sie mit Federstrichen verzierte."

Anirams Antwort bestand aus einem sehr undeutlichen Brummeln. Dann trat wieder Ruhe ein, bis sie die entleerte Pipette hob.

"Sie haben das Fechten vergessen. Und den Picasso."

Aniram grinste so breit, so dass für ein einziges Kreuz nie und nimmer ein Pergament im Querformat genügt hätte. Nach diesen Bemerkungen allerdings beließ sie es dabei und konzentrierte sich in Ruhe auf den Trank.

Eine Ruhe jedoch, die von Severus mit Argusaugen überwacht und mit Luchsohren bespitzelt wurde. Zu gegebener Zeit - und er wusste, auf seine Uhr konnte er sich verlassen - würde er zu ihr hinübergehen, fragen, wie weit sie war und ihr den beinahe unvermeidlichen Kaffee anbieten. Da sie bei ihrem Eintritt nicht gewusst hatte, was sie zuerst tun sollte, sondern ihn und den Trank gleichermaßen ins Visier genommen hatte, ging er davon aus, dass seine magische Uhr vollkommen außer Acht gelassen worden war.

Denn das Ziffernblatt zeigte bereits Neun statt Acht. Er hoffte, sie und eventuell wiederkehrende Panikattacken oder worunter auch immer sie litt auszutricksen. Vielleicht wurde es nie wieder so schlimm, wenn er ihrem Körper und ihrem Geist vorgaukelte, dass bereits mehr Zeit verstrichen war als angenommen.

Er hielt sich an sein Vorhaben und als die Uhr Elf zeigte, ging er zu ihr und warf einen kritischen Blick auf die Arbeitsanleitung.

"Wie weit?"

"Die Akelei muss noch rein, dann kann der Kram wenigstens über Nacht ziehen. Mit der Zutat passiert nichts. Morgen dann, Moment", sie hob den Kopf und blickte in dieselbe Richtung, "ja, morgen wird es etwas kritischer, da kommen Kobrablut und Skarabäusaugen dazu. Ich habe wirklich schon viel gebraut, aber so etwas Eigenartiges noch nie. Das ist auch eine ziemlich wirre Zusammensetzung, finden Sie nicht? Das muss ein Blödmann gewesen sein, der das geschrieben hat."

Er musste schlucken. Das war neu, dass sie eine wüste Zusammensetzung automatisch mit Blödmann assoziierte. Diese Bemerkung kam seiner Intention, IRGENDein Rezept zu schreiben, sollte sie mit diesem je fertig werden, nicht unbedingt entgegen. Und er zuckte davor zurück, obwohl seine Kenntnisse auf diesem Gebiet äußerst fundiert waren und er auch schon Tränke gebraut hatte, von denen niemand ahnte.

"Ich weiß nicht, wer das war. Normalerweise werden solche Sachen signiert, das ist mir bekannt. Bei Ihnen auch?"

Sie nickte heftig. "Logisch. Sonst kann doch jeder Volltrottel daher kommen und das jeweilige Rezept für sein eigenes ausgeben, oder?"

‚Blödmänner und Volltrottel, es wird immer besser.'

"Allerdings, dann wandert also noch die Akelei hinein und dann ist es fast schon wieder Zeit für Sie?"

"Das ist nicht Ihr Ernst, oder?"

Snape, der zurückgegangen war und jetzt zwei Kaffeebecher in der Hand hielt, deutete auf die Uhr.

"Scheint so."

"Komisch, ich hätte schwören können, ich bin gerade erst rein gekommen. Tse, wie doch die Zeit vergeht, wenn man sich nett unterhält, nicht wahr?"

Da es so verführerisch duftete, machte sich Aniram an ihre abschließenden Arbeiten. Sie markierte die abgearbeiteten Schritte, wusch und spülte alles aus und legte es an seinen ursprünglichen Platz.

Etwas gefiel ihr ganz und gar nicht - nämlich, dass sich eine leichte Erschöpfung in ihr ausbreitete. Hatte sie mit ihrer Vermutung doch Recht und ihr bekam der Aufenthalt hier unten wirklich nicht gut? Vielleicht holte sie der Kaffee wieder ans Tageslicht. Kritisch musterte sie die Uhr, die beharrlich die Elf anzeigte. Der Zeiger wollte nirgendwo anders hin. Sollte sie schon so lange hier sein und vor sich hin werkeln? Gut möglich, beim Tränkebrauen verging die Zeit wie im Flug.

Sie seufzte leicht und marschierte in die Richtung des Kaffeeduftes. Sie inhalierte kräftig und nahm einen kleinen Schluck. Da sie ihre Überlegung nicht ganz abschütteln konnte, starrte sie mit leeren Augen auf den genauso leeren Kamin.

Das Frühwarnsystem von Severus wurde aktiv. "Woran denken Sie?"

Das war zwar eine für ihn absolut untypische Frage, aber er wollte hören, ob sie noch im Hier und Jetzt war oder schon wieder woanders.

Aniram seufzte tief und ließ beim Ausatmen die Schultern regelrecht nach unten sacken.

"An zu Hause. Da ist es so schön warm. Hier... ich weiß nicht..."

Ein Wink mit seinem Zauberstab genügte und ein Feuer prasselte.

Aniram ging ganz nahe heran und legte ihren Kopf an den Kaminsims. Die von unten lodernde Flamme tat ihr und ihrem Innersten gut, obwohl sie eigentlich wieder ganz in Ordnung sein müsste. Verdammt, ihr war so kalt. Sie fror regelrecht von innen nach außen. Deshalb kam sie nicht umhin, in der Tat von letzter Nacht vielleicht einen Fehler zu sehen.

"Oh, ich hab mich nicht mal bedankt", meinte sie versonnen und lächelte verträumt, "Danke."

Snape, der wenig herrschaftlich in seinem Sitz lümmelte und ebenfalls seinen Kaffee genoss, zeigte sich als der Ritter der edelsten Sorte.

"Wenn Sie ‚zu Hause' sagen, verbinden Sie das doch nicht ausschließlich mit ‚warm', oder? Sie vermissen alles."

Aniram strich sich einige widerspenstige Locken aus der Stirn und sagte: "Ja, alles. Nicht nur die Wärme. Die Außerordentlichkeit unserer Schule, unsere viel bessere Fortbewegungsmöglichkeit und am meisten eigentlich die Traumzeit." Wieder glitt ihr Blick ins Leere und sie fixierte einen Punkt über seiner Schulter.

‚Sev, jetzt oder nie', feuerte er sich an. Nun konnte er erproben, ob sein umgestülptes Konzept Früchte tragen würde.

"Was ist eigentlich die Traumzeit? Schlafen da alle? Ich kann mir das schwer vorstellen."

Scheinbar hatte er die Frage unscheinbar oder im besten Falle idiotisch hervorgebracht, denn sie begann zu lachen. Da er für heute Abend Panik Eins A einkalkuliert hatte, erfreute ihn dieser Laut außerordentlich.

"Traumzeit, ja wie soll ich das erklären?"

Ihr Kopf kippte zur Seite, sie ging langsam auf ihn zu und stellte ihren Kaffeebecher auf dem Pult ab. Dann zog sie sich hoch auf den Schreibtisch und baumelte locker mit den Beinen.

Severus musste schlucken. Scheinbar übte dieser Schreibtisch auf sie eine ungeahnte Anziehungskraft aus, denn es war nicht ihr erster Besuch. Sie schien sich hier oben wie zu Hause zu fühlen.

Seine Überlegungen verbarg er hinter einer unbeweglichen Miene. Wenn er ihr jetzt offen ins Gesicht grinste, war alles umsonst. Also sollte sie lümmeln, wo immer sie wollte.

Aniram wippte und baumelte tatsächlich lange. Sie erwog sorgfältig, was sie erzählte. Was wirklich ungefährlich war und nur mit den Lebensgewohnheiten und der Lebensauffassung verbunden war und wo die Grenze lauerte, die den sorgfältig gehüteten magischen Bereich abschirmte. Als sie ihre Entscheidung getroffen hatte, begann sie.

"Zuerst einmal wäre wichtig zu wissen, dass es absolut nichts mit Träumen zu tun hat. Nichts im Sinne von Träumen von Leuten, wenn sie schlafen. Damit wird eher die Schöpfungszeit bezeichnet. In der Sprache der Aborigines heißt sie noch einmal anders."

Er konnte nicht anders als herauszuplatzen: "Wie denn?"

Natürlich erntete er einen strafenden Blick. Er ahnte, warum sie so lange überlegt hatte. Die Antwort kam dennoch wie aus der Pistole geschossen, was ihn nicht wunderte.

"Tjurkurrpa, Altjeringa oder Palaneri. Die Traumzeit ist das zentrale Konzept unserer Mythologie. Wenn man weiß, dass die Aborigines, deren Kultur wir Magier angenommen haben, nicht mit dem linearen Zeitbegriff anderer Zivilisationen arbeiten, kann man sagen, dass die Traumzeit das Gestern, Heute und Morgen ist. Sie beinhaltet wichtige Ereignisse der Vergangenheit, die in der Gegenwart kontinuierlichen kreativen Prozessen unterworfen sind und dauert bis in die Zukunft an.

Wir sehen die Schöpfung demzufolge als Kreislauf an. Vor vielen Millionen Jahren löste sie den Beginn der Zeiten aus und beschreibt die Entstehung aller Dinge. In der endlosen Traumzeit waren Menschen, Tiere und spirituelle Wesen miteinander verbunden und eins.

In der Traumzeit, deshalb heißt sie ja so, haben diese spirituellen Wesen die Erde und alles Leben darauf erschaffen, eben erträumt. Aber nicht nur das. Sie erträumten auch die Verwandtschaft von allen Dingen zueinander. Wie Menschen, Tiere, Natur, Stämme, Gesetze, Herkunft und Kunst zueinander stehen. Also entstanden aus dieser Verwandtschaft heraus die Stämme mit ihren Gesetzen und Ritualen - die Kultur selbst. Klar so weit?"

Sie schoss einen fragenden Blick in Severus' Gesicht.

Dieser nickte stoisch. Um nichts in der Welt würde er diesen Vortrag unterbrechen wollen! Er wollte eintauchen in diese Faszination und sich nicht fragen lassen, ob alles klar sei.

"Um die Energie der Ahnen zu bekommen und die Traumzeit fortführen zu können, werden zahlreiche Zeremonien benötigt. In vielen Riten huldigen die Aborigines dieser Zeit, in der das Leben begann. Eine zentrale Rolle spielt in vielen Zeremonien die Figur der australischen Großen Mutter Kunapipi. Sie ist die Ewig Schwangere, die Urmutter, die seit Beginn der Schöpfung existiert, die Allschaffende Schöpferin. Ihr wird noch heute von einigen Clans gehuldigt."

Sie unterbrach sich kurz und hob in Zeitlupentempo ihre Schultern. Dann nickte sie. Für sie war es in diesem Moment unerheblich, dass sie bei ihrer Erklärung unterschlug, dass es sich bei Kunapipi um die große Regenbogenschlange handelte.

"Die Aborigines - und auch wir - schlagen damit eine Brücke ins Heute, damit weiterhin Dinge aus dem Himmel oder aus dem Inneren der Erde an die Oberfläche kommen, kurz gesagt, damit die Schöpfung weitergeht."

Sie malte mit ihrem Zeigefinger einen Kreis in die Luft und musste sich zusammenreißen, damit sie nicht zuviel erklärte. Brücke ins Heute. Lachhaft. Diese Brücke ins Heute verschwand im Sumpf der Bedeutungslosigkeit vor dem, was sie gesehen und erlebt hatte. Versonnen sprach sie weiter.

"Eine Möglichkeit, das zu erreichen, sind die Traumzeitpfade. Wir werden schon während der Ausbildung hinausgeschickt, um sie zu finden und je nachdem, mit welchem spirituellen Wesen man sich am ehesten in Einklang bringt, auf dessen Pfad wandelt man. Diese Traumzeitpfade wiederum sind stammesspezifisch. Natürlich sollen Schüler nicht schöpfen oder schaffen, sondern sich selbst finden und erkennen. Eine wichtige Übung."

Severus dachte, dass sie wohl sehr wichtig war. Denn sie sprach nicht weiter.

Tatsächlich grübelte er darüber, was er gerade gehört hatte. Begriffe wie "lineare Zeitbegriffe anderer Zivilisationen" passten so überhaupt nicht in das recht klare Bild der Traumzeit, das sie ihm sehr anschaulich erläutert hatte. Dass die Schöpfung ein Kreislauf war und dass es spirituelle Wesen gab, machte alles noch Sinn. Selbst Kunapipi konnte er in den Grundzügen den Großen Müttern Dana und Cerridwen zuordnen. Aber nicht diesen beinahe wissenschaftlich anmutenden Begriff.

Vorsichtig, mit unbewegter Miene, schaute er hoch und überlegte, ob er sie stören durfte. Was, wenn er jetzt ein Wort zu viel sagte? Er würde dann schätzungsweise nie wieder einen Zipfel vom Mythos Australien gelüftet bekommen.

"Diese Traumzeitpfade, sind die überall?" Er versuchte, es so unschuldig wie möglich klingen zu lassen. Und wieder lachte sie.

"Nein, sind sie natürlich nicht. Es ist vielmehr so, dass man manchmal eine Woche im Outback unterwegs sein kann, ohne einen zu finden. Aber eine Woche ist das Maximum."

"Ah, und dann müssen sie wieder zurückhüpfen."

Teils belustigt, teils strafend sah sie ihn an. "Teleportieren, Severus, nicht zurückhüpfen. Und nein, das tun wir nicht. Dann müssen wir uns den Macquarie Downline brauen. Wer mit seiner Unterstützung immer noch keinen Pfad findet, ist definitiv zu dämlich zum Brauen und kann sich den Rest abschminken. Das ist aber glaube ich in unserer Geschichte erst zwei Mal vorgekommen."

Es war sein Markenzeichen, gekonnt ironisch eine Augenbraue zu gegebener Zeit nach oben zu ziehen. In ihrer Gegenwart konnte es auch schon einmal passieren, dass beide nach oben rutschten. Wenn er als Herrscher über die Kerkerlandschaften und die angrenzenden Labore über DREI Augenbrauen verfügen würde, dann würde bei der Nennung dieses Trankes eine regelrechte Völkerwanderung in seinem Gesicht stattfinden.

Dieser Trank klang interessant. Mit Mac was-auch-immer konnte er natürlich nichts anfangen, hatte aber eine vage Vermutung beim Wort Downline.

"Ich brauche wohl nicht erst zu fragen, welche Zutaten dazugehören?"

Aniram schüttelte den Kopf. "Nö, das Zeug wächst hier nicht."

Damit war für sie der Fall abgehakt.

Severus, dessen Neugierde theoretisch für einen Abend gestillt war, stellte doch noch die Frage, die ihn nach der letzten unruhig verbrachten Nacht beschäftigte.

"Woraus besteht eigentlich Ihr Zauberstab? Habe ich mich getäuscht, oder fühlt er sich geschmeidig und fast warm an?"

Innerlich - und Aniram hoffte, es gut genug zu verbergen - zuckte sie zurück, als hätte sie eine Ohrfeige erhalten.

Dennoch brachte sie es fertig, ihn belustigt anzuschauen, bevor sie ihren Zauberstab aus dem Umhang zog und auf ihn richtete.

Mit großem Herzklopfen betete sie zur Großen Mutter Kunapipi, dass er keiner Täuschung aufgesessen war. Denn wenn sich IHR Zauberstab in SEINEN Händen SO anfühlte… Dann war das lediglich die Bestätigung für ihre Vermutung.

"Ich schätze, Sie konnten nur mit Mühe widerstehen, oder? Aber Sie haben es geschafft, sich im Zaum zu halten, ansonsten würden Sie nicht mehr vor mir sitzen."

Er musste schlucken, als er das hörte. Was zum Henker bedeutete das?

"Mein Zauberstab besteht aus Eukalyptus."

Als wäre damit alles gesagt, brach sie ab. Sie ahnte jedoch, dass mindestens noch eine Frage auf sie zukommen würde.

"Und der Kern?"

Diese Frage stufte er als vordergründig ein. Warum sie ihm ans Herz gelegt hatte, unter keinen Umständen damit zu zaubern, konnte er ein andermal in Erfahrung bringen.

Aniram stockte tatsächlich. Wobei sie sich nicht allzu viel vergab, wenn sie zumindest einen Bestandteil herauspickte.

"Der Kern enthält einen Splitter vom Ayers Rock."

Vorsichtig, als könnte er ihr etwas tun, hob sie ihren Zauberstab in Augenhöhe und betrachtete ihn, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen.

"Aha", orakelte Snape, "ist das nur Ihr Kern oder hat den jeder australische Zauberstab?"

"Severus, ich bitte Sie, erwarten Sie einen Vortrag vom Umfang eines nicht enden wollenden Pergaments?" Aniram schüttelte altklug den Kopf.

"Nein, natürlich nicht. Auch wenn ich mir sehr schwer vorstellen kann, dass eventuell der Ayers Rock seit Jahrhunderten kontinuierlich schrumpft. Tatsächlich ist es eigentlich an der Zeit, zu gehen. Sie sind entlassen."

Aniram rutschte vom Schreibtisch, ohne näher auf die Zauberstabgeschichte einzugehen.

"Wow, eine neue Entlassungsformel, kein raus und kein verschwinden, nein, ich bin endlich auf dem Level, wo man mich ENTLÄSST. Meine Güte!"

Er musste nun wirklich halbseitig grinsen und zuckte ein wenig mit seinem Zauberstab. Da sprang sie auch schon davon, ohne ihn in der richtigen Überzeugung zurückzulassen, dass er ihr Gedächtnis gründlich verändert hatte.

Wenn er das Gespräch Revue passieren ließ, konnte er einen hundertprozentigen Fortschritt ausmachen.

Noch nie war ihm Australien so nahe gewesen.

Doch, ein einziges Mal. Er zauberte sich eine Mango auf den Tisch und fiel darüber her, als gäbe es kein Morgen.



Kapitel 25 - Obliviate


Albus Dumbledore, der wie jeden Abend Severus seinen Besuch abstattete, klopfte kurz an und trat umgehend ein. Das Schauspiel, das sich ihm bot, ließ ihn für einen kleinen Moment erstarren. Ihm war neu, dass man auf eine solche Art und Weise Mangos essen konnte. Als würde dort vorn ein Raubtier sitzen. Er schmunzelte.

"Schau an, schau an, dir scheint es zu schmecken. Guten Abend, Severus. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen?"

Der Angesprochene schüttelte den Kopf, nickte kurz darauf und da er sich erinnerte, welche Auswirkungen ein Reden mit Mango im Mund hatte, wies er einladend auf den anderen Stuhl. Nachdem Albus Platz genommen hatte, schob er das Tellerchen in die Mitte, damit sein Gast zugreifen konnte.

Dieser ließ sich nicht zweimal auffordern und bevor er sich ein Stückchen genehmigte, fragte er kurz: "Irgendwie scheint es ihr besser zu gehen, nicht wahr? Ich bekomme schon den ganzen Tag Anfragen aus dem Kollegium, was dafür zuständig ist."

Der Rest ging in einem unmutigen Brummeln unter. "Ich habe das Gefühl, wegen Miss Hawkwing eine Lehrerkonferenz einberufen zu müssen."

Snape lachte leise. "Das wäre vielleicht angebracht."

"Hmpf, du lachst."

"Oh, von dir kommt ein hmpf? Erahnst du, seit wie vielen Wochen MIR danach ist? Schließlich hat sie sich auf Hogwarts fallen lassen wie der Ayers Rock. Frisch nach dem Motto - hallo, da bin ich, jetzt macht etwas daraus."

Bei dieser Äußerung war Albus wieder einmal so weit, nach Luft zu schnappen. Glücklicherweise ohne Mango im Mund.

"Du ahnst gar nicht, wie Recht du hast. Wenn sie auch nicht darauf gefallen ist, sondern dagegen. Wie kann jemand so etwas? Man kann nach und in Hogwarts nicht apparieren und schon die Tatsache, dass sie vor der Eingangstür, ähm ja, mehr oder weniger stand, ich weiß nicht…"

"Sie ist teleportiert, Albus. Scheinbar hat sie eine zuverlässige Magnetfeldlinie getragen."

Als Severus nach diesem Satz seinem Gegenüber ins Gesicht schaute, lachte er laut auf und hob gleich vorweg die Hände.

Albus jedoch würgte hervor: "Umsiedeln willst du aber nicht, oder? Ich wäre dir wirklich verbunden, wenn du nicht in Runen quasselst, sondern allgemeinverständlich. Aber Hut ab, das klingt so, als wärst du ein Stückchen weitergekommen."

Severus amüsierte sich königlich darüber, dass wohl auch der Direktor infiziert war, wenn es um farbige Metaphern ging.

"Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht so richtig. Wenn du allein auf den heutigen Tag anspielst, ja, da bin ich weitergekommen. Was ihre Heimat betrifft, war sie immerhin bis heute äußerst zugeknöpft und ich dachte mir vormittags, dass ich meine Strategie, mehr über sie und ihr Volk zu erfahren, vielleicht ändern sollte. Aber ich bezweifle stark, dass nur mein bekundetes Interesse an ihr und ihrem Zustand dafür ausschlaggebend war, dass sie hier saß und über Australien und die Traumzeit rezitierte. Ich gebe ungern zu, dass das in mir das Gefühl vermittelte, ich wäre ein Erstklässler."

Unwillkürlich glitt sein Blick zu der Stelle, wo sie gesessen hatte. Dieses freche Bündel. Pflanzte sich hin, wo es ihr gefiel und hielt ellenlange Vorträge, ohne sich im Geringsten Gedanken darüber zu machen, ob und wie er jemals wieder in der Lage sein sollte, an genau diesem Tisch Arbeiten zu korrigieren.

Albus war seinem Blick gefolgt und wusste nicht, welcher Intuition er es verdankte, dass ihm die Frage "Hat sie wieder Big Spender gesungen?" herausrutschte.

Severus lächelte verkrampft. Er hätte damit rechnen müssen, dass Dumbledore die richtigen Schlüsse zog.

"Nein, das hat sie nicht. Sie saß eben nur hier und hat geredet wie ein Wasserfall."

Dann erst - um Albus' Frage zuvor zukommen - berichtete er über die Ausbeute des heutigen Abends.

Albus Dumbledore hing an den Lippen des Zaubertrankmeisters, als stellten sie den Mittelpunkt des Universums dar. Es war faszinierend, so anders, so neu, dass ihm schier die Luft weg blieb. Unglaublich, was sein Gegenüber erzählte.

Beinahe ergriffen und ergeben flüsterte er, als hätte er Angst, die Magie des Moments zu zerstören.

"Meinst du, sie erzählt noch mehr, wenn du ihr die falsche Uhrzeit anzeigen lässt und sie mit Kaffee voll pumpst? Du hast Tricks auf Lager, mein Lieber..."

Den Rest ließ er in der Luft hängen. Stattdessen fischte er ein Mangostück vom Teller und wedelte damit leicht vorwurfsvoll herum.

"Du vergisst, ich bin ein Slytherin", war die trockene Erwiderung. Und nach einer Weile: "Ansonsten weiß ich es nicht, ich kann nur darauf hoffen."

Trotz dieser Antwort waren seine Gedanken wie Blei. Zum ersten Mal im Leben hatte er ein absolut mieses Gefühl. Ein Gefühl, das er eigentlich nicht kannte. Nicht kennen sollte. In diesem konkreten Fall - nicht kennen durfte. Gnadenlos hielt er sich den Spiegel vor und analysierte sein Tun in letzter Zeit. Er hatte Angst, etwas zerstört zu haben, bevor es weiter wachsen konnte. Ihm fiel jedoch keine rationale Begründung ein, weshalb er von diesem Gefühl beschlichen wurde. Entwaffnet hob er die Schultern.

Dumbledore hatte das Zögern bemerkt. Er wusste, wie destruktiv sich Mangos in Luftröhren verhielten und kümmerte sich erst um deren restlose Beseitigung.

"Was ist los? Was stimmt nicht? Weshalb weißt du es nicht?"

Snape breitete in einer beinahe hilflosen Geste die Hände aus. Er wollte zu einer umfangreicheren Erklärung ansetzen, sagte dann aber nur: "Obliviate."

"Merlins blank polierte Glatze! Meinst du... folgerst du... äh...", jetzt war es an Albus, dem ansonsten redegewandten, die Handflächen nach oben zu drehen.

Severus beugte sich vor. "Wie, Albus, WIE im Namen aller Schutzheiligen soll ich sie nach etwas fragen? Meine Worte muss ich sorgsam abwägen, denn irgendetwas könnte darunter sein, was ich eigentlich nicht wissen darf. Verstehst du? Ich dachte immer, Obliviate wäre ein nützlicher Zauber, aber in diesem Fall habe ich mir wohl ein Eigentor geschossen. Ich garantiere dir, sie schaut mich schief an, sobald ich nach mentalem Training frage. Neben ihren heimatlichen Tränken interessiert mich aber immer noch am meisten, wie zum Henker sie in einer dermaßen affenartigen Geschwindigkeit arbeiten kann. Wie macht sie das? Sie fängt ja nicht einmal an zu schwitzen! Bis zum heutigen Tag habe ich auch keinen Zauberspruch gehört oder eine seltsame Bewegung gesehen, die das hätte auslösen können. Ach, ich weiß auch nicht. Das sind mir zu viele Wie."

Frustriert brach er ab.

"Ich wünschte, ich könnte dir helfen oder einen Tipp geben. Aber es ist ja wohl offensichtlich, dass du der einzige bist, dem gegenüber sie sich auch nur annähernd öffnet. Weißt du, was mich am meisten interessiert? Nicht nur die Tränke, oh nein." Albus hielt kurz inne. "Ich persönlich würde wissen wollen, warum wir zwar den Kontinent Australien kennen, aber so gar nichts von der Magierwelt und ihren Eigenheiten und Riten. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass es nur deswegen ist, weil sie in Übereinstimmung mit der Natur leben und die Kultur der Ureinwohner angenommen haben. Ich meine, wenn man sie sich anschaut, so groß zum europäischen Einwohner ist doch der Unterschied gar nicht, oder?" Er versuchte krampfhaft, belustigt zu klingen.

Snape tat es ihm nach. "Nein, äußerlich nicht. Was die inneren Fähigkeiten angeht, dann schätze ich ein, dass das, was sie heute erzählt hat, lediglich die Spitze vom Eisberg war. Oder aber unwesentliche Details. Weiß ich, was wichtig ist und was nicht? Pah, und ich bin schon zufrieden, wenn sie den Namen eines Trankes nennt, über die Traumzeit schwatzt und ihren eigenen Zauberstab seziert. Beim letzten Punkt bin ich mir hundertprozentig sicher, dass das noch nicht alles war. Denn plötzlich brach sie ab und wollte nicht mehr."

Er lehnte sich zurück. Albus schwieg. Jeder der beiden Männer hing seinen eigenen Gedanken nach.

Wie wurde der Mac-Trank gebraut?

Wohin führte die Traumzeit?

Wie lange hielt man sich darin auf?

Woraus bestand so ein Zauberstab noch?

Warum empfanden Australier eine andere Fortbewegungsart als Teleportation als abnormal?

Weshalb blieben sie unter sich?

Aus welchem Grund nahm Aniram in Kauf, innerhalb der Mauern zugrunde zu gehen?

Was letztlich in der universellen Frage gipfelte: Welches Geheimnis hatten sie?

Denn dass es eines war, darüber waren sich Severus und Albus einig. Aus dem Bauch heraus konstatierte Snape:

"Ich bin mir beinahe sicher, dass es mit dieser Wesensverwandtschaft zu tun hat. Und mit den Stämmen. Nur kenne ich deren Bedeutung nicht. Geschweige denn, dass ich einen Zusammenhang herstellen kann. Ach Albus, warum wird mit Australiern nach uns geworfen?"

Der Direktor musste lachen. Snape, dem erst bei diesem Lachen bewusst wurde, was er gesagt hatte, fiel zwar nicht ein, musste jedoch schmunzeln.

"Tja", er betrachtete seine Hände, "ich werde weiter daran arbeiten. Ob mir so ein Überfall wie beim Schlaftrank noch einmal gelingt oder ob ich in der Lage bin, eine vollkommen unschuldige und absolut unwissende Frage zu stellen, bleibt abzuwarten. Die Skepsis mir gegenüber bleibt nach wie vor bestehen. Darüber hinaus befürchte ich natürlich, dass mir etwas herausrutscht, von dem ich keine Kenntnis haben dürfte."

Albus warf ein: "Was würde geschehen, wenn du Obliviate weg lässt? Als du ihn einmal nicht sprechen konntest, hast du doch schon festgestellt, dass es für dich keinerlei Konsequenzen hatte. Miss Hawkwing scheint schon mit einem riesigen Potential an Geheimniskrämerei geboren worden zu sein. Um es auf den Punkt zu bringen, nach dem, was ich bis heute von dir gehört habe, halte ich sie für vertrauenswürdig."

Severus war sehr unentschlossen. "Ich weiß es nicht. Allerdings habe ich schon oft darüber nachgedacht, wie es wäre wenn. Du bist bestimmt nicht überrascht wenn ich sage, dass ich mich einfach nicht entscheiden kann."

Albus nickte. "Ja, das kann ich verstehen. Nicht einmal ich wüsste, was ich tun würde oder sollte, wenn mir das Herumfuchteln Abend für Abend zur Gewohnheit geworden wäre."

Hätte er geahnt, was aus seinem anfänglichen Vorschlag werden würde, Miss Hawkwing zur Assistentin zu machen, so hätte er es unterlassen. Denn vor dem Hintergrund des jetzigen Wissens bekam eben dieser Vorschlag einen absolut naiven Touch.

Damals, als sie hier einfiel wie eine Horde Hunnen und Schüler und Lehrer gleichermaßen umkrempelte, hatte auch noch niemand geahnt, wie es ihr im Laufe der Zeit gehen würde. Dass es bergab ging - trotz des heute registrierten und hoffentlich nicht nur vorübergehenden Aufwindes - war deutlich spürbar.

Er erhob sich und wollte gehen. Dann schaute er seinem Zaubertrankmeister, dem er diese beinahe unlösbare Aufgabe aufgedrückt und der aber doch ab einem gewissen Zeitpunkt positive bis spaßige Seiten aus dieser Zweckgemeinschaft gezogen hatte, noch einmal ins Gesicht.

"Vor einiger Zeit habe ich dich beneidet. Mittlerweile weiß ich nicht mehr, ob das angebracht ist. Denn wenn man sich einmal in dieser Schiene festgefahren hat, ist es verdammt schwer, wieder herauszukommen. Bei dieser Entscheidung möchte ich nicht in deiner Haut stecken, Severus. Gute Nacht."

Mit einem furchtbar schlechten Gewissen ging er. Unglücklich darüber, dass das Experiment "Wie holen wir am effektivsten irgend etwas über Australier aus Australiern" zu scheitern drohte. Von anfänglicher Neugier blieb nur ein schaler Nachgeschmack.

Es dauerte einige Zeit, bis diese Worte Snape überhaupt erreichten. Er war so in seine eigene Grübelei verstrickt, dass er vergaß zu antworten.

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Aniram hockte währenddessen auf dem Astronomieturm. Ihre Umwelt störte sie immer noch nicht, also hielt die Wirkung noch an. Das beruhigte sie ungemein - wenn auch ein leichtes Zweifeln dazukam, weil es ihr vorhin im Kerker wieder schlechter gegangen war.

Sie grübelte, ob sie Severus einweihen sollte. Es war einfach unfair. Gut, es war so lange nicht unfair, solange er es nicht wusste. Sie legte keinen gesteigerten Wert darauf, sich einer erneuten heftigen Reaktion gegenüberzusehen - sollte er jemals herausbekommen, was sie verbarg.

Abend für Abend wurde es schwieriger für sie. Da halfen auch die Tipps der Gemälde nicht mehr, von denen zu Lebzeiten sicherlich jeder einmal unter Obliviate gelitten hatte.

Verdammt, warum wollte er das überhaupt?

Es lag auf der Nase, dass er Angst vor einer Enttarnung hatte. Er hatte ihr deutlich genug zu verstehen gegeben, dass er sich sein Image von niemandem - auch oder gerade nicht von ihr - ruinieren lassen wollte. Wusste oder ahnte er denn bis heute immer noch nicht, dass eine solche Handlungsweise einfach nicht zu ihr passte? Kannte er sie so wenig? Es war zum Verzweifeln.

Aniram zermarterte sich das Gehirn. Ein Versprechen war ein Versprechen. Wer es brach, war nichts wert. Auch dann nicht, wenn er ein erneutes Versprechen geben wollte. Oder hatte er Angst, sie konnte sich an ihr Versprechen nicht mehr erinnern, wenn er diesen dämlichen Zauber ausführte? Schließlich musste sie von den hiesigen Standards ausgehen. Hier bedeutete ein Gedächtnis verändernder Zauber wirklich das, was er war.

Wie sie es auch drehte und wendete - eine logische Erklärung für dieses beinahe zwanghafte Anwenden gab es für sie nicht. Keinesfalls.

Inzwischen hatte sie sich in Hogwarts relativ gut eingelebt. Sofern dieser Zustand, der in die Ordnung Hybrid von Rausch und Verfall fiel, als Leben bezeichnet werden konnte. Sie hatte damit gerechnet, dass ihr eine Dosis nicht genügen würde. Immer dann, wenn die Wände näher auf sie zurückten, wusste sie, es war bald wieder soweit. Sie konnte es nur austesten.

Als Versuchskaninchen eignete sie sich allemal. Ein gesundes und vertretbares Maß hatte sie gefunden. Wobei hier die Einschränkung galt: vertretbar eventuell, beim Thema Gesundheit stand ein Fragezeichen. Pro Woche eine Auffrischung. Nur ein Krümel, dann ging es ihr wieder gut.

Für den Fall, dass sie nicht mehr dazukommen sollte, von ihrem Selbstversuch zu erzählen, hatte sie damit begonnen, Tagebuch zu führen. Darin war zumindest all das vermerkt, dem sie Bedeutung beimaß. Als wesentlichen und erwähnenswerten Punkt empfand sie auch den fortschreitenden körperlichen Abbau.

Vom seelischen Verfall ganz zu schweigen. Sie konnte sich einfach nicht damit arrangieren, jeden Abend diesen Zauber um die Ohren gelegt zu bekommen.

Unaufhörlich hämmerte die Frage im Hinterkopf: Warum?

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Snape machte sich ähnliche Gedanken. Wider Erwarten ging ihm der Satz von Albus nicht aus dem Sinn. Aufhören? Er wusste nicht, wirklich nicht, welche Entscheidung die bessere war.

Selbstverständlich hatte er bemerkt, dass sie einmal nichts gesagt hatte, obwohl der Zauber fehlte. Dies schrieb er jedoch dem Umstand zu, dass er sie mehr tot als lebendig aus dem Schloss getragen hatte. Was, wenn dieses Nichtplaudern lediglich darauf zurückzuführen war? Was, wenn sie es einfach vergessen hatte, so sehr, wie sie neben sich gestanden hatte? Was - was - was? Die Fragen rissen einfach nicht ab. Beantworten konnte er keine einzige davon.

Es wurde eine sehr unruhige Nacht.

Tags darauf behielt er sein Konzept bei. Höchstwahrscheinlich würde es sich als effektiv erweisen. Er hatte sie beobachtet und wusste zwar, dass sie bei ihrem Eintritt in den Kerker nie einen Blick auf die Uhr warf. Doch sicherheitshalber ließ er vorerst die richtige Zeit anzeigen und während sie arbeitete und mit der Nase auf der Tischplatte lag, rückte der Zeiger um eine Stunde vor.

Das Kaffeetrinken gegen Zehn war mit der Zeit auch ein Ritual geworden. Die Tatsache, dass sich ihre Augen als Workaholic entpuppten, machte ihm immer noch zu schaffen. Es war ihm nicht entgangen, dass sie innerhalb einer Woche von leuchtend bis leicht stumpf jede Schattierung durchliefen. Ihn beschlich der ungute Verdacht, dass sie sich mit Drogen aufrecht hielt.

Dies alles tat natürlich seiner angeborenen Neugier absolut keinen Abbruch. Mittlerweile war jeder Abend gleich. Sie kam, arbeitete, trank und - erzählte. Fasziniert lehnte er sich zurück und saugte ihre Worte auf wie ein Schwamm. Es war wie eine Märchenwelt, die sich ihm auftat. Er lauschte und wollte mehr und mehr hören.

Er hasste sie. Er hasste die Uhr, die ihm unerbittlich zeigte, dass es nun an der Zeit war, mit dem Zauberstab den Schlussstrich unter den Abend zu ziehen.

So auch heute. Unauffällig blickte er an die Uhr und holte seinen Zauberstab heraus. Diesen musterte er interessiert und verglich ihn mit einem australischen. So konnte er wenigstens so tun als ob. Denn wenn sie gerade ins Gespräch über Zauberstäbe verwickelt waren, würde es wohl nicht auffallen, wenn er seinen herausholte und anschaute, als hätte er ihn noch nie gesehen.

Aniram wusste, jetzt war es fast soweit. Müde seufzte sie. Ihr Zustand konnte nur als desolat bezeichnet werden. Zwar arbeiteten ihre Hände noch genauso sicher wie am ersten Tag, aber sie hatte deutlich an Gewicht verloren, so ziemlich das Maximum ihrer Fröhlichkeit eingebüßt und rannte mit Augenringen durch das Schloss, die jeden automatisch verleitete, ihr mindestens 80 Jahre mehr zuzubilligen.

Ihre Entscheidung war getroffen. Die Nächte auf dem Astronomieturm bestanden nur noch aus Grübeleien. Demzufolge hatte sie sich dazu entschlossen, ihm die Wahrheit zu sagen. Es ödete sie an, einen Menschen zu belügen, mit dem sie so viel verband. Der auch mit ihr verbunden war, ohne es zu wissen geschweige denn den tieferen Sinn zu begreifen. Sie dachte daran, was er gesagt hatte, als er ihren Zauberstab in die Hand genommen hatte.

Es war ihr egal, ob er fuchsteufelswild wurde oder nicht, heute würde sie ihn vor die unumstößliche Tatsache stellen, dass seine Mühe vergeblich war.

Statt am Kamin zu stehen oder auf seinem Schreibtisch zu sitzen, nahm sie unaufgefordert ihm gegenüber Platz. Das Markenzeichen seines Argwohns, die nach oben gezogene Augenbraue, ließ sich auf seinem Gesicht blicken.

Leise sagte sie: "Nun machen Sie schon."

Wenn er in höchstem Maße verwirrt war, ließ er sich das zumindest nicht anmerken.

"Was soll ich machen?"

Aniram deutete auf seinen Zauberstab. "Ihr übliches Obliviate. Damit Sie ruhig schlafen können."

Diese Worte waren für ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er konnte nicht verhindern, dass es ihm abwechselnd heiß und kalt den Rücken hinunterlief. Er schluckte schwer, bevor er herausquetschte: "Üblich?"

Voller Argwohn, voller Zweifel. Und es ließ ihn zu Eis werden. Wie viel von dem mochte sie...? Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen, denn sie fuhr verbal dazwischen.

"Von der ersten gemeinsamen Mango bis zum letzten gemeinsamen Kaffee."

Mit einem dumpfen Knall stellte sie den Becher ab.

Gleichermaßen gereizt und schockiert fragte er: "Seit wann können Sie Gedanken lesen?"

"Überhaupt nicht. Aber wenn Sie dermaßen intensiv daran denken, erreicht es mich, ohne dass ich es WILL."

Da er überhaupt nicht reagierte, setzte sie zu einer Erklärung an.

"Sowohl Amnesia als auch Obliviate sind reine Energieverschwendung. Sie sind es bei uns Australiern. Denn wir DÜRFEN nichts vergessen. Einfach deshalb, weil wir uns mit der unausweichlichen Tatsache konfrontiert sehen, dass selbst der Zauberstab innerhalb der Traumzeit nutzlos ist."

Sie stand auf und begann auf und ab zulaufen. Zwischendurch schüttelte sie mehrmals mit dem Kopf, als könne sie irgendetwas nicht fassen.

"Geht das alles nicht in Ihren sturen Schädel? Nicht nur das, was ich Ihnen erzählt habe. Von Ihnen, ausgerechnet von Ihnen, hätte ich erwartet, dass Sie selbst die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Ich muss wohl nicht erst erläutern, dass die Existenz von Zauberern keine Erfindung der Neuzeit ist. Was, glauben Sie, passiert mit jemandem, der sich ins Mittelalter, ins 10. Jahrhundert oder noch früher verläuft und mit einem Mal einen Vergessenszauber angehängt bekommt? Können Sie sich im Entferntesten vorstellen, wie das sein mag, in einer fremden Zeit ohne Hoffnung auf Hilfe gefangen zu sein? Ich glaube kaum, dass dieser nüchterne Fakt Ihrer Fantasie auch nur annähernd das Wasser reichen kann. Unser Index ist nicht lang, aber er existiert und über die Jahrhunderte hinweg summiert er sich doch."

"Was ist der Index?"

Selbst jetzt konnte er es nicht lassen, sie zu löchern. Hier tat sich eine Welt auf, die tatsächlich weitab seiner Fantasie lag. Da war nichts mehr mit exotischen Pflanzen oder die Intonation von Zaubersprüchen, die bis an die Schmerzgrenze reichten - nein, das war eine völlig andere Dimension.

Aniram pfiff mit einem Mal auf alles, was ihr eingetrichtert worden war. Im Ernstfall wusste sie, wie sie ihn mundtot machen konnte. Halb mitleidig, halb vorwurfsvoll schaute sie ihn an.

"Das ist die Pergamentrolle mit den Namen der vermisste Personen. Dieses Pergament ist schwarz und wird mit weißer Tinte beschrieben. Das Traurige daran ist eigentlich, dass niemand weiß, wo man denjenigen zu suchen hat. Es gibt unzählige Clans, unzählige Traumzeitpfade, die sich auch manchmal in der Vergangenheit überschneiden, so dass es unmöglich ist, jemanden wieder zu finden. Auch dann nicht, wenn sämtliche Aborigines und Magier zur gleichen Zeit auf Suche gehen.

Damit so etwas nicht passiert und weil wir ohne Zauberstab wehrlos sind, brauchen wir die Magnetfeldlinien, die auf unserem Kontinent am stärksten ausgeprägt sind, wir benötigen unseren auf genau diese Magnetfeldlinien abgestimmten Umhang und nicht dieses scheiß-schwarz", unwillig rupfte sie an ihrem Umhang, "weil wir ohne unseren Umhang nie wieder herauskommen können. Wir brauchen unsere Beherrschung, unseren kühlen Kopf und - mit Verlaub - unser riesiges Potential und jederzeit abrufbares Wissen an Tränken. Für den Fall, dass es einmal notwendig sein sollte, sich in der Traumzeit, in der alles verzerrt und die Wahrnehmung verschoben ist, einen brauen zu müssen. Wir müssen die Zeit beherrschen, ehe sie uns beherrscht."

In seinem Kopf fuhr alles Achterbahn. So langsam kristallisierte sich heraus, wozu sie beispielsweise das mentale Training brauchte. Aber dennoch, das konnte einfach nicht sein. Jeden Abend hatte er diesen Zauber ausgesprochen, damit sie sich um Himmels Willen nicht daran erinnerte, was für ein Scherzkeks er sein konnte.

Seine Stimme klang sehr heiser, als er fragte: "Und warum sagen Sie mir das jetzt?"

Aniram zuckte mit den Schultern. "Ich fand es einfach nur fair Ihnen gegenüber. Ich meine, Sie wissen nicht, dass er nicht wirken wird und brechen sich jeden Abend einen ab. Ich hab mich nur immer wieder gefragt, warum Sie nicht wollen, dass ich mich erinnere."

Ihre Blicke fixierten den Fußboden. Übergangslos verlieh sie ihrer Stimme etwas Drohendes.

"Ich erwarte, dass das, was ich eben gesagt habe, diese Mauern nicht verlässt." Jetzt fixierte sie seine Augen.

"Und wenn nicht?"

So leicht wollte er sich nicht geschlagen geben, wobei er zugeben musste, dass er in den letzten fünf Minuten mehr erfahren hatte als in den vergangenen fünf Wochen.

"Dann kriegen Sie einen Vergessenszauber angehängt, von dem Sie nicht einmal wissen, dass er existiert", fuhr sie auf. "Himmelarschundzwirn, was sind Sie für ein Mensch? Glauben Sie ernsthaft, ich hänge mir ein Plakat um den Hals, wo ich zum nächsten Fangen spielen im Kerker als Eintritt 5 Galleonen verlange? Wie meine Strafarbeit aussieht, weiß niemand. Niemand!"

Müde und erschöpft brach sie ab. "Also, wollen Sie weiterfuchteln und mir die Entscheidung überlassen, was ich von diesen gemeinsamen Abenden mitnehme? Wollen Sie mit diesem Wissen weiterhin mein Gehirn in Rotation versetzen, welches sich die Mühe macht darüber nachzudenken, warum Sie wollen, dass ich Kleinigkeiten gleich welcher Art vergesse? Oder lassen Sie es ab jetzt?"

Snape, der sich freiwillig Severus nennen ließ, der sich in diesem Augenblick verraten und verkauft vorkam, antwortete nicht. Alle Optionen hatte er in Betracht gezogen, jeden Blödsinn mitgemacht, sich an ihrem Wissen UND ihrer Anwesenheit erfreut, nur um jetzt einen Schlag ins Genick zu bekommen. Damit nicht genug. Er hatte das Gefühl, ihr dieses Genick auch noch freiwillig hingehalten zu haben.

‚Sev, du Esel, denk nicht so verquer, denk lieber daran, was du alles erfahren hast!'

Der Snape in ihm dachte ganz anders und konterte. ‚Ich bin kein Esel und denke auch nicht verquer, aber sie hat mich seit Schulbeginn an der Nase herumgeführt.'

‚Haha, seit Schulbeginn. Seit wann ist sie denn deine Aushilfe? Denk immer schön dran, am Anfang musste sie noch büßen. Schon vergessen?'

Er war wütend. Wortduelle mit einer anderen Person mochten ja noch angehen, dass in seinem Innersten jetzt allerdings seine beiden Stimmen um die Vorherrschaft stritten, verstörte ihn. Es war eine magere Ausrede, dass er sich damit suggerierte, genau aus diesem Grund nicht antworten zu müssen.

Aniram stand da und beobachtete ihn. Dann hielt sie es nicht mehr aus. "Also?"

Mürrisch blitzte er sie an und hatte vorübergehend vergessen, wer da vor ihm stand. Weder seine Laune noch sein Blick hatten ihr je eine Grenze gesetzt.

"Was also?"

"Obliviatisieren Sie mich weiterhin oder nicht?"

"Obli - was?"

"Ja Mensch, Zauberstab ins Gesicht oder nicht? Sie sind heute Abend nicht gerade mit intergalaktischer Reisegeschwindigkeit unterwegs. Mir scheint, dass Sie in letzter Zeit ein besserer Zuhörer als Redner waren."

Er holte tief Luft, sah sich allerdings außer Stande, ihr Paroli zu bieten. Geradezu lächerlich wäre jetzt sein Versuch, sie irgendetwas von diesem Abend vergessen zu lassen.

"Scheren Sie sich raus."

Aniram zuckte kurz mit einer Augenbraue. "Scheren hatten wir noch nicht, raus kenn ich."