Kapitel 26 - Traumzeit


"Immer noch bewusstlos?"

"Ja."

Beide hielten sich kurz, weil sie jeden Tag dieselbe Frage stellten. Voller Bangen, voller Hoffnung, voller Selbstzweifel, voller Zuversicht.

Sowohl Severus als auch Albus standen wie schon so oft in den vergangenen Tagen am Bett von Aniram. Aus für alle unerklärlichen Gründen war sie von einem Moment auf den nächsten in eine Art Koma gefallen.

Jeder der beiden Männer machte sich Vorwürfe, die sie jedoch zu ihrer eigenen Entlastung so weit weg schoben wie irgend möglich.

Dumbledore seufzte. "Ich weiß nicht, was sie im Moment durchmacht, Severus, aber was ich hier sehe, gefällt mir ganz und gar nicht. Nein, überhaupt nicht."

Severus schwieg dazu. So vieles hatte er über Australien erfahren, manches aus freien Stücken erzählt, manches herausgelockt - aber gerade dadurch war er in der Lage, den Grund für ihren Zustand zu definieren. Er wusste, dass es an den Mauern lag. Ihre Augenfarbe und ihre Stimmung unterlagen in der letzten Zeit einem zu radikalen Wechsel. Von ganz unten nach ganz oben und wieder zurück.

Nach ihrem zweiten Zusammenbruch hatte er es endlich übers Herz gebracht, konkret zu fragen. Doch tun konnte er nichts, solange sie genauso stolz wie stur war und weder darüber reden wollte noch Hilfe erbat. Sein Unterbewusstsein verschob alles auf den nächsten Tag - dem nächsten Tag mit Tränkebrauen, Kaffeetrinken und Geheimnis lüften.

Nun lag sie seit einer Woche im Krankenflügel von Hogwarts und konnte nichts mehr erzählen. Was oder wer war dafür verantwortlich? Er selbst mit seinem nicht zu stillenden Wissensdurst, wodurch er nicht daran dachte, die gemeinsamen Abende zu beenden? Albus fuhr mitten in seine Gedanken.

"Soll ich dich ablösen, Severus? Du musst doch auch einmal müde werden."

Albus machte sich um beide Sorgen, während Severus' Gedanken einzig darum kreisten, weshalb kein einziger seiner Spezialtränke anschlug. Morgen würde er weiterarbeiten und eine neue Zusammensetzung ausprobieren. Er würde sich die Hände wund arbeiten, nur damit sie wieder aufwachte.

Des Nachts war sein Quartier der Krankenflügel, damit ihm nichts entging. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er damit gegen sich selbst verstieß. Aber die Abende ohne sie waren so öde, so langweilig, dass er einfach nicht anders konnte. Ihr Schicksal berührte ihn wider Erwarten mehr, als er es sich in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte.

Erst jetzt bekam er eine vage Vorstellung davon, was sie zu Schuljahresbeginn meinte und lautstark demonstrierte, indem sie Hogwarts im Großen und Ganzen als langweilig, öde und ohne Esprit empfand und bezeichnete.

Er schüttelte den Kopf. "Nein, Albus, schon in Ordnung. Ich bleibe hier, bis sie aufwacht. Ich muss wissen, was dafür verantwortlich ist. Ich mache mir solche Vorwürfe. Scheinbar war die vorgegaukelte Stunde zeitiger viel zu wenig. Vielleicht hätte ich sie nach dem letzten Zusammenbruch überhaupt nicht mehr in den Kerker zitieren dürfen. Doch sie kam freiwillig, verstehst du? Als ich am nächsten Tag in diese Augen schaute, die aussahen, als wäre nie etwas gewesen, bin ich vielleicht leichtsinnig geworden."

Er massierte sich seine Nasenwurzel. "Ich hoffe nur, sie kann reden, wenn sie aufwacht."

Jede andere Überlegung, nämlich die Möglichkeit, dass sie gar nicht mehr aufwachte, zog er gar nicht erst in Betracht. Es war einfach unmöglich. Dieser Springinsfeld musste eines Tages für alle überraschend neben dem Bett stehen. Einfach so.

Albus gab seufzend auf. Er wusste genau, wenn sich Severus etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann blieb es dort bis zur endgültigen Vollendung.

"Gut, aber pass auf dich auf, müde kann ich dich nicht brauchen." Pause. "Auch die Schüler nicht."

Die Antwort kam abwesend. "Ich weiß."

Sie sagte nicht viel darüber aus, wie viel von dem Severus überhaupt erreicht hatte.

Dieser jedoch kümmerte sich wirklich nicht weiter darum und registrierte auch nicht, dass sein Vorgesetzter das Krankenzimmer verließ.

Er fokussierte sich auf Aniram. Sein Unterricht war ohne sie nicht mehr vorstellbar. Es war nicht so, dass sie alles wusste. Nein, sie wusste alles anders und gerade das reizte ihn. Nie gab es etwas auszusetzen an dem, was sie sagte. Mochte es fremdländisch klingen und nur so vor ihm bekannten und - leider - unbekannten Kräutern wimmeln, nie war sie um eine Antwort verlegen.

Das war bei Schülern gleich welchen Hauses äußerst selten. Schon dieses Talent, von dem er durchaus zehren konnte, war beachtlich. Sie hatte einfach Freude an dem, was sie tat. Sein Eingeständnis ging sogar so weit - er war froh, dass er diesen Gedanken mit niemandem teilte - dass er ihre spitzen nicht wahr ohne Sir akzeptierte.

Aufmerksam schaute er in ihr Gesicht. Viel war nicht mehr da von der einstigen Schönheit. Doch, schön war sie auf ihre Weise. Sie hatte ein freundliches und offenes Gesicht, zu freundlich für seine Begriffe, megafreundlich und deshalb in seinen Augen nervtötend und braungebrannt. Ihre Augen strahlten darin wie zwei kleine Sonnen.

In den letzten Wochen? Blässe, Apathie, Abwesenheit und als Fachlehrer erhärtete sich sein Verdacht, dass sie Drogen genommen hatte. Waren sie etwa verantwortlich für ihren jetzigen Zustand?

Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. Nur um weiterzugrübeln. Er dachte über die Worte von Albus nach. Ihm gefiel das, was er sah, genauso wenig. Eben weil sie mit einem solchen Zustand noch nie konfrontiert gewesen waren.

Etwas war aber ganz und gar merkwürdig und passte nicht zu einem Koma, weshalb sie sich auf die Diagnose "eine Art" Koma geeinigt hatten.

Ihr Gesicht arbeitete - stumm und verzweifelt.

Er seufzte und schüttelte den Kopf. Unbewusst streichelte er ihren Unterarm und übermittelte gedanklich vehement einen Satz.

Komm wieder.

Er streichelte weiter auf und ab und war sich dieser Tatsache nicht einmal bewusst. Plötzlich stutzte er, als er auf Widerstand stieß. Auf der Haut? Weshalb hatte das bis heute niemand bemerkt? Kurz vor der rechten Ellenbeuge war er darauf gestoßen.

Vorsichtig schaute er sich um, ob jemand in der Nähe war. Aber Madam Pomfrey kramte lautstark im Hinterzimmer und lieferte sich ein Duell mit ihm, wessen Trank oder Methode wohl schneller oder besser anschlagen würde.

Verstohlen, als ob er etwas Verbotenes tun würde, rollte er ihren Ärmel auf und erstarrte.

Was - war - das?

Eine Tätowierung? Ein Mal? Er dachte an sein eigenes. Er ließ alle Vorsicht außer Acht und war nur noch neugierig. Den Ärmel schlug er vollkommen zurück und holte seinen Zauberstab aus dem Umhang. Für einen kurzen Moment scheute er sich, ihn zu verwenden. Was, wenn diese vielen Obli… Quatsch, sie hatte selbst gesagt, dass sie nicht wirkten. Dennoch beschlich ihn ein ungutes Gefühl.

"Lumos."

Die Spitze des Zauberstabes richtete er auf die Stelle. Es war hell genug, um diese - Erscheinung zaghaft untersuchen zu können. Er wusste selbst nicht, wie er das bezeichnen sollte. Denn was er sah, verschlug ihm den Atem. Dieses Ding sah aus wie ein Blütenblatt, eine Lilie vielleicht. Es sah aus wie verzaubert und ging in die Tiefe. Sie hatte ihm mehr als einmal ein Hologramm gezeigt, so dass er eventuell erahnen konnte, was das war. Trotz allem konnte er sich ein Hologramm in einem Arm nicht vorstellen. Doch das war nicht alles. Um dieses Blütenblatt rankte sich die stilisierte Abbildung einer Königskobra.

Severus war ausgesprochen glücklich darüber, allein zu sein. Er wusste, dank ihr war er schon oft in einem solch sprachlosen Zustand gewesen, aber diese Entdeckung stellte alles in den Schatten. Sie bombardierte ihn zeitgleich mit mehreren Fragen.

Was hatte das zu bedeuten? War sie ein Parselmund? Warum war sie nicht in Slytherin? Hatte das jeder Australier? War sie zu Hause das Mitglied einer Sekte oder Kaste?

Von all diesen Stammesbeziehungen und Wesensverwandtschaften und Traumzeitzeugs einmal abgesehen. Beinahe fühlte er sich überfordert mit diesem Wissen, weil es so ganz anders war. Alles, was je über Australier bekannt geworden war, lag bei ihm. Nun interessierte er sich brennend dafür, ob das Ding auf ihrem Unterarm nun positiv oder negativ zu werten war.

Es gab so viele Fragen, die einer Antwort bedurften. Hatte er wirklich geglaubt, er KENNE Australien? Nur ein ganz klein wenig? Oh nein! Ein kleines, gackerndes Stimmchen schien ihn auszulachen.

Also wurde es wirklich Zeit, dass sie aufwachte. Bis dahin, fand er, hatte er genügend Zeit, sich mit seiner aktuellsten Entdeckung zu beschäftigen. Denn die wohl vordergründigste Frage lautete: Wie war das dorthin gekommen?

Er strich mit dem Finger darüber. Eine Tätowierung konnte es nicht sein, denn diese gehörte zur Haut. Nein, es fühlte sich metallisch an. Den Zauberstab wechselte er in die linke Hand, beugte sich über dieses eigenartige Symbol und versuchte es zu ertasten. Es befand sich tatsächlich unter der Haut. Der Versuch, es zu verschieben, brachte keinen Erfolg. Mit dem Zeigefinger stupste er die Kobra an. Kopfschüttelnd tat er das ein weiteres Mal, nur wesentlich stärker.

Kurz schaute er hoch in ihr Gesicht, ob sie vielleicht etwas bemerkt hatte. Natürlich war ihm klar, dass es sich um keinen Aniram-Aufweckknopf handelte, aber seine Hoffnung erhielt neue Nahrung.

Ihr Gesicht jedoch kämpfte immer noch. Obwohl er keinen gesteigerten Wert darauf legte zu wissen, was dort vorging, hätte er ihr dennoch gern die Hälfte davon abgenommen.

Er startete einen letzten Versuch. Was konnte schon großartig passieren? Mit dem Daumen drückte er darauf.

Um sofort zurückzuzucken.

Sssssssssssssalaaaaajj!

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Aniram hörte den Ruf. Sie wollte antworten. Sie wollte ihren Mund öffnen und Ketano antworten. Aber sie brachte nur ein Wimmern hervor.

Doch obwohl sie unfähig war, sich zu artikulieren, wurde ihrem Innersten in diesem Augenblick klar, dass alles gut werden würde. Sie wusste noch nicht wie und auch nicht wann, aber sie würde Ketanos Ruf folgen, dessen war sie ganz sicher.

Wie von einer schweren Last befreit driftete sie leise seufzend wieder in unergründliche Tiefen ab.

Sie träumte.

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Blitzschnell schlug Severus den Ärmel wieder herunter. Wenn er noch bleicher werden konnte, so hatte er dies eben vollbracht. Das war eindeutig Parsel. Mit Sicherheit hatte er es nicht ausgelöst, aber es lag an dem Ding. Die Verbindung oder gar Funktion war ihm jedoch nicht klar. Im Moment hatte er auch keine Zeit, sich großartig darüber den Kopf zu zerbrechen.

Aniram regte sich - oder sie versuchte es wenigstens. Ihr Gesicht verzog sich noch mehr, als würde sie unter Krämpfen leiden.

"Poppy", donnerte er nach hinten, "sie wacht auf."

Diese kam wie der Wind nach vorn gewuselt und blieb neben dem Bett stehen. Enttäuschung machte sich auf ihrem Gesicht breit.

"Severus, wollen Sie mich veralbern? Ich dachte wirklich, unser Sorgenkind wäre auf. Aber schauen Sie doch selbst."

Mit einem Kopfnicken deutete sie auf Aniram. Dann jedoch nahm ihr Gesicht einen verblüfften Ausdruck an. Bevor sie etwas sagte, schaute sie genauer hin.

"Nein, ich tue Ihnen unrecht. Wirkt das Gesicht nicht, hm, entspannter? Nicht mehr so verkrampft wie die ganze Zeit? Bitte sagen Sie mir, dass ich mich nicht täusche."

Der Angesprochene nahm sich Zeit, um diesen Gesichtsausdruck zu analysieren. Und ja, er hatte jedes Mienenspiel seit einer Woche konzentriert verfolgt und dieses hier war definitiv anders. Zögernd antwortete er.

"Ja, Poppy, Sie haben Recht, es scheint, als ob...", er suchte nach Worten, denn was er sah, ließ sich schlecht beschreiben, "als ob eine Welle darüber geglitten sei und alle Sorgen weggenommen hätte. Ich weiß auch nicht, wie das möglich ist."

Er hatte ihm alles an Snape gekostet, diese Sätze über die Lippen zu bringen.

Madam Pomfrey war weit davon entfernt, um über das Bild, das sich ihr bot, und die Worte zu lächeln. Sie befanden sich in einer Situation, in der sie alle in der Luft ruderten und sich nicht zu helfen wussten. Dennoch - so wie er dastand, die Hand einer Schülerin mit beiden Händen umklammert und seinen Blick in ihr Gesicht gerichtet. Dann noch solche Worte! Von Snape! Undenkbar. Doch in seiner Gegenwart verbot sich Lächeln von selbst.

Ihr Blick wanderte wieder in Anirams Gesicht. Als sie hier in den Krankenflügel gebracht worden war, hatte niemand feststellen können, was ihr fehlte. Nichts und niemand. Vor diesem Hintergrund konnte man dieses entspannte Gesicht, das man jetzt sah, durchaus als Erfolg betrachten.

Ein Sieg über die Krankheit war es noch lange nicht. Wenn es überhaupt eine Krankheit war.

Burschikos zog er einen Schlussstrich unter die Situation.

"Ich werde trotzdem noch hier bleiben."

"Wie Sie meinen, Severus, aber Sie sollten schlafen gehen. Wenn Sie noch weitere Nächte hier durchwachen, kippen Sie genauso um."

"Ihr Mitgefühl weiß ich durchaus zu schätzen, aber machen Sie sich um mich keine Sorgen", knurrte er zurück, wieder ganz der alte.

Seufzend verließ ihn die Krankenschwester. Immerhin war Professor Snape alt genug, um einschätzen zu können, wann die Grenze seiner Kraftreserven erreicht war. Mehr als einmal hatte sie erlebt, dass er nicht auf Ratschläge hörte, also war es nahezu töricht, ihm Vorschriften machen zu wollen.

Allerdings fragte sie sich, wie er das seit Tagen durchhielt. Ständig war er wach. Schon so manches Mal war sie im Glauben gewesen, dass sie ihn erwischte hätte und er eingeschlafen war, aber nein, putzmunter saß er da und starrte auf dieses eingefallene Gesicht.

Wenn sie selbst vor die Wahl gestellt würde, zwischen den beiden Anirams zu entscheiden - der, die zu Schuljahresbeginn hereingeplatzt war und der, die jetzt im Bett lag - würde sie sich ohne zu zögern für den Ding-Dong-Matsch entscheiden. Denn für DAS hier hatte sie kein Mittel.

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Ganz so putzmunter wie Madam Pomfrey vermutete war Professor Snape doch nicht. Kaum waren ihre Schritte verklungen, drehte er sich vorsichtig um und fischte eine Phiole aus seinem Umhang. Grübelnd schaute sie an.

Dann warf er einen Blick auf Anirams Gesicht. Unter die Hellseher war er noch nicht gegangen, doch er schätzte, dass sie jetzt ruhiger und entspannter schlief. Demzufolge könnte er sich vielleicht auch ein Schläfchen gönnen, ein ganz kleines.

Damit er auch bemerkte, wann sie aufwachte, legte er seine Hand auf ihre und machte es sich so gut es ging auf dem Stuhl gemütlich. Es dauerte nicht lange und er war eingeschlafen.

Er träumte.

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Ein Traum im klassischen Sinne war es bei beiden nicht. Selbst Aniram, die mit der Materie vertraut war, würde in wachem Zustand dieses Erlebnis nicht definieren können. Severus hingegen, wach, halbwach oder schlafend, würde sich lediglich wundern. Nach und nach schälte sich eine merkwürdige Situation heraus.

Aniram nahm an seinen Träumen teil, er an ihren. Durch die Tatsache, dass er seine Hand auf ihre gelegt hatte, hatte Severus eine einzigartige Verbindung geschaffen.

Anfangs war es wie ein zähes Hin- und Herwabern, mehr ein Vorwärtsdrängen auf der einen und gleichzeitiges Zurückweichen auf der anderen Seite. Das ging eine Weile so und keiner der beiden Träumer bemerkte, was eigentlich geschah.

Urplötzlich griffen die Träume ineinander wie ein Zahnrad in das andere. Sie überlagerten sich und kurz darauf bildeten sie eine Einheit.

Nun war es EIN Traum, den sie gemeinsam träumten; EINE Erinnerung, die sie gemeinsam durchlebten. Sie schauten träumend in die Gedanken des anderen und lasen darin wie in einem offenen Buch.

Sie befanden sich in einem Zustand, den Severus vor nicht allzu langer Zeit als "Traumzeit" bezeichnet hätte.


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Elender, ignoranter Kerl! Aniram war dermaßen wütend, dass sie alles um sich herum vergaß. Sie hatte nur ein Ziel, das ihr in ihrer augenblicklichen Verfassung ein klein wenig Erleichterung verschafften konnte. Den Astronomieturm. Sie sollte sich rausscheren. Pah! Liebend gern scherte sie sich. War sie wirklich so naiv gewesen zu glauben, er könnte ansatzweise verstehen, wenn sie ihm das Wichtigste von Australien darlegte?

Was hatte sie denn im Gegenzug über Europa und Hogwarts erfahren? Ihre Vermutung, in der Steinzeit gelandet zu sein, wurde um Längen von der sehr realen Feststellung getroffen, dass es im Grunde genommen das finsterste Mittelalter war. Die Leute kümmerten sich nur um sich selbst, ließen andere links liegen und schwangen auf einer emotionalen Stufe, die Aniram unbekannt war. Alles hatte sie sich vorgestellt, aber das bestimmt nicht. Dämlicher Portschlüssel! Dämlicher Vater! Musste er unbedingt Erfinder sein? Warum erfand er kein automatisches Klo? Darum würden sich nicht so viele Leute reißen wie um diesen Scheiß-Portschlüssel.

Schnaufend kam sie oben an und ließ sich an der Wand hinab gleiten. Entsetzt stellte sie fest, wie sehr ihre Artikulationsfähigkeit in den letzten Wochen gelitten hatte. Es gab kein Problem in der Kommunikation an sich, das Wie war ausschlaggebend. Davor scheute sie zurück - normalerweise.

In der letzten Zeit jedoch, als das Krokodil- und Mangoessen, das Singen und Fechten und Kreuzen auf Pergamenten nichts mehr hergab, hatte sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als ihre angestauten Emotionen über dieses unfeine Wort abzuleiten.

Das Kaffeetrinken musste sie ihm zugute halten. Mit hängenden Schultern atmete sie tief ein und aus und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Hogwarts auf einmal keine Mauern mehr hatte und der Unterricht auf dem Rasen stattfand. Selbst wenn es regnen sollte, gab es dafür Deckenzauber.

Mittlerweile war es auch schon empfindlich kalt und sie wusste nicht, ob das eine so gute Idee war, hier oben unter freiem Himmel auf den Steinen zu hocken. Wenn sie sich verkühlte, dann würde das wahrscheinlich nur sie allein etwas angehen und sonst niemanden. So ein armseliger Verein. Was wünschte sie sich die Sonne und die Wüste Australiens her. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, die anderen, seien es nun Lehrer oder Schüler, mit einem Illusionszauber zu schockieren. Oh ja, fast winterliche Temperaturen - sie empfand sie als arktisch - und krachend heiße Sonne. Unwillkürlich musste sie kichern.

Aber nicht lange, denn sehr schnell wurde sie wieder ernst. In ihrer augenblicklichen Verfassung war JEDER Zauber eine Doppel- wenn nicht gar Dreifachbelastung. Es war gut, dass die Lehrer nicht wussten, was sie von ihr verlangten. Sie würden wahrscheinlich um die Nase herum ein wenig blass werden. Genauso blass wie ihr Freund Severus.

Noch vor kurzem hatte sie geglaubt, einen Wesensverwandten gefunden zu haben. Sie dachte daran, wie deutlich sie seine Gedanken empfangen konnte. Wie glasklar seine Empfindungen waren. Dass es eine Verbindung zwischen ihm und ihrem Zauberstab gab. Ein deutlicheres Zeichen konnte ihr nicht mehr gegeben werden.

Sie versank in eine dumpfe Grübelei, die sich ausnahmsweise einmal darum drehte, ob sie morgen wieder an ihrem Trank arbeitete oder nicht. Eigentlich scheute sie sich nicht, die offene Konfrontation zu suchen - im Gegenteil, je heftiger ein Gewitter unter den Betreffenden, desto reiner war die Luft hinterher. Aber eine Stimme in ihrem Inneren suggerierte ihr, dass Severus wohl doch nicht so ganz das war, was sie für sich erhofft hatte. Dabei lag es doch so offensichtlich auf der Hand. Nämlich dass er genauso seelisch litt, wenn auch auf ganz andere Art und Weise. Aber er litt.

Einmal hatte sie ihn darauf angesprochen und seine Reaktion war überhaupt nicht wie erwartet ausgefallen. Aniram wusste nicht, ob sie dieses Wagnis noch einmal eingehen sollte. Was aber sollte schon groß geschehen außer dass er sowohl versuchen würde als auch in der Lage war, ihr ob dieser Dreistigkeit den Kopf abzureißen? Eben, gar nichts.

Überdeutlich spürte sie die Grenzenlosigkeit hier oben. Sie war sogar wieder in der Lage, ganze Sätze zu bilden. Obwohl ihr nicht danach war, umspielte ein leichtes Lächeln ihre Lippen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich erhob und in den Schlafsaal schlich.

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Wäre der Kerker leer genug gewesen, um uneingeschränkte Bewegungsfähigkeit zu bieten, hätte er an diesem Abend seinen Herrscher etwas ungewöhnlich erlebt. So aber blieb Professor Snape nichts anderes übrig, als vor den ersten Bankreihen wie ein gereizter Säbelzahntiger hin- und herzulaufen.

Sein Hirn arbeitet. Es drehte sich sogar einmal um sich selbst mit atemberaubender Geschwindigkeit. Hätte er es nicht anders gewusst, dann würde er sagen, dass ein perfider Plan dahinter steckte. Am Tag zuvor legte ihm Albus nahe, darüber nachzudenken, Obliviate eventuell nicht mehr einzusetzen und ungefähr zwölf Stunden später wurde er mit genau diesem Eiswasser übergossen. Er fühlte sich grauenvoll.

Pah, sie wollte fair sein. Erwartete sie jetzt, dass er zu Kreuze kroch, weil sie doch über all die Wochen alles schön für sich behalten hatte? Wütend versetzte er einem der Tischbeine einen ordentlichen Tritt.

"Warum?", schrie er den Tisch an.

Wie zur Antwort öffnete sich seine Tür. Er hielt es für unnötig, sich zu versichern, wer sein später Besucher wohl war. Es konnte nur einer sein. Wenn jetzt schon wieder eine von Handreiben begleitete Frage kam, wie denn der Abend gelaufen war, würde er sich vergessen. Ausnahmsweise. Ein leises Räuspern veranlasste ihn, sich umzudrehen.

Professor Dumbledore zuckte zurück. Das war ein Blick, der konnte nichts Gutes heißen. Beinahe fühlte er sich wie aufgespießt. Für den Augenblick eines Lidschlags rang er um Fassung, bevor er zu einer Frage ansetzte - die diesmal gänzlich anders geartet war.

"Was ist mit dir?"

Sie war kurz und prägnant und in seinen Augen dafür geeignet, den anderen zum Sprechen zu bewegen.

Severus verkniff sein sonst so unbewegtes Gesicht.

"Nichts. Es geht mir blendend. Miss Hawkwing hat mir heute Abend eröffnet, dass dieser dämliche Zauber bei Australiern Zeitverschwendung ist. Sie faselte noch weiter, aber du wirst sicherlich verstehen, dass ich danach nicht mehr in der Lage war, ihr meine vollste Aufmerksamkeit zu widmen."

Nach diesen doch ziemlich ruhigen Worten verwandelte sich Severus in fleischgewordenen Sarkasmus.

"Mit ihrem einzigartigen Charme richtete sie an mich die Frage, ob ich sie denn nun weiterhin obliviatisieren möchte oder nicht. Sie bezeichnete mich sogar ziemlich ungehalten als "Mensch". Oh nein, wundervoll, Albus, mir geht es wirklich prächtig."

Während dieser Worte war er auf Albus zugegangen und blieb vor ihm stehen. Dieser erschrak, als er nun regelrecht angebrüllt wurde.

"Kannst du dir in etwa vorstellen, wie ich mich fühle?!"

Sein Blick war unergründlich und stechend.

Albus war sprach- und fassungslos. "Das... das ist unfassbar, Severus. Sagte sie, warum sie es dir sagen wollte?"

"Weil sie fair sein wollte." Snapes Kiefer mahlte. "Jetzt entschuldige mich bitte, ich bin müde und möchte ins Bett."

Seine Worte entsprachen nicht ganz der Wahrheit - im Gegenteil, vom Müdesein war er meilenweit entfernt. Er konnte und wollte jetzt niemanden und nichts in seiner Nähe haben.

"Natürlich, gute Nacht."

Albus' Verlassen des Kerkers glich einer Flucht.



Kapitel 27 - Nerven


Für Aniram war es eine der unruhigsten und quälendsten Nächte, die sie je in diesem Horrorschloss verbracht hatte. Zum ersten Mal, seit sie hier hereingeplatzt war, wurde sie von Unsicherheit geplagt. Ganz einfach, weil sie nicht wusste, wie es nun weitergehen würde oder weiterzugehen hatte. An seinen gestrigen Befehl, sich aus dem Kerker zu scheren, hängte sich keinesfalls das Verbot, tags darauf mit dem Tränkebrauen fortzufahren.

Die Logik sagte ihr, dass es ihr Trank war - und zwar so lange, bis er seine Meinung umstieß. Mit derselben Logik entschied sie sich dafür, ihn einfach mit einer simplen Frage - obwohl sie wusste, was simple Fragen bei ihm auslösen konnten - zu konfrontieren. Immerhin ging es diesmal lediglich um die Frage zu einem Trank und nicht zu seiner Person. Aniram hoffte nach wie vor, dass er wenigstens dazu klipp und klar Stellung bezog und sie endlich wusste, woran sie war.

Aus vielerlei Gründen hoffte sie, dass er das tun würde. Leicht würde es ihm sicherlich nicht fallen. Dazu hatte er sich zu gut eingekapselt, das hatte sie bereits nach zwei Wochen registriert. Er öffnete sich nichts und niemandem.

Doch noch war sie nicht bereit aufzugeben. Ganz uneigennützig und doch ein klein wenig egoistisch, weil sie hier allein auf weiter Flur und ihr Mentor noch weiter weg war, wünschte sie sich um ihrer beider Seelenheil, dass er das Essentielle mit seinen Fledermausohren aufgeschnappt und auch die richtigen Schlüsse gezogen hatte. In ihrer Verärgerung hatte sie ihm diesbezüglich vollkommenes Unvermögen unterstellt, doch sie hatte ihn auch schon anders kennen gelernt.

Auf die Gefahr hin, dass er selbst es nicht wollte: ihr Zauberstab hatte sich für ihn entschieden.

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Als sie am Morgen aufstand und sich für den Unterricht fertig machte, dachte sie mit einem Anflug von leicht panischer Ironie, dass eine garstige Person ihr Gefühlschaos an genau diesem Tag vorhergesehen haben musste. Vielleicht hatte er es gar so lange vorausgeplant? Anders konnte sie sich nicht erklären, dass beim Blick auf den Stundenplan das Fach Zaubertränke fehlte. Demzufolge sanken ihre Erfolgschancen gegen Null, um seine Stimmung auszuloten. Sie hätte ihn schon anschauen müssen, um zu erkennen, ob er auf ihre Anwesenheit Wert legte oder nicht.

Dass er zu den Mahlzeiten fern blieb, fand Aniram nicht weiter erstaunlich. Es war keine Seltenheit, dass er an der Tafel fehlte. Ob er sich etwas "bei sich" servieren ließ? Vielleicht von Pyro? Der Gedanke an den kleinen, schlabberigen Hauselfen lenkte ihre Gedanken prompt zu ihrem Vorhaben, die Küche zu suchen.

Für Aniram war es belanglos, dass Hauselfen die einzig magischen Wesen und so weiter waren, die in Hogwarts und so fort konnten. Sie fand einfach nur die Möglichkeit interessant und faszinierend, sich mit ihnen unterhalten zu können. Auch wenn sie die Erfahrung gemacht hatte, dass sie sich nicht gern mit Menschen unterhielten. Warum eigentlich?

Bis zur Strafarbeit - ihre Mundwinkel zuckten, wenn auch halb so amüsiert wie noch vor einigen Wochen - war noch etwas Zeit und so machte sie sich auf den Weg, die Küche zu suchen. Wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte, das wusste sie nicht. Ihre Mitschüler zu fragen hielt sie für genauso zwecklos, denn sie gingen eigene und recht merkwürdige Wege. Zur diesen Merkwürdigkeiten zählte durchaus, dass sie sich alle unisono benahmen. Niemand tanzte aus der Reihe, alle taten dasselbe. Ein solches Verhalten konnte nicht einfach nur damit zusammenhängen, dass man Angst vor Punktabzug hatte.

Ihrer Erziehung und ihrem Credo gemäß, das sich nicht nur auf Ausprobieren auf Teufel komm raus beschränkte, sondern durchaus auch den Wissensaustausch enthielt, wollte sie alles an anders gearteter Magie, an Wissen und Teilwissen mitnehmen, was sich ihr bot. Das tat jeder und in der abendlichen Unterhaltung tauschte man sich aus. Denn manch einer hatte von Angelegenheiten gehört, die den anderen verschlossen geblieben waren. Was lag also näher, als diese Erfahrung zu teilen?

Sie schüttelte sich wie ein Hund, den man aus reiner Boshaftigkeit ins Wasser geworfen hatte. Hier drehten sich die abendlichen Unterhaltungen um Punkte. Mittlerweile war sie jedoch weit davon entfernt, das Ganze zu belächeln.

Eine Lektion hatte sie inzwischen verinnerlicht - Punktabzug bedeutete Krieg. Alle gegen eine. Aniram konnte nicht aufhören, sich ununterbrochen zu schütteln. Es war ihr gleich, was andere dachten, die in diesem Augenblick an ihr vorbeiliefen. Sie wusste, niemand würde sie je ansprechen und nach dem Warum fragen.

Seufzend klapperte sie das ihr bekannte Terrain um die Große Halle herum ab. Dieses Schloss schien jedoch über eine Seele zu verfügen und ihre Missgunst ihm gegenüber zu spüren, denn es hatte sich gegen sie verschworen und zeigte ihr einfach keinen Weg in die Küche. Absolut nicht. Der Abend begann wirklich wundervoll.

Aniram rauschte der Grauen Dame über den Weg, die sie mit hochgezogenen Brauen ansah. Diese Mimik erinnerte sie dermaßen an Professor Snape, so dass sie nicht wusste, ob sie lachen oder weinen sollte. Zum Wundern blieb ihr keine Zeit, denn der Geist war schon wieder mit einem vorwurfsvollen Kopfschütteln entschwunden. Hatte sich etwa gar der Hausgeist gegen sie gestellt?

Seit wann verhielten sich Geister so merkwürdig? Was hatte das Kopfschütteln zu bedeuten? Ein Blick auf ihre Uhr ließ sie erstarren. Zwar spürte sie die räumlichen Zwänge noch nicht wieder, diesmal jedoch schien ihr die Zeit einen Streich spielen zu wollen. Es war unumstößlich Besuchszeit.

Schaudernd zog sie ihren Umhang enger an sich. Ihr Weg hatte sie doch unmittelbar nach dem Abendessen in Richtung Küche geführt. In Richtung Pyro. Es konnte unmöglich sein, dass sie beinahe zwei Stunden hier herumgeirrt war. Davon leicht verwirrt nahm sie sich vor, das morgen zu erledigen und schwenkte in eine nun wirklich bekannte Richtung.

In der augenblicklichen Situation wusste sie nicht, ob Anklopfen angebracht war oder nicht. In der letzten Zeit war sie einfach eingetreten. Prüfend schaute sie Magdalena an, deren Miene sie leider absolut nichts entnehmen konnte, und trat nach einem aufmunternden Schulterzucken ohne zu klopfen ein. Aniram lief bis zur ersten Bank. Erst hier stockte ihr Schritt und sie schaute in seine Richtung.

Professor Snape, der sich gerade über die Korrekturen gebeugt hatte, machte sich nicht die Mühe aufzusehen. Egal, was Albus wollte, er würde unaufgefordert sprechen. Wer wusste schon, wie Dumbledore einen herzhaften Tritt an die frische Luft interpretierte. Sofern ihm dies bis auf gestern Abend überhaupt schon einmal widerfahren war.

"Nimm Platz."

Unwillkürlich schoss Aniram in den Sinn, ob ihr Geständnis vielleicht einen irreparablen Schaden in seinem Gehirn hinterlassen hatte. Nichtsdestotrotz kam sie seiner Aufforderung nach.

Etwas war falsch. So vollkommen falsch. Statt des erwarteten violetten Umhangs saß ihm gegenüber ein schwarzer Umhang. Mit zuckender Nase kam sein Gesicht nach oben und er schaute IHR ins Gesicht. Er war sprachlos. Hatte sie wirklich die Stirn, nach dem gestrigen Desaster wieder hier aufzutauchen? Und seit wann war sie stumm? Hatte sich doch jemand erbarmt und ihr die Stimmbänder herausoperiert? Seine Augen wurden schmal.

Voller Unbehagen legte Aniram ihren Kopf von der einen auf die andere Seite. Dabei beschäftigte sie nur der Gedanke, ob ihr Gegenüber noch alle Tassen im Schrank hatte.

Eine ganze Weile, die beiden wie eine Ewigkeit vorkam, sagte keiner ein Wort.

Sie schwiegen und starrten einander an wie die Schlange das Kaninchen. Wer von beiden was verkörperte, wurde nicht deutlich. Beide stierten gleich intensiv.

Schließlich brach es mit Urgewalt aus ihm heraus.

"Sie haben vielleicht Nerven!"

Mittlerweile war Aniram an wirklich seltsame Feststellungen gewohnt, aber das war selbst ihr zu viel. Deshalb antwortete sie auch mit einer Frage.

"Habt ihr Europäer denn keine?"

Weniger die Frage selbst, sondern mehr der Tonfall, mit der sie hervorgebracht wurde und die damit verbundene alte Vertrautheit brachten Severus vollkommen aus dem Konzept. Zu anderen Zeiten, in anderen Momenten hätte er durchaus der Versuchung nachgegeben, sich ein Grinsen zu leisten. Auch auf die Gefahr hin, dass diese Spalte überquoll.

Aniram dagegen zuckte leicht verhalten mit den Schultern. "Ist doch so. Ich glaube beinahe, dass ihr wirklich keine habt, sonst würde sich niemand so an diesen dämlichen Punkten hochziehen."

"Diese dämlichen Punkte, Miss Hawkwing, existieren seit tausend Jahren und fördern den friedlichen Wettstreit unter den Häusern."

Verzückt klatschte Aniram in ihre Hände. "Ich frage Sie mal ernsthaft - WO in Kunapipis Namen herrscht hier ein friedlicher Wettstreit? Wenn ich daran denke, dass ich schon drei Mal geköpft, zwei Mal aufs Rad geflochten und ein Mal gevierteilt wurde, und das noch von Leuten meines eigenen Hauses, einzig und allein wegen dieser besch... eidenen hundert oder zweihundert Punkte, die der Meister mir abzuziehen beliebte, dann wird mir ganz einfach schlecht. Das ist nicht normal. Dann ist von mir aus Hogwarts seit tausend Jahren nicht normal."

Selbstgefällig, weil sie mit diesem Urteil äußerst zufrieden war, und trotzig lehnte sie sich zurück.

An der Normalität von Hogwarts zu zweifeln, das konnte er nicht zulassen. Er setzte zu einer geharnischten Antwort an.

"Sie schneien einfach so...", weiter kam er jedoch nicht, denn urplötzlich schoss sie wie ein Giftpfeil auf ihn zu.

"Seit wann bin ich denn wieder Miss Hawkwing?"

Es verbarg sich nichts weiter als Neugier hinter ihrer Frage. Wirklich nicht.

‚Eigentlich, Sev, müsstest du diesen Zirkus kennen. Immer und überall das letzte Wort. So und nicht anders präsentiert sich dieser australische Taifun seit Schuljahresbeginn.'

Seine Kiefer mahlten und er überlegte, ob und wie er sie zur Räson bringen konnte. Mehr als einmal war er in den Genuss gekommen, festzustellen, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war. Dennoch, ihm einfach das Wort abzuschneiden, nach gestern Abend noch dazu, so als wäre nichts gewesen, nein, das ging nicht.

"Ich empfände es als ausgesprochen höflich, wenn Sie mich meinen Satz vollenden lassen würden. Ich nenne Sie, wie ich will und jetzt ab."

Mit seiner Feder deutete er energischer als geplant auf den Kessel. Nur leider hatte er sie vorher ins Tintenfass gehalten.

Aniram ergriff die Flucht. "Na aber hallo, ich muss mich erst mit Kandinsky besprenkeln, bevor Sie mir Tinte ins Gesicht schütten, Severus."

Die Welt war so ungerecht. Er verbarg sein Gesicht so gut es ging, indem er die Stirn in seine aufgestützte Hand legte. Vom irren Glauben besessen, sie machte sich auf und davon. Dass sie allerdings ihren Kopf auf den Schreibtisch legte und sich vorwärts schob, um von unten in sein Gesicht zu linsen, veranlasste ihn dazu, ergeben die Augen zu schließen und zu seufzen. Alles, nur nicht lachen, zucken oder grinsen!

Zufrieden mit sich und der Welt wandte sich Aniram dem Arbeitstisch zu. Er konnte - aber wollte nicht. Im Gegensatz zu seinem starren Gesicht ging ihres immer mehr in die Breite.

Wie viel Zeit vergangen war, wusste sie nicht, als sie plötzlich und absolut ohne Vorwarnung von Krämpfen geschüttelt wurde. Den letzten und merkwürdig klaren Gedanken, den sie noch fassen konnte, war schlicht und einfach der, dass sie nicht noch einmal dasselbe erleben wollte wie bereits einmal. Einfach hier zusammenzusacken.

Die beschleunigte Atmung ließ ihn alarmiert aufstehen. Ein schneller Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er oder besser gesagt sie noch im Limit lag. Vorsichtig näherte er sich ihr, legte seine Hand auf ihre Schulter und drehte sie zu sich herum. Es bot sich ihm ein Anblick, der ihm seltsam vertraut war. Nur dass es diesmal schlimmer zu sein schien.

Vorhin hatte er beschlossen, einfach auf ihren Ton einzugehen. Vereinfacht bedeutete das: sie ihre Arbeit machen zu lassen. Sehr ungern wollte er sich mit der Frage beschäftigen, weshalb sie die Stirn hatte, hier aufzukreuzen, als sei nichts gewesen. Nach ihrem Rauswurf hatte er selbstverständlich erwartet, dass sie am heutigen Abend mit Abwesenheit glänzte.

Doch gleich, was er ihr befohlen hätte oder nicht, sie gehörte nach seiner bisherigen Analyse ihrer Person zu der Sorte Mensch, der sich offenbar seine eigenen Gesetze machte. Und wieder kam er nicht umhin, sich zu fragen, inwiefern dies auf alle Australier zutraf.

Also hatte er sie arbeiten lassen. Ungewohnt still. Und er hatte ungewohnt ungestört Arbeiten korrigieren können. Jetzt hing sie mit geschlossenen Augen schlaff in seinen Armen. Schon wollte er sie kurzerhand wie schon einmal vors Schloss tragen, als sie sich rührte.

Da war auf einmal Wärme, die ständig stieg. Sie fühlte sich wundervoll geborgen. Sie wusste, dass nichts passieren konnte. Woher dieses Wissen kam, hätte sie nicht sagen können. Aniram fühlte sich wie eingeklemmt zwischen Raum und Zeit und starke Arme verhinderten, dass sie davon gerissen wurde. Wenn nur diese unerträgliche Hitze nicht wäre!

"Fenster." Es war eine Mischung aus Krächzen und Flüstern.

Severus dachte, dass das eigentlich eine gute Idee war. Denn der Weg dorthin war beileibe nicht so weit wie der vor das Schloss. Ohne größere Umschweife hob er sie hoch und trug sie zum Fenster. Nachdem er es geöffnet hatte, brachte er ihr Gesicht an diesen kleinen Ausschnitt und hielt sie mit sicherem Griff.

Einer Ertrinkenden gleich, die verzweifelt an die Oberfläche schwimmen wollte, langte Aniram mit den Händen nach den Gitterstäben. Ihr Gefühl, in einem Gefängnis zu hocken, verstärkte sich dadurch noch. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte sie nach Luft und die Kälte tat ihrem erhitzten Gesicht gut.

Sie merkte, wie sich alles langsam normalisierte. Obwohl es ungewöhnlich lange dauerte, bis sie einigermaßen klar denken konnte. Viel zu lange. Sie war sicher, dass das am von ihr vielleicht leichtsinnig eingesetzten "Heilmittel" lag. Im Normalfall war es ja auch kein Heilmittel. Aber für kleine Australier in ihrer Situation der einzige Rettungsanker.

Aniram hatte nicht viel Federlesens gemacht. Sie hatte für den Moment eines Lidschlags zwischen Leben oder Tod zu entscheiden gehabt. Ihrem Leben oder Tod. Schlimmer konnte es nicht mehr werden. Dachte sie. Glaubte sie.

Sie pumpte die kalte Nachtluft in ihre Lungen, als wäre jeder Atemzug der letzte. Wenn sie nicht gehalten werden würde, dann hätte sie wohl kaum die Kraft, sich an den Stäben festzuhalten.

Das Geräusch wie das eines tosenden Wasserfalls, der ihre Ohren plagte, wurde allmählich schwächer, bis es irgendwann ganz verschwand. Sie bemerkte, dass sich ihre Organe beruhigten und an Ort und Stelle zurückkehrten. Das Herz schlug langsamer und gleichmäßiger und die Übelkeit zog sich in finstere Gefilde zurück. Endlich, endlich war es an der Zeit, in sich zusammenzusacken - wie von einer großen Last befreit und mit klareren Augen als noch vor wenigen Minuten.

Severus stand unter dem Fenster und hielt sie wie eine Puppe im Arm. Eigentlich wusste er überhaupt nicht so richtig, was er tat, zumal er ihr Gesicht nicht sehen und demzufolge keine Reaktionen ausmachen konnte. Obwohl er schon so oft Zeuge davon geworden war, erschreckte es ihn dennoch, wie schnell ihr Zustand, für den er nicht einmal einen Namen hatte, umschwenken konnte.

Als das Zittern nachließ und sie in seinen Armen zusammenfiel, nahm er sie herunter. Er stellte sie auf ihre Beine und schaute ihr prüfend in die Augen. Es schien ihr besser zu gehen, sofern er das beurteilen konnte. Das traute er sich schon zu, weil er es bereits drei Mal erlebt hatte. Einmal hatte er sie nach draußen getragen, ein Mal hatte er sie einfach hinausgeschickt, als sie am Boden hockte und beinahe hysterisch kreischte. Beim ersten Mal war es gar nicht erst so weit gekommen. Aber jedes Mal begann es mit einem Zittern, beschleunigter Atmung, mit unkontrollierter Artikulation…

‚Oh Sev, du machst große Zugeständnisse. Unkontrollierte Artikulation ist eine zu schwache Definition dafür. Sie hat dir einen Rüffel verpasst wie noch nie jemand zuvor. Außerdem hat sie dich mit einem demolierten Versuchsaufbau zurückgelassen. Alles schon vergessen?'

‚Das war beim ersten Mal.' Snape versuchte, gegen den guten Kerl in ihm anzukommen. Leider nur mit mittelmäßigem oder gar keinem Erfolg.

‚Na wenn schon', höhnte Sev weiter, ‚aus der Patsche hast du ihr jedes Mal geholfen.'

Er war drauf und dran, wütend gegen die Wand zu rennen. Dieses Mädchen brachte ihn an den Rand seines eiskalten und rationalen Verstandes. Er war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass sie Seiten in ihm geweckt hatte, die er für vergraben, für nicht existent gehalten hatte. Aber die Tendenz, die er in der letzten Zeit ausgemacht hatte, war zweifelsohne vorhanden. Eine Tendenz, die ihm als Lehrer absolut nicht behagte, als Mensch jedoch sehr berührte. Er schüttelte den Gedanken ab.

"Kaffee?"

"Wäre fantastisch."

Wenn sie das fand, dann war es das auch. Aber er zögerte, sie einfach so loszulassen. Kurzerhand bugsierte er sie auf den Stuhl, den er ihr angeboten hatte. Albus angeboten hatte. Merlin, wurde er auch schon alt? Er schüttelte kurz mit dem Kopf und es dauerte nicht lange, bis das Lebenselixier schlechthin vor ihnen auf dem Tisch stand.

Aniram war zwar noch etwas wacklig, aber sie griff dennoch nach der Tasse.

Während des Trinkens herrschte Stille und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Bis er sich dazu entschloss, das Schweigen zu brechen.

"Wo waren Sie denn gestern Abend, als ich Sie rausgeschmissen habe?"

Weiter als nötig riss Aniram die Augen auf. "Auf dem Astronomieturm, wo sonst?"

Sie brachte das mit einer Selbstverständlichkeit vor, als ob es auf und in Hogwarts zwischen Kerker und Ravenclaw-Turm keine andere Aufenthaltsmöglichkeit gab.

"Und Obliviate ist nutzlos?"

Immer noch voller Unglauben stellte er diese Frage.

Aniram legte den Kopf schief.

"Ja klar, wenn ich sage, er ist nutzlos, dann ist er das tatsächlich. Warum bohren Sie immer noch nach? Können Sie nicht ein einziges Mal einen Fakt als gegeben hinnehmen? Im Unterricht erwarten Sie doch auch von den Schülern, dass sie Ihnen alles abkaufen."

Gegen diese Frechheit wollte er aufbegehren, als er sich urplötzlich den linken Arm rieb. Der Schmerz war ohne Vorwarnung aufgetreten. Natürlich, dachte er ironisch, seit wann gab es Vorwarnungen? Hatte er wirklich geglaubt, sich in Sicherheit wiegen zu können, nur weil er monatelang nichts gespürt hatte? Nicht gerufen wurde? Für einen Augenblick blieb er rat- und sprachlos zurück. Er vergaß schlichtweg zu antworten. Dann, ohne auf ihre letzten Bemerkungen einzugehen, durchzuckte ihn eine Erkenntnis.

"Wenn Vergessenszauber und ähnlicher Plunder nutzlos sind, wieso kennen Sie dann überhaupt welche? Von wegen, Sie hängen mir einen an, den ich nicht mal kenne?"

Diese Frage brachte er mit einem teils zweifelnden, teils nachdenklichen Ton hervor.

"Die Antwort steckt doch schon in Ihrer Frage, oder?"

Aniram beschloss, es dabei zu belassen, denn nichts lag ihr jetzt ferner, als ausufernde Erklärungen abzugeben.

"So genau wollte ich das gar nicht wissen", fuhr er gereizt auf. Es frustrierte ihn außerordentlich, dass sie anscheinend beschlossen hatte, sich im Gegensatz zur letzten Zeit ab heute in Schweigsamkeit zu hüllen. Zu gern hätte er in Erfahrung gebracht, wie ein australischer Vergessenszauber aussah. Es war schon sehr eigenartig, dass sie einerseits erklärte, immun gegen Obliviate und Amnesia zu sein, andererseits jedoch trotzdem irgendeinen Spruch dafür hatte.

Aniram zuckte mit den Schultern und nickte in Richtung seines Armes, den er immer noch massierte, ohne es zu bemerken.

"Was tun Sie da eigentlich? Woran denken Sie?"

"Ich wärme mich auf, was sonst." Sein Tonfall war eine Spur bitterer und zynischer als gewollt. Ach was, gewollt. Gegen dieses Bollwerk kam er ohnehin nicht an und dieses Wissen machte ihn rasend.

"Was ich denke, hat Sie nicht im Mindesten zu interessieren." Mit diesem Satz widmete er sich wieder seinem Kaffee. Der war ihm vertraut. Er war schwarz. Er war heiß. Er war stark.

"Trotzdem hab ich das Gefühl, dass Sie sich irgendwo weit weg befinden. Sie empfinden großen seelischen Schmerz und erzählen Sie mir jetzt ja nicht, dass ich damit hoffnungslos falsch liege. Ihre Reaktion damals ließ durchaus darauf schließen. Ich kann Ihnen helfen. Ich will Ihnen helfen."

Aniram setzte alles auf eine Karte. Vielleicht hatte sie zu lange gewartet. Gleich am nächsten Tag, nach seiner Schilderung, wie sich ihr Zauberstab in seiner Hand angefühlt hatte, hätte sie ihn damit überrennen sollen. Leider war es nie wieder zu solch tief schürfenden Gesprächen gekommen. Dass sie damit zugleich das tiefste Geheimnis wie ein Marktschreier anpries, dessen war sie sich gar nicht so richtig bewusst.

"Was hat Sie mein Schmerz zu interessieren? Mir gefällt es einfach, mir den Arm zu reiben. Ich sehe keinen Grund, warum Sie schon wieder mit dieser Schmerzteilungsattacke kommen sollten. Überhaupt", höhnte er weiter, "was wissen Sie von Schmerz? Sie sind gerade mal Sechzehn und wollen wissen, was sich hinter SCHMERZ verbirgt?"

"Ja. Vielleicht mehr als Sie denken."

Dunkelheit zog vor ihrem inneren Auge auf und am liebsten wollte sie alles weit weg schieben, aber das ging nicht. Nein, dafür hatte sie nicht gekämpft und sich erfolgreich aus den Klauen der Dämonen befreien können. Dafür hatte sie sich nicht voller Stolz in den Sand gekniet, um die Zeremonie zu empfangen. Dafür hoffte sie nicht, von ihm Hilfe zu bekommen.

Severus wollte nicht, dass das Gespräch in eine solche Bahn lief. Es behagte ihm einfach nicht. Über Tränke konnte man reden, über Australien konnte man sich berieseln lassen und einfach zuhören, aber sein Innerstes ging keinen Menschen etwas an.

"Papperlapapp", hielt er dagegen, "das kann ich mir nicht vorstellen. Niemand kennt das, was ich kenne."

Damit war das Thema für ihn abgeschlossen.

Für Aniram hingegen begann die Diskussion eben erst. Wütend knallte sie den Kaffeebecher auf den Schreibtisch und sprang auf.

"Ah, ja? Keiner windet sich so in Schmerz wie der Meister persönlich? Ich habe das Gefühl, Sie gefallen sich in der Rolle des einsamen Wolfes, Sie genießen Ihre Agonie und spricht das irgendjemand an, dann sind nur Sie allein für solche Nichtigkeiten prädestiniert, oder? Nur Sie kennen Schmerz. Eine solche Auffassung ist lächerlich."

Er fuhr genauso hoch. "Ich will nichts mehr hören von diesem Schmerzgebrabbel, verstanden? Du weißt nicht, was das ist!"

"Halt die Klappe und sprich nicht über Dinge, über die du dir kein Urteil anmaßen kannst!"

Ihre Stimme bebte vor Wut. Während dieser Worte hatte sie ihren Zauberstab in seine Richtung geschwungen. Eine Bewegung, die ihn glauben ließ, dass am Zauberstab noch eine Peitsche hing.

Es dauerte einige Zeit, bis er vollkommen registrierte, dass er nicht mehr stand, sondern wieder saß. Dass die Wucht ihn von seinem Schreibtisch an die Wand neben den Kamin geschleudert hatte. Dass er nicht einfach nur saß, sondern zur Unbeweglichkeit verdammt war. Dass nicht sichtbare Seile in sein Fleisch schnitten und die Luft aus seinen Lungen pressten. Dass diese Seile aus Eis zu bestehen schienen.

Das Schlimmste jedoch war, dass er nicht reden konnte. Seine Lippen waren genauso versiegelt. Dieser Zauberstab hatte die Aufforderung des Klappehaltens sehr wörtlich genommen. Einen dazugehörigen Zauberspruch hatte er nicht gehört.

Einzig seine Augen waren noch in der Lage, sich zu bewegen. Fragend, mit brennendem Blick, schielte er sie an.

Erneut wischte sie mit dem Zauberstab durch die Luft, diesmal vor ihm und er wusste, dass nun wieder ein Unterricht für Zaubertrankmeister kam. Ein Hologramm entstand und zeigte anfangs undeutliche und später immer klarer werdende Fetzen.

xxxXXXxxx

Im Outback. Eine Vielzahl an sandfarben gemantelten Gestalten. Dazwischen Aborigines. Eine ausgestreckte Hand.

‚Dein Zauberstab.'

Zögern, das umschwang in Entschlossenheit. Lächeln.

‚Viel Glück, Aniram. Kunapipi begleitet dich.'

Nicken. Unsägliches Herzklopfen. Tiefes Luftholen. Der erste Schritt.

Das Outback verschwand und machte diffusen Nebelschwaden Platz. Verschwommenheit. Verzerrte und unvollständige Sinneseindrücke. Waldlandschaft. Unbekannte Tiergeräusche. Gesprächsfetzen.

... müssen vorsichtig sein, sonst erwischen sie uns ...

Ein weiterer Schritt.

... Robin wird nicht begeistert sein, wenn er wüsste, dass wir nach ...

Schritt.

... Vive la révolution! Liberté, égali ...

Schritt.

... Peitschenhiebe. ‚Für wen spionierst du?' ...

Schritt.

... Lautlosigkeit. Irgendwo auf der Welt. Ruhe. Niemand stritt oder unterhielt sich. Es schien gefahrlos, hier aus der Traumzeit auszubrechen.

Aniram stand im Wald, zum ersten Mal auf sich allein gestellt, ohne Zauberstab. Sie wusste, dass mit dem Verlassen der Traumzeit auch der letzte Kontakt mit ihrem Mentor abgebrochen war, der sie bis jetzt noch hatte halten können. Jetzt würde sich herausstellen, ob all ihr Wissen, all ihr Training sie wirklich befähigte, diese Prüfung zu bestehen. Wenn nicht, dann würde der Index um eine weitere Person erweitert werden. Sie schüttelte den Gedanken daran ab wie ein lästiges Insekt.

Ihre Neugier wurde geweckt, als bäuerlich gekleidete Menschen an ihr vorbeizogen. Sie schienen ein bestimmtes Ziel zu haben. Sie plapperten aufgeregt und schienen sich auf irgendetwas zu freuen. Durch die Bank waren sie zerlumpt, sahen verarmt aus und diese Zähne! Bei manchen offenbarte sich ein schwarzer Steinbruch.

Zur Neugier gesellte sich Entsetzen. Wo und wann war sie?



Kapitel 28 - Dunkle Vergangenheit


Aniram verschmolz mit ihrer Umwelt, so gut es ihr möglich war. Sie verschwand lautlos hinter einem Baum und hielt sich dennoch nahe genug an der Menschenmenge auf, um Gesprächsfetzen zu erhaschen. Was sie hörte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Bereits die Sprache verriet ihr, wo sie war. Die Frage nach dem Wann musste noch beantwortet werden.

Das Gespräch zweier Männer schnappte sie auf. Es drehte sich darum, dass es endlich an der Zeit gewesen wäre, die Hexen zu fangen und der Befragung zu unterwerfen. Zu lange hatte das Dorf schon unter ihren Umtrieben gelitten. Wohin diese Befragung letztendlich führte, wussten sie natürlich auch.

Ekel erregende Gedanken erreichten sie. Die Vorfreude auf die Qualen anderer Menschen peitschte die Menge hoch und schien sie immer euphorischer werden zu lassen, je näher sie ihrem Ziel kam.

Wann auch immer sie gelandet war, Aniram bettelte, dass sie nicht in die Heilige Inquisition geplatzt war. Sie schluckte schwer und hatte Angst, dass ihr Schlucken von irgendjemandem in dieser Meute gehört wurde.

Sich jetzt herauszuziehen wäre äußerst fatal. Denn sollte es missglücken, würde sie automatisch die Rolle des Zuschauers verlassen und Opfer sein. Das war ihr klar.

Dafür jedoch waren die Traumzeitreisen nicht gedacht oder gemacht. Das Konzept bestand darin, Geschichtswissen zu sammeln, zu beobachten - und auf jeden Fall Kontakt zu vermeiden, um Eingriffe in die Geschichte zu verhindern. Es sei denn, man konnte sich so gut verkaufen, um den Eindruck zu hinterlassen, man gehöre in diese Epoche. Aber davon war Aniram noch weit entfernt. Sie stand am Anfang.

Für den Moment vergaß sie sogar, dass dies hier ihr erstes Mal war. Sie hätte es sich leicht machen und sofort zurückziehen können. Eine solche Oberflächlichkeit ließ ihr Stolz jedoch nicht zu. Womit sollte sie zurückkommen? Mit leeren Händen? Mit einem leeren Geist, der nichts erzählen konnte? Nein. In ihrem Kopf entstand ein Plan, den sie für genial hielt.

Leise zog sie sich in den Wald zurück und schaute sich um. Sie benötigte unbedingt die Zutaten für einen Unsichtbarkeitstrank. Dann würde sie sich unter den Menschen bewegen können. Okuna wäre stolz auf sie. Nie aufgeben, aus dem Unmöglichen immer noch das Bestmögliche machen. Zufrieden nickte sie und begann, sich nach den entsprechenden Kräutern umzuschauen.

... Riss ...

‚Nun, meine Freunde, was meint Ihr? Ist uns da nicht ein scheues, jungfräuliches Täubchen ins Netz gegangen?'

- hämisches Gelächter -

- Aniram hing gefesselt an einem Balken, neben ihr ein Mann mit Perücke, Peitsche und adliger Tracht -

- Tränen flossen -

‚So schweigsam?' Hände fuhren unter ihren Rock, immer höher.

- Wimmern, nacktes Entsetzen und blanke Angst in Bernsteinaugen -

‚Ich frage mich, wie lange du diese Bluse noch brauchen wirst.'

Der erste Peitschenhieb. Ein Schrei.

- fremde Begeisterung -

‚Ja, schrei, irgendwann wirst du mich anflehen, zugeritten zu werden. Aber nicht von mir, mein Täubchen. Ich werde zuschauen. Mein Vergnügen habe ich jetzt.'

Noch ein Peitschenhieb. Und noch einer. Aniram brüllte sich die Kehle heiser und es dauerte nicht lange, bis ihr die Luft ausging. Sie bettelte um eine gnädige Ohnmacht. Obwohl sie wusste, dass sie daraus schneller als gewünscht aufwachen würde und alles von vorn begann. Nein, bitte nicht. Sie spürte die Wärme auf ihrem Rücken. Aber da war keine Sonne, die sie wärmte, sie wusste, es war ihr eigenes Blut.

Voller Entsetzen keuchte sie auf, als ihr mit einem Ruck die Bluse heruntergerissen wurde. So schutzlos, so wehrlos war sie diesem Teufel ausgeliefert. Blind vor Tränen richtete sie ihren Blick auf die Stelle, an der sie ihren Umhang wusste.

Niemand hatte sich die Mühe gemacht, diesen "Fetzen" genauer zu untersuchen. Wie auch? Primitiv, wie sie waren.

Hoffentlich war er noch intakt. Neben seiner eigentlichen Funktionsweise hatte dieser Umhang die Eigenschaft, alles in seiner Nähe wie eine Kamera aufzunehmen. Sollte einem Reisenden ein wichtiges Detail entfallen sein, konnte man die Reise mit all ihren Kleinigkeiten wieder heraufbeschwören. In ihrer Situation gab es viele Details, aber keine wichtigen.

Der Raum voller begeisterter, gelangweilter Adliger, die sich an ihrer Qual weideten. Dieses… Ding, von dem sie angenommen hatte, es wäre ein Stuhl, das sich jedoch als ein Folterinstrument der besonderen Art herausstelle. Gefesselt und breitbeinig hatte sie darauf gelegen, seiner Peitsche, seinen Händen und Worten ausgeliefert. Der Balken, an dem sie hing. Die Pfosten, zwischen denen sie auch schon angekettet gewesen war. Es war zu viel.

Trotz allem rotierte ihr Gehirn auf Hochtouren. Sie musste handeln, irgendwie. Bevor sie aufhörte, Aniram zu sein. Ihre Gedanken wurden rigoros unterbrochen.

‚Nun, was überlegt unser Täubchen? Hast du dich schon für einen Interessenten entschieden? Ich garantiere dir, der Raum ist voll davon.'

- begeistertes Quieken und Jauchzen -

‚Ich. Ich. Ich. Nein, ich.'

Aniram witterte ihre Chance und hoffte, noch über genügend Kraft zu verfügen, um sich hier herauszuziehen. Vollkommen devot, mit niedergeschlagenen Augen, antwortete sie und vertraute darauf, dass die Stärke ihres Herzschlags die vorgetäuschte Unterwürfigkeit nicht übertönte.

"Ja, Marquis, das habe ich. Aber...", sie zögerte, um es glaubwürdiger erscheinen zu lassen, "aber dürfte ich dabei meinen Umhang tragen? Ich flehe Euch an, Herr..."

Auf die Knie fallen konnte sie durch die Fesseln nicht. Aber vielleicht genügten ihre gehauchten Worte.

‚Oh, dieses Ding? Nun, wenn sich meine kleine Dirne darin wohler fühlt, soll es so sein. Bindet sie los.'

Wie ein nasser Sandsack krachte sie auf den Boden, wiederum johlte die Menge, als wäre sie Zuschauer eines genialen Tricks geworden. Der Marquis versetzte ihr einen Stiefeltritt.

‚Nun hol ihn dir schon. Und dann zeigst du auf den Glücklichen.'

"Ja, Herr."

Schwerfällig robbte sie vorwärts. Sie hatte kaum noch Kraft. Die blutigen Striemen auf ihrem Rücken brannten. Ihr Körper erzitterte, als sie daran dachte, was sie schon seit Stunden aushielt. Oder seit Tagen? Auf keinen Fall wollte sie, dass DAS jemand sah.

Wobei sie nicht wusste, was überwog - ihr Entsetzen oder ihre Scham. Es fehlte nicht mehr viel und sie hätte sich übergeben. Am liebsten wäre sie einfach dem sie im Augenblick beherrschenden primitivsten, animalischsten Instinkt gefolgt. Sie hätte ihm vor die Füße gekotzt. Aber dann kam sie hier nie raus und es wurde wirklich noch viel schlimmer.

Ihrer Fantasie waren allerdings Grenzen gesetzt. Die bisher erlittene Grausamkeit physischer und psychischer Art war schon schlimm genug. Sie mochte sich nicht ausmalen, wie das enden konnte. Nein, definitiv nein. Dieses vehemente nein mobilisierte alle noch vorhandenen Kraftreserven und ließ sie endlich einen Zipfel ihres Umhangs in den Händen spüren.

Ihr Glück durfte sie sich nicht anmerken lassen. Unbeteiligt, immer noch unterwürfig, griff sie danach. Ganz weit weg, wie in Watte eingepackt, hörte sie deren Stimmen. Aber sie musste sich konzentrieren. Beide Bewusstseinsebenen hämmerten ihr ein, das Maximum dessen auszuschöpfen, das ihr während der harten Übungen an mentalem Training beigebracht worden war.

Es war ganz einfach, wenn man bei seinem ersten Schritt auf einen Traumzeitpfad noch vom Mentor begleitet wurde, der dies und jenes erklärte. An dessen Seite man sich sicher fühlen konnte und wusste, es gab definitiv ein Zurück. Aus einem wurden zwei, wurden drei, wurden mehrere Schritte. Immer tiefer ging es hinein.

Es war auch einfach, zum allerersten Mal einen einzigen Schritt ohne Begleitung hineinzuwagen. Schließlich sollte sie demonstrieren, ob sie in der Lage war, aus dem diffusen Nebel auch allein zurückzufinden.

Ja, es hörte sich alles so einfach an. Einfach, wenn man seinen Zauberstab noch hatte - obwohl man wusste, dass er in der Traumzeit nutzlos war.

Das Ausmaß dessen, was eigentlich dazugehörte, um die Rückreise durch Raum und Zeit zu schaffen, wurde ihr erst jetzt bewusst. Trotz aller Instruktionen für jedes noch so abwegige Szenario.

Niemand hätte voraussagen können, dass sie hier auf kaltem Stein lag, geprügelt, geschwächt und… außerordentlich beschämt.

Statt zur Großen Mutter Kunapipi zu beten, galt ihr letzter Gedanke einem einzigen Menschen.

‚Joaquin, gib mir Kraft.'

Dann hüllte sie sich in ihren Umhang, in ihr Stück Heimat.

xxxXXXxxx

Es wurde dunkel. Er war kein Beobachter mehr, sondern befand sich im Nirgendwo. Snape schwankte zwischen tatsächlich sehen oder nur am Rande wahrnehmen, doch seine Umgebung pulsierte. Er stand inmitten eines Sternenhimmels. Das war vollkommen verrückt. In einer finsteren Kugel ohne Sterne zu stecken. Anfangs war es dunkel und dann zog die Morgendämmerung herauf.

Nach einigen Lidschlägen wurde es heller. Linien und keine Sterne, einmal kräftiger und einmal schwächer leuchtend, formten ein gewaltiges Netz. Seine - wirklich seine? - Augen folgten der stärksten und heißesten Spur und legten sich regelrecht hinein. In seinem Kopf setzte ein Rumoren ein und bestimmte Strukturen kristallisierten sich heraus. Überdeutlich und glasklar sah er den Ayers Rock vor sich.

Plötzlich gab es einen Ruck, der in ihm das Gefühl hinterließ, als würde er zerrissen werden.

xxxXXXxxx

Nur langsam fand er in die Gegenwart zurück. Selbst wenn er hätte sprechen können, das Gesehene hatte ihm die Sprache verschlagen. Immer noch starrte er geradeaus, obwohl dort nichts mehr war. Das letzte, das er bewusst wahrgenommen hatte, war pulsierende Schwärze.

Aniram tippte von unten gegen ihren Zauberstab und die Projektion verschwand genauso wie seine Fesseln. Sie wusste nicht, ob es sie zufrieden stellen sollte, dass er sich dennoch nicht rührte. Nachdem sie die Arme vor der Brust verschränkt hatte, kam sie seiner Frage zuvor.

"Das war meine ersten Reise. Ich war vierzehn. Zu jung für das, was Sie gesehen haben, meinen Sie nicht auch?"

Er hatte sich angewöhnt, ein Feuer im Kamin zu machen, seit sie hier an ihrem Trank wirtschaftete. Also herrschten im Kerker doch recht erträgliche Temperaturen. Es war sogar beinahe warm. Ihre Stimme hingegen klirrte wie sprödes Eis, das jeden Moment zu bersten drohte.

Mit einer gehörigen Portion Sarkasmus, den er an ihr überhaupt nicht kannte, fuhr sie fort.

"Wie Sie sehen, bin ich durchaus in der Lage, die Begriffe Angst, Demütigung und Schmerz zu definieren. Ich habe das alles am eigenen Körper erfahren. Nur weil diese wohl gehüteten Hüpfer hier in Hogwarts so etwas nicht durchmachen, sollten Sie nicht automatisch auf alles und jeden schließen. So viel zu Ihrer Behauptung, niemand kenne das, was Sie kennen."

Trocken schnaubte sie durch die Nase. "Natürlich nicht, ich kenne Besseres."

Erst jetzt, wie von einem Bann befreit, schlug er die Augen nieder. Sie hatte so Recht. Er hatte seine eigene Hölle. Nur gab es einen wesentlichen Unterschied, wenn nicht sogar zwei. Er war erwachsen und hatte sie sich auch noch selbst erwählt.

Am meisten erschütterte ihn die Tatsache, dass sie dies alles mit einer immens großen emotionalen Kälte vorbrachte. Das war ebenfalls eine Seite, die er bis heute nicht an ihr kannte. Sie sprach über das Vorgefallene wie über das Wetter. Beinahe so, als würde sie aus der Biografie eines anderen zitieren.

Wie schwer das Verbergen von Gedanken oder Gefühlen war, wusste er aus eigener Erfahrung. Seine Gedanken abzuschotten war inzwischen zu einem selbst laufenden Automatismus mutiert, er musste sich keine Mühe geben, das zu vollbringen. Und Gefühle? Er hatte keine. Bis vor einiger Zeit.

Nach dem Gesehenen fiel es ihm ausgesprochen schwer, genauso unbeteiligt und gefühllos wie sie zu klingen, auch wenn ihm ansonsten das Wohl oder Unwohl seiner Umgebung gleichgültig war.

Er kramte alles aus seinem Gedächtnis hervor, was ihre Schilderung bezüglich der Traumzeit und die damit verbundene Funktionsweise von Zauberstab und Umhang anging.

"Ich nehme an, ich... Sie... wir steckten in Ihrem viel gerühmten Umhang? Dieses Pulsieren..."

"Ja."

Nicht mehr und nicht weniger. Noch immer rang er um Fassung. Er schüttelte den Kopf und grub seine Zähne in die Unterlippe.

In diesem Moment war sie ihm auf eine nie da gewesene Art und Weise vertraut, so dass er es wagte, die folgende Frage zu stellen.

"Wie bringen Sie es fertig, dermaßen...", er stockte und suchte nach einem oder mehreren Worten, "kalt darüber zu sprechen?"

Ausnahmsweise stellte er diese Frage nicht von Wissensdurst oder Neugier getrieben, ihn interessierte neben ihrem anscheinend nicht zu bändigenden Überlebenswillen das Wie.

Es wunderte ihn nicht, dass er ein erneutes, beinahe resigniertes Schnauben hörte. Sein Blick galt auch nicht ihr, sondern richtete sich geradeaus. Teilweise unsicher, ob er das überhaupt sehen wollte; teilweise sicher, weil es zu ihr gehörte und demzufolge das Bild um sie und Australien abrunden würde.

xxxXXXxxx

Aniram schrie lauthals, um sich selbst Kraft zu verleihen. Was, wenn sie immer noch auf diesem grässlichen Fußboden lag? Sie musste einfach darauf vertrauen, dass zu dem, was sie gerade ausführte, die sie umgebenden Dunstschwaden gehörten. Gewisse Erscheinungen könnten durchaus den verschiedenen Arten der Pfade zugeordnet werden.

Die Theorie in die Praxis umzusetzen und gleichzeitig einen kühlen Kopf zu bewahren waren zwei Dinge, wie sie im Augenblick nicht weiter voneinander entfernt sein konnten.

Doch mit einem Mal verspürte sie ein vertrautes Kribbeln, das ihr normalerweise anzeigte, dass sie sich wieder auf bekanntem und heimatlichem Terrain befand.

Durch den eben erlittenen Schock jedoch war sie außer Stande, diesen simplen Fakt wahrzunehmen. Man könnte meinen, sie wäre blind, so vollkommen desorientiert stolperte sie herum, von der Wucht des Rückschlags nach vorn gepeitscht.

Snape verwunderte es, dass sie so urplötzlich sichtbar geworden war. Als sie sich in ihren Umhang gewickelt hatte, hatte er gespürt, wie sie mit ihren Sinnen - welche das auch immer sein mochten - nach einem sicheren Rückweg gesucht hatte. Er hatte ihn selbst gesehen und sich mit hineingelegt.

Er konnte sich immer noch nichts Konkretes unter dieser Teleportation vorstellen, aber dies hier war etwas anderes gewesen. Kein Schritt für Schritt wie auf dem Hineinweg - ein besserer Begriff fiel ihm nicht ein - sondern das Verlassen eines Ortes mit einem brachialen Ruck, der dennoch kein Apparieren war. Noch mehr erschrak er jedoch, als wie aus dem Boden gewachsen ein Mann vor ihr stand. Aus dem Nichts war er aufgetaucht.


Er trug einen sandfarbenen Umhang, war ungefähr zwei Meter groß und hatte seine vollen, schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Fast wirkte er damit wie ein Dandy, aber sein Gesichtsausdruck ließ nicht einmal im Entferntesten diesen Rückschluss zu, denn er war ernst und besorgt. Gleichzeitig strahlte er etwas Majestätisches aus. Etwas Unnahbares.

Unwillkürlich schoss Snape in den Kopf, dass das durchaus das Pendant zu Lucius Malfoy sein könnte. Wenn diese Mimik nicht wäre, die keine Kälte und Arroganz, sondern Anteilnahme und Wärme ausstrahlte.

Aniram leistete sich in ihrer immer noch anhaltenden geistigen Umnachtung ein Kreischen. Dann begann sie zu fluchen und schlug um sich. Immer noch im Wahn gefangen, dort zu sein.

Die Tatsache, dass sie die Arme überhaupt wieder bewegen konnte, drang nicht einmal im Ansatz dumpf und träge in ihr Bewusstsein. Sie war meilenweit davon entfernt, ihre Gliedmaßen und Bewegungen anständig zu koordinieren. Tränen rannen unablässig über ihr Gesicht.

Der Mann fing sie auf. "Aniram, Aniram, wo..."

Die Frage blieb unvollendet, denn wie eine Furie ging sie auf ihn los. Auf Grund ihrer Schwäche sah ihr Um-sich-schlagen wie ein halbherziger Versuch aus, zwei Dreschflegel zurück auf ihre Halterung zu bugsieren. Lahm, müde, erschöpft. Ausgelaugt. Als es ihr nicht gelang, ihn zu schlagen, setzte sie alles daran, sein Gesicht zu zerkratzen. Was genauso gründlich misslang.

"Lass mich in Ruhe, fass mich nicht an, du Ekel!"

"Aniram!"

Ein lang gezogener, gequälter Schrei war von ihr zu hören. Sie hatte geweint, sie hatte geschrieen - aber dieser Schrei war vollkommen anders. Er bedeutete die Aufgabe ihres kontrollierten Ichs. Nicht nur um der Schmerzen, sondern in erster Linie der Demütigung zu entfliehen, flüchtete sie sich in das finstere Irgendwo ihres Seins und wusste nicht mehr, wer sie war.

Der Mann schlug ihr mehrmals ins Gesicht und schüttelte sie. "Aniram, Aniram!! Komm zu dir, du bist in Sicherheit!"

Wie oft und in welcher Lautstärke er diese Sätze wiederholen musste, hatte er aufgegeben zu zählen. Sie stellte das Kreischen erst ein, als sie nach Luft schnappen musste. Sie erhielt noch einen Schlag ins Gesicht, der sie verdutzt aufschauen ließ.

"Joaquin? Joaquin!" Schluchzend warf sie sich in seine Arme und weinte hemmungslos.

"Ist gut, meine Kleine, ist gut."

Mit diesen Worten legte er seinen Arm in einer wundervoll beschützenden Art und Weise um ihre Schulter und den anderen schlang er um ihre Taille. Er spürte, wie sie zusammenzuckte und sich an ihm festkrallte.

Seine Worte waren nur ein Flüstern. "Aniram, wo warst du?"

Würgend spie sie die Antwort aus. "Frank... reich."

Dann versuchte sie sich aus seiner Umarmung zu befreien, weil sie ihr Schmerzen bereitete. Als ihr Umhang verrutschte, sog er scharf die Luft ein. Joaquin überlegte nicht lange und entfernte den Umhang ganz. Die blutigen Striemen, die die Peitsche hinterlassen hatte, waren nicht mehr zu sehen, denn das Blut rann ihren Rücken herunter und verbarg, wo noch heile Haut war und wo rohes Fleisch.

"Mein Gott... de?", er scheute schon allein vor dem Namen zurück. Voller Erschütterung stellte er diese Halbfrage und benötigte eigentlich keine Antwort. Trotzdem wartete er noch, bis sie nickte.

Sie krümmte sich zusammen und ungeachtet der Tatsache, dass sie keine Bluse trug, legte sie schützend ihre Hände vor ihren Unterleib.

"Seine Finger, Joaquin, seine Finger waren so schlimm."

Dann verschwand ihr Gesicht wieder an seiner Brust und sie weinte erneut.

"Mein Liebes, mein Kleines, was musst du ausgestanden haben. Hat er..."

Beschämt brach er ab, weil er sich vorstellen konnte, was sie in diesem Moment durchlebte. Er konnte nicht wissen, was sie durchgemacht hatte. De Sade war bekannt dafür, mit Auspeitschungen vorzugsweise weiblicher Opfer seine Befriedigung zu erreichen. Trotzdem war es beinahe kindisch, sich zu wünschen, er hätte nicht mehr angerichtet.

Sie stand so schutz- und wehrlos vor ihm, dass er glaubte, sie würde jeden Moment zu Boden gehen. Er musste schnell etwas tun, bevor das geschah.

"Komm, lass mich deine Wunden versorgen."

Während er das sagte, ging er in die Knie und nahm sie mit. Ihren bebenden Oberkörper legte er auf seinen Oberschenkeln ab. Nachdem er die Locken beiseite gestrichen hatte, zog er seinen Zauberstab und ohne dass er einen Zauber sprach, schlossen sich die Wunden. Anschließend wickelte er sie in seinen Umhang. Als sie auf dem Boden lag, sprach er wieder.

"Du musst dich aufwärmen, du bist eiskalt. Für die Rückreise hast du offensichtlich das Maximum deiner Körperkraft verausgabt. Ich werde dir frische Kleidung besorgen, wenn du schläfst."

Aniram war zu müde, um zu widersprechen. Lediglich die Tatsache, dass sich Joaquin um sie kümmerte, ließ sie überhaupt ruhig sein.

Zärtlich, wie ein liebender Vater, strich er ihr einige Locken aus dem Gesicht.

"Ich braue dir einen Schlaftrank. Wir reden morgen."

Er benötigte nicht einmal ein Fingerschnipsen und alles Benötigte stand vor ihm.

Snape konnte nicht verhindern, dass ihm nachträglich heiß und kalt wurde. Einfach deshalb, weil ihm brutal und schonungslos offenbart wurde, was für ein Potential sie eigentlich barg - schließlich war sie im Vergleich mit diesem Mann immer noch ein Kind und würde eines Tages genauso viel können - und was sie ihm trotz der gemeinsamen Stunden NICHT gezeigt hatte. Ihn beschlich das Gefühl, dass sie ihn lediglich die Spitze des Eisbergs Australien hatte sehen lassen. Außerdem stellte er fest, dass dieser Mensch namens Joaquin noch schneller braute als Aniram. Und wo bei Merlin gab es solch gigantische Kessel?

Lächerlich, kindisch, profan und hoffnungslos naiv erschien ihm nun vor dem aktuellen Hintergrund der halbseidene Befehl von Albus, sie zur Assistentin zu machen. Weil man ja in der Bibliothek nichts über Australier finden konnte. Severus glaubte zu ahnen weshalb. Worauf er in der Zwischenzeit gestoßen war, seit sie sich das Kaffeetrinken angewöhnt hatten, überstieg seine kühnsten Erwartungen.

"Ich will nicht mehr leben."



Kapitel 29 - Joaquin


Als er diesen kurzen Satz hörte, beendete Joaquin seine Tätigkeit und schaute sie besorgt an. Dann schüttelte er leicht mit dem Kopf.

"Ich glaube nicht, dass du dir das ernsthaft wünschst, meine Kleine. Sprich es nicht aus."

"Doch, ich will nicht mehr. Weißt du, was das für ein Gefühl ist, so... so ausgeliefert zu sein? Wenn... wenn du gedemütigt wirst und wenn dich jemand dort anfasst, wo... wo noch nie...?" Tränen erstickt sprach sie weiter. "Ich hab Angst, Joaquin, ich hab Angst vor jeder Nacht, vor jedem Albtraum. Ich will wirklich nicht mehr."

Nickend verfolgte er ihre Worte. Nur zu lebhaft konnte er das Dilemma und die Angst, in der sie gefangen war, nachvollziehen. Dass ausgerechnet SEINE Aniram ein dermaßen grässliches Erlebnis durchmachen musste, entsetzte ihn und machte ihn fast wahnsinnig.

Läge es im Rahmen des Möglichen, so würde er an den Zielpunkt ihrer Reise zurückkehren, dieses Individuum - er versagte ihm die Bezeichnung Mensch - an den Füßen aufhängen und etliche Zufallstreffer mit dem Messer anbringen. Er würde das so lange tun, bis dieses Ding endlich nach tagelangen Todesqualen jämmerlich verreckte. Selbst dann würde er vor einer Wiederbelebung nicht zurückschrecken und von vorn beginnen. Oh ja.

Erschrocken über seine eigenen Gedanken sprach er.

"Ich kann es mir vorstellen, ich war zwar kein Mädchen und war nicht in deiner Situation, aber ich habe Todesängste ausgestanden. Auch Männer haben Angst. Sie verfallen zum ungünstigsten Zeitpunkt in Panik, weil sie unerwarteten Schmerzen ausgesetzt sind, die fernab ihres Vorstellungsvermögens liegen. Sie zucken davor zurück, reagieren unkontrolliert, schlicht und einfach panisch. Eben ängstlich. Gewöhne dich an diesen Gedanken. Mit dem starken Geschlecht ist es nicht weit her, meine Kleine. NICHT - DORT!"

Eindringlich und wie um seine Worte zu unterstreichen wies sein Finger in die Richtung, aus der sie aufgetaucht war. "Eigentlich ging es mir wie dir. Nun ja, fast wie dir."

Ein trockenes Schnauben verließ seine Nase.

"Wie stolz war ich, ausgerechnet im Alten Rom gewesen zu sein. Ich hatte damals das Gefühl, mir müssten nur noch Flügel wachsen und alles wäre perfekt. Ich war so dumm und naiv. Denn mein Hochgefühl hat mich sehr schnell verlassen. Anscheinend hatte ich bei meiner ersten Reise dasselbe Talent wie du. Nicht falsch zu landen und zu forschen, nein, aber Leuten in die Hände zu fallen - und auch noch feststellen zu müssen, dass es die falschen Leute waren. Mein Umhang war unerreichbar und ich glaube, du kannst nachvollziehen, was es bedeutet, ohne Umhang zu sein. Das ist praktisch so, als wenn du ohne Haut bist. Dann siehst du wirklich keinen Weg aus was für einer Hölle auch immer. Ich bekam Angst, tierische Angst, von der ich annahm, sie könnte mich nie befallen. Nie. Und das meine ich so, wie ich es sage."

Während er erzählte, warf er einen beiläufigen Blick auf Aniram und war sich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher. Er wusste nicht, ob er mit seiner Erzählung einen Fehler beging, aber vielleicht würde es ihr bei ihrer kommenden Entscheidung helfen.

"Ich nehme an, Neros Leidenschaft für lebendige Fackeln kennst du. Mit dem nächsten Schwung sollte ich hinausgetrieben werden - vorbei an meinen Leidensgenossen, die schon brannten. Die Wachen hatten schon etwas zuviel getrunken und wohl nicht mit einem Aufbegehren gerechnet."

Er brach kurz ab. "Vielleicht hat mir genau diese Angst die Kraft gegeben, drei von den Wachen mit bloßen Händen umzubringen."

Zufrieden bemerkte er, dass Anirams Augen immer größer wurden. Sie schien zumindest vorübergehend ihren Schmerz zu vergessen.

"Ja, ich weiß, was du sagen willst. Seit Generationen wird uns eingetrichtert, nicht in die Geschichte einzugreifen. Aber ich habe es getan. Wer weiß, hätten diese Wachen Kinder und Kindeskinder? Sind ganze Familienzweige durch meine Handlung ausgelöscht worden? Keiner vermag es zu sagen. Normalerweise hätte mich dafür eine harte Strafe erwartet, nicht umsonst hat jeder Angst vor dem zweiten Index. Doch Mikele sprach für mich und ich denke, meine größte Entlastung war wohl, dass ich ohne Umhang zurückgekommen bin." Und vollkommen übergangslos: "Jetzt schlaf, meine Kleine."

Aniram hatte immer angenommen, dass es eine Legende wäre. Traumzeit-Teleport ohne Umhang - unmöglich. Also war Joaquin diese Legende, die unter den Schülern am Ayers Rock kursierte!

Während seiner Worte hatte Aniram getrunken und wollte mit diesem angenehmen Gedanken einschlafen. Allerdings sackte sie stattdessen augenblicklich in ein künstliches Koma.

Besorgt schaute Joaquin auf ihr Gesicht und schüttelte gepeinigt den Kopf. Seine Zweifel, ob er richtig gehandelt hatte, zerstoben im Nu. Seine erste Reise war lange her und ihm war bewusst, dass es bei Aniram, obwohl sich die äußeren Wunden geschlossen hatten, vielleicht noch Jahre dauern würde, bis die inneren Wunden heilten. Wenn sie heilten. Er hoffte inständig, dass sie an dieser ersten unglücklichen Erfahrung nicht zerbrach.

Zwei Tage später entschloss er sich, sie aus dem Koma zurückzuholen. Inzwischen hatte er sie mit frischer Kleidung versorgt - ein Weg, der dank Teleportation blitzschnell erledigt war. Den Gedanken an eine Ersatzwache verwarf er als überflüssig, weil sie niemals von allein aus diesem Koma erwachen würde. Sein Bauchgefühl befahl ihm, sich alleinig für sie zuständig zu fühlen. Jetzt holte er sie mit dem Zauberstab wieder ins Leben.

Verdutzt schlug Aniram die Augen auf und blinzelte mehrmals. Als sie sich wieder an die Sonne gewöhnt hatte, schaute sie zu einem schmunzelnden Joaquin auf.

"Nun, wie geht es meiner Kleinen?"

Die Antwort kam in Form einer Gegenfrage. "Verdammt, wie lange hast du mich auf Eis gelegt? Schlaftrank? Dass ich nicht lache! Was hast du mir zusammengemischt?"

Joaquin lachte und hatte seine Antwort. Ihr ging es - von den seelischen Blessuren abgesehen - ausgesprochen gut. Sonst wäre sie nicht postwendend auf Hundertachtzig.

"Aniram, verzeih mir bitte, aber NUR ein Schlaftrank hätte dich nicht traumlos schlafen lassen. Du warst ein klein bisschen tot. Ich hielt es für die beste Möglichkeit, den Körper gesunden zu lassen."

"Den Körper - ja."

Joaquin nickte. "Ja, den Körper. Wenn du Kraft genug hast, darüber zu sprechen, dann tu es."

"Ohne Essen keine Kraft", protestierte sie. "Wie sieht's aus?"

Dieses Gespräch musste sein, sie wusste es. Mit irgendjemandem musste sie diese Grausamkeit teilen, sonst ging sie daran kaputt. Es scherte sie nicht weiter, dass sie das einem Mann anvertrauen sollte. Dieser Mann war immer noch ihre erste Wahl. Vor ihrer Mutter, vor einer Krankenschwester, vor einer Ärztin oder einer Schamanin. Sie vergötterte ihn.

"Was hätten wir denn gern, ein halbes Krokodil?" Seine Frage klang so, als erwartete er noch mehr, noch sehr viel mehr.

"Ja, ein halbes Krokodil..., die ganze Platte überhaupt."

Aniram brachte es sogar wieder fertig, zu grinsen. Wie von Geisterhand hergezaubert hing ein üppiges Mahl in der Luft.

Snape wurde zwischen Erschütterung und Amusement hin und her gerissen. Er hätte aus dem Gedächtnis aufzählen können, was diese Platte zu enthalten hatte.

"Joaquin, was wäre ich nur ohne dich?"

Ein Satz, der Snape merkwürdig bekannt vorkam.

Verschmitzt bekam sie zur Antwort: "Nun, ich bin mir sicher, du wärst Aniram ohne Joaquin."

Sie lachte leise, als sie nach einer Hühnerkeule griff. "Ich ohne dich? Wenn der Tag kommt, bin ich erledigt, das weiß ich."

Er drohte mit Krokodilfleisch. "Ich kann dich aber weder heiraten noch werde ich jünger."

"Eigentlich schade, die Mehrehe sollte wieder eingeführt werden."

Aniram amüsierte sich köstlich über sein verdutztes Gesicht. "Iss lieber, bevor es kalt wird."

"Hm, sollte ich wohl. Ideen hast du manchmal... Ich muss gestehen, da fechte ich lieber mit dir, denn da ist ein Konter voraussehbarer."

"Hmmm. Das will aber einiges heißen, denn du hast es mir beigebracht."

Joaquin schmunzelte und hob eine Karaffe an. "Auf die Highlander. Dein Lieblingstrank."

"Oh, dann her damit, es geht doch nichts über einen guten Tropfen."

Aniram schnüffelte begeistert, um dann in kleinen, genussvollen Schlucken zu trinken. Immer noch schob sie unangenehme Worte in ihrem Kopf hin und her, sie überlegte vor und zurück und wusste nicht, wie sie beginnen sollte. Aber wenn sie eine Eigenschaft ganz besonders auszeichnete, dann war das Spontanität. So begann sie auch übergangslos.

"Weißt du, dort... ich meine, ich wusste erst einmal nicht, wo ich bin. Kleidung und Dialekt haben es mich erraten lassen, mehr aber auch nicht. Ich Trottel wollte besonders clever sein und mich unsichtbar in der Menge bewegen. Also suchte ich die Kräuter für einen Unsichtbarkeitstrank zusammen. So weit, so gut, jetzt fehlte mir nur noch der Kessel."

Sie schaute auf den Boden. "Mit diesem Gedanken hätte ich nicht einmal spielen dürfen. Weder hatte ich Geld, um mir einen Kessel zu kaufen, noch beherrschte ich die Sprache in ausreichendem Maße. Stehlen wollte ich aber auch nicht. Es war wie verzwickt. Ach was, verzwickt ist noch viel zu harmlos. Gerade, als ich vor einem Haus stand und überlegte, ob ich mir von drinnen einfach einen Kessel holen sollte, tauchten sie auf. Nicht die Bewohner, nein, irgendwelche berittenen Soldaten. Später erfuhr ich, dass mich die Grenzwache gemeldet hatte und sie waren schon auf der Suche nach mir. Frag mich nicht, wer mich bei meiner Landung mitten im Wald gesehen haben könnte. Selbstverständlich bot ich ihnen mit meiner Haarfarbe das perfekte Abbild einer Hexe. Sie waren ohnehin gerade so im Folter- und Verbrennungswahn, da würde eine mehr nicht auffallen. Eigentlich sollte ich auf dem Scheiterhaufen landen."

Erschüttert brach sie ab. "Ich glaube, erst jetzt kann ich ermessen, was es bedeutet, auf dem Index zu stehen. Ob jemand von uns dort ist? Jeden Tag dasselbe erlebt? Ich würde mich umbringen, ich hätte wirklich keinen Lebenswillen mehr. Aber wenn man gefesselt ist, gestaltet sich Selbstmord so verdammt schwierig...

Ich wurde nach Lyon gebracht und als ich im Kerker landete, schloss ich schon mit meinem Leben ab. Nach drei qualvollen Tagen unter stinkenden Menschen wurde ich herausgeholt, auf einen Wagen verfrachtet und zu einem Schloss gefahren. Der Marquis brauche neues Fleisch, hieß es. Ihr teuflisches Grinsen und die Tatsache, dass ich gebadet und in mittelalterliche Tracht gesteckt wurde, ließen mich immer unruhiger werden. Obwohl ich nun wusste, mit wem ich es zu tun bekommen würde, war ich immer noch naiv genug zu hoffen, in die Rolle des Hofnarren gesteckt zu werden. Aber de Sade beschäftigte so etwas nicht, nicht wahr? Trotzdem weigerte ich mich, mit der letzten aller Möglichkeiten zu rechnen.

Die Tragweite dessen, was mit mir geschehen würde, begriff ich erst, als ich vor ihm stand. In diesem fürchterlichen Raum, voller Zuschauer, und dann..."

Snape fragte sich, wie es jemand fertig brachte, etwas dermaßen Demütigendes jemandem anzuvertrauen. Das war weitaus mehr als ein Offenlegen der Intimsphäre. Er wusste, er könnte das nie. Es sprengte den Rahmen seiner Vorstellungskraft.

Aniram schaute an Joaquin vorbei, nahm sich noch ein Glas und stürzte es hinunter. Sie schüttelte sich noch einmal und fuhr beinahe emotionslos mit ihrer Schilderung fort. Kein noch so winziges Detail ließ sie aus, sie kehrte ihr Innerstes nach draußen.

Joaquin schloss die Augen, als sie geendet hatte. Gänsehaut kroch über seinen gesamten Körper, bis sie ihn vollständig bedeckte. Tief holte er Luft.

"Möchtest... möchtest du diese Erinnerung behalten und bist du bereit, dich mit ihr auseinanderzusetzen, oder sollen wir sie löschen?"

"Genau das ist es, was ich nicht weiß, Joaquin", sagte sie traurig. "Es… es tut noch so weh und ich schäme mich so unheimlich."

Verlegen und die Arme um sich geschlungen blickte sie zur Seite.

Snape dachte, dass sie eigentlich während des Gesprächs so hätte dasitzen sollen.

Joaquin überlegte. Er wusste nicht, ob er ihr überhaupt raten durfte oder ob sie von selbst dahinter kam, was der bessere Weg war. Dann schüttelte er den Kopf.

"Schämen, mein Liebes, muss sich nichts und niemand. Du bist in diese Situation geraten, hast Fürchterliches erlebt und kannst nicht einmal etwas dafür. Du bist diejenige, die leidet. Leiden und schämen passen nicht zueinander."

"Was würdest du..." Aniram stockte. "Ich meine, wie hast du deine erste Reise verarbeitet? Denn du musst sie verarbeitet haben, weil du dich daran erinnerst. Demzufolge kann sie nicht gelöscht sein."

Das Wort löschen kam nun schon zum zweiten Mal vor. War dies etwa der mysteriöse, nicht bekannte australische Vergessenszauber? Löschen?

Joaquin nickte bedächtig und wog jedes folgende Wort ab.

"Du hast Recht, ich stand vor derselben Frage wie du heute. Löschen lassen und bequem weiterleben, als wäre nie etwas geschehen oder mich damit auseinandersetzen. Du weißt, was das bedeutet, auch wenn dir das bis jetzt nur in der Theorie bekannt ist. Man muss noch einmal durch diese Hölle gehen und sich seinen Dämonen stellen. Erst wenn man sie besiegt hat, wirklich besiegt, geht man strahlend aus diesem Kampf hervor. Die Folge ist, dass dir passieren kann, was auch immer passieren will, keine Macht der Welt - und ich meine wirklich keine einzige - wird dir danach irgendetwas anhaben können. Dein Charakter wird so stark sein, dass ein jeder, der dich zu brechen versucht, jämmerlich versagen wird. Doch es ist schwer und nicht jeder entscheidet sich für den inneren Kampf. Weil viele Angst haben, schlicht und einfach Angst. Aber das mit der Angst hatten wir ja schon mal. Ich kann dir getrost versichern, hier draußen", er deutete auf den Boden zwischen ihnen, "geht sie weiter."

Unendlich langsam arbeitete sich in Snape die Erkenntnis empor, lediglich in Form einer vagen Ahnung, was der Grund dafür war, dass er beinahe daran zerbrochen wäre, als er sie noch auf Knien vor sich hatte sehen wollen. Sein Nichtbegreifen dessen, was da vor ihm saß. Wie sie saß. Dass sie überhaupt saß. Dass sie die Stirn hatte, zum damaligen Büßen Hausaufgaben mitzubringen. Es war ihm jedes Mal ein Vergnügen gewesen, ihr einen Strich durch ihre Rechnung zu machen. Und sie? Platzte am Folgetag mit einer anderen Idee herein. Sie war nicht totzukriegen. Das einzige Mal, als er sich überlegen fühlte, war, als ihr Umhang brannte. Schnell war diese Überlegenheit verschwunden, weil sie sich darüber auch noch freute. Erschüttert hatte er damals kapituliert. Denn nicht einmal Punktabzug oder Ähnliches hatten sie zum Zusammenzucken gebracht. Nichts, rein gar nichts. Sie ging durch die Welt, als wäre sie die Welt.

"Wer hat dich begleitet?"

"Mikele." Joaquin brachte sogar ein kleines Schmunzeln fertig. "Er hat mich wirklich nicht geschont. Ich war nicht nur in der panischen Verfassung, meinen Umhang zu suchen, diese Wachen erneut zu töten - nein, er hat mich wirklich brennen lassen. So lange, bis ich es geschafft habe, diese Flammen als imaginär anzusehen."

Aniram nickte langsam und verstehend. Gleichzeitig kroch ihr eine Gänsehaut über den Körper. Noch einmal erleben. Noch einmal gefesselt sein, ausgepeitscht werden. Und dieses Unsägliche, Schlimmere... Sie bebte.

"Würdest du mir", sie druckste herum und suchte nach Worten, "würdest du mir eine Möglichkeit raten?"

"Nein. Das kann ich ganz bestimmt nicht." Jetzt trat eine gewisse Strenge in seine Stimme. "Jeder ist individuell. Ich kann dir sagen, was passieren wird. Je kürzer die Wartezeit zwischen Erlebnis und Aufarbeitung, desto schlimmer wird es für dich sein. Die Entscheidung jedoch, ob du den bequemen oder den dornigen und qualvollen Weg gehen willst, musst du selbst treffen."

Aniram schluckte, doch sie nickte tapfer. Es hörte sich zumindest logisch an. Wenn der Zeitunterschied bereits einen oder zwei Tage betrug, bestand die Gefahr, dass irgendwann, vielleicht in zehn Jahren, etwas vom vermeintlich Verarbeiteten wieder zutage trat. Alles wollte sie, aber das ganz gewiss nicht. Die Zeit im Scheintod zählte glücklicherweise nicht, also begann sie bei Null.

Joaquin wusste nicht, welche Gedankengänge sich in seinem Gegenüber abspielten, doch er hoffte inständig, dass sich Aniram für die Auseinandersetzung entscheiden würde. Sie war stark genug, um damit fertig zu werden.

Für eine ganze Weile herrschte Stille zwischen ihnen beiden. Stille und unsäglich drückende Hitze. Dann kam sehr langsam ihr Kopf nach oben.

"Ich glaube, ich wähle den Kampf, Joaquin."

Seine Augenbraue zuckte nach oben. "Glauben, Aniram? Oder sicher sein?"

Sie nickte. "Ich kämpfe. Würdest... würdest du mich begleiten? Oder hast du schon ein Pendant?"

Snape saß hinter seinem Tisch und starrte wie gebannt auf das, was vor ihm ablief und konnte es nicht fassen. Zwar hatte sie ihm einiges erklärt, über Australien an sich, diese Schule ohne Gebäude, das Hin- und Herhüpfen im Outback, der Fachbegriff dafür lautete natürlich Teleportation, die Traumzeit und vieles mehr, aber er wusste nicht richtig, ob er begriff, was die beiden Gestalten, die in der stechenden Sonne schwitzten, vorhatten zu tun. Begleiten? Was sollte das bedeuten? Den Arm anbieten und davon schreiten? Lächerlicher Gedanke, tief in seinem Inneren war ihm klar, dass er - obwohl schon lange her - Zeuge eines unglaublichen und unfassbaren Ereignisses werden würde.

"Nein, das habe ich nicht. Aber ich bin eines. Gut, ich bin einverstanden."

Joaquin nickte zufrieden. Dies und nichts anderes hatte er erwartet. Geschmeidig erhob er sich. "Du weißt, ich bin kein Freund von Verzögerungen. Steh auf."

Aniram rappelte sich ebenso hoch und fragte sich jetzt verzweifelt, wie diese Auseinandersetzung aussehen mochte. Es gab keine klare Definition. Sicher, es war ein Vorgang, bei dem der Betroffene ein negatives Erlebnis aufzuarbeiten hatte. Es war ein Vorgang, für den er einen Begleiter benötigte. Aber da jeder in einer anderen Zeit, unter anderen Gegebenheiten landete, anderes erlebte oder erfuhr, gab es kein Allgemeinrezept, das sofort auf jeden anwendbar war.

Sie verließ sich hundertprozentig auf Joaquin, der jetzt vor ihr stand und verlangte:

"Schlag mich."

Ungläubig riss sie die Augen auf. "Schlagen? Ich? Dich? Niemals!"

"Du wirst mich schlagen, da gehe ich jede Wette ein."

"Nein, das werde ich nicht, denn..."

Keuchend stand sie da und konnte ihren Satz nicht beenden. Denn vor ihr stand nicht mehr Joaquin, sondern Marquis de Sade. Der unendlich langsam seine Peitsche durch die Hand zog, sie wieder zusammenfaltete, vor sein Gesicht hielt und lasziv mit der Zunge darüber leckte.

‚Tja, Sev, soviel zu deiner spitzen Bemerkung, ob dieser durchgeknallte Haufen Metamorphmagi sind.'

"Dein Blut", hauchte er. "Und jetzt schlag mich. Sonst weiß ich doch, dass unser frisch gefangenes Täubchen Angst vor mir hat. Nicht wahr, meine Freunde?"

Beifall heischend drehte er sich einmal um sich selbst und der Raum war wieder da, die Zuschauer, das... Ding, worauf sie gefesselt worden war.

"Nein, nein, nein", wimmerte sie. "Nein, ich werde dich nicht schlagen, ich weiß, dass du Joaquin bist."

"Bist du dir dessen so sicher?" Lauernd ging er auf sie zu und Aniram wich keuchend zurück, nickte aber beharrlich.

"Tatsächlich?" Urplötzlich trat glitzernde Kälte in seine Augen. "Ich bin mir sicher, du wirst es genießen. Wenn ich dich erst einmal so richtig", kunstvolle Pause, "herumgereicht habe, wirst du dich nach meiner Peitsche sehnen."

Er stand jetzt ganz nah vor ihr und mit einem mörderischen Grinsen senkte er seine Peitsche nach unten, legte sie an ihr Bein und fuhr unter ihren Rock. Zentimeter um Zentimeter hob er ihn an.

Zufrieden registrierte er, dass sie immerhin schon die Fäuste ballte. Aber ihn erstaunte, dass sie immer noch nicht zuschlug. Sie legte im Angesicht dieser schrecklichen, neuen Erfahrung eine unwahrscheinliche Selbstbeherrschung an den Tag. Das war bewundernswert, aber bei diesem Vorhaben leider fehl am Platz.

"Das gefällt dir, hm? Du hast es genossen, du Dirne. Und soll ich dir was sagen, deine Knospe hat köstlich geschmeckt." Mit diesen Worten leckte er seinen Mittelfinger an, hauchte einen Kuss darauf und wollte ihr zwischen die Beine fassen.

In diesem Moment schlug sie zu. Ihre Faust knallte in sein Gesicht, begleitet von unflätigen Worten. Seine Arme fegte sie beiseite, als wären es lose herumhängende Streichhölzer. Sie bearbeitete nicht nur das Gesicht mit ihren Fäusten, sondern den ganzen Körper.

Wenn sich Snape über eines wunderte, dann nur darüber, dass dieser Joaquin sich schlagen ließ, bis er höchstwahrscheinlich grün und blau aussehen würde. Weder hob dieser ominöse Mann die Hände vors Gesicht noch schlug er zurück.

Aniram explodierte förmlich. Dieses Erlebte noch einmal erleben - es war einfach zuviel. Sie konnte dieses Gesicht nicht mehr sehen, musste es ausmerzen. Wenn sie etwas nach vorn peitschte, waren es Wut und Angst.

Ihr Gefühl für Raum und Zeit hatte sich vollständig aufgelöst. Ihre linke Hand hatte sich in sein Haar gekrallt, sie hielt den Kopf fest und schlug immer und immer wieder zu. Sie riss das Knie hoch und rammte es in seinen Unterleib. Äußerst befriedigt registrierte sie sein Stöhnen, Aufbäumen und Zusammenklappen. Mit ihrer Faust bearbeitete sie den Solarplexus und die Kinnspitze. All das schien noch nicht zu genügen, denn er stand immer noch aufrecht und kippte nicht. Aber genau das wollte sie erreichen.

Kurzerhand beugte sie sich nach unten und hob den schweren Kessel auf. Mit der rohen Manier eines Rugby-Spielers donnerte sie ihn an diesen Kopf, in diese grässliche Visage, die sie bis zur Unkenntlichkeit zermantschen wollte. Brei sollte das werden - beileibe keiner, der essbar war. Nein, irgendein Stampf, der von anderen als eklig angesehen und anschließend verbrannt werden würde. Diese Vorstellung gab ihr neue Kraft und es dauerte nicht lange und der Kessel landete überall. Denn nur das Gesicht zu verbrennen, dies erschien ihr viel zu wenig. Es erschien ihr viel zu human, irgendein Stück Körper unbeschädigt zu lassen.

Ihr Atem ging rasselnd, sie keuchte und ihre Schläge wurden lahmer. Der schwere Kessel traf auf den Körper vor ihr und ihre Arme arbeiteten wie ein Pumpenschwengel. Unablässig schlug sie zu. Inzwischen hatte der Kessel etliche Beulen aufzuweisen und ihr Gegenüber machte jedem Dalmatiner ernsthaft Konkurrenz. Aniram schwitzte und taumelte. Der Kessel entfiel ihren schweißnassen Händen und sie selbst schlug der Länge nach hin.

Joaquin konnte nicht schnell genug reagieren, um sie aufzufangen. Dazu war er von der Wucht, die ihn getroffen hatte, viel zu sehr überrollt. So konnte er nichts weiter tun, als sie - ebenso keuchend und schwitzend - in seinen Umhang zu hüllen und in den Schatten zu schleifen. Er war sich sicher, dass sie sich bis morgen nicht mehr rühren würde.

Zusammengekrümmt kniete er neben ihr nieder. Sein ungläubiger und schräger Blick glitt über ihren Körper. Dann schüttelte er erst den Kopf, anschließend sich selbst.

"Schlagen, Aniram, schlagen. Nicht zermalmen."

Sein Instinkt sagte ihm aber, dass sie auf dem richtigen Weg war. Es war nur fraglich, wie lange er das durchhielt, sich so durchprügeln zu lassen. Er hoffte, dass es nicht zu lange dauerte, bis sie den Grundtenor dessen begriff, was sie hier taten. Dass irgendwann ihr rationaler Verstand über die primitiven Instinkte die Überhand gewann. Dann erst würde sie in der Lage sein, "es" aufzuarbeiten. Im Augenblick jedoch wurde sie von blanker Wut beherrscht, von blindem Killerinstinkt nach vorn getrieben. Sie agierte einer Tötungsmaschine gleich, bei deren Programmierung man das GAME OVER vergessen hatte. Seine Nase sagte ihm, dass sie immer noch weitermachen würde, hätte sie die Kraft dazu.

Fest stand, dass er einen Schmerz stillenden Trank benötigte. Unbedingt. Der musste sein, wenn er schon nicht vorhatte, sich die Blessuren wegzuzaubern. Kaum hatte er daran gedacht, machte er eine Bewegung vor sich in der Dämmerung aus. Aus seiner Position blickte Joaquin in das gelassene Gesicht seines Direktors.

"Brauchst du Hilfe, mein Junge?"

Wahrscheinlich war Joaquin wirklich ein Junge, denn der erschienene Mann war ein Riese. Hatte er Joaquin schon so ungefähr auf zwei Meter geschätzt, dann wollte er lieber keine noch so vorsichtige Schätzung abgeben, wie groß er war. Aber vielleicht machte es Sinn, weshalb dieser Joaquin mit "Junge" ansprach. Zwar wusste er nicht, wer das war, aber eine solche Anrede unter Kollegen - undenkbar. So verrückt konnten nicht einmal diese Australier sein.

"Nein, es geht schon."

"Du und dein verdammter Stolz, Joaquin. Glaub mir, irgendwann ist der falsche Zeitpunkt dafür. Du vergisst, wer ich bin und was ich bin. Also lass dir helfen. Oder glaubst du ernsthaft, dieser Drescherei noch einige Tage ohne Hilfe die Stirn bieten zu können?"

Joaquin wollte lachen, aber es ging nicht. Alles tat ihm weh. Ergeben und auch einsichtig nickte er.

Der andere Mann, der im Knien immer noch um zwei Haupteslängen größer war, begann, seinen linken Ärmel aufzukrempeln. Joaquin tat dasselbe. Dann packte ein jeder den Ellenbogen des anderen. Eine Weile geschah nichts. Dann, kaum sichtbar, wurden beide von einer grünlich schimmernden Blase eingehüllt. Ihr Ursprung war die Verbindung ihrer Arme. Langsam schob sich zwischen beiden diese zart schimmernde Wand hoch und stülpte sich über sie wie eine Glocke.

Es mutete Snape mehr als seltsam an - und er wusste wirklich nicht, wie oft er dieses Wort heute schon gedacht hatte - als er sah, dass Joaquin seine Stirn an die Brust des großen Mannes bettete und irgendwann befreit aufstöhnte.

Die Glocke verschwand. "Besser?"

"Irgendwie hab ich das Gefühl, du hast mir mehr als die Hälfte abgenommen."

"Ja, ich bin auch mehr als die Hälfte, vergiss das nie. Ob du mich brauchst und rufst oder nicht, ich werde immer nach dir schauen, bis es ausgestanden ist. Was meinst du, hat sie die Kraft?"

Joaquin musste nun doch grinsen. "Schau mich an, dann weißt du es. Sobald sie nicht mehr nur ausschließlich von ihren Emotionen getrieben wird, sondern ihr Verstand wieder arbeitet, wird es ausgestanden sein." Übergangslos wurde er ernst. "Doch, ich glaube schon."

"Glauben oder sicher sein, Joaquin?" Damit war der große Mann verschwunden.

Joaquin blieb mit offenem Mund zurück, wie ein kleiner gescholtener Junge. Genau diesen Satz hatte er zu Aniram gesagt. Es gab kein "glauben". Es gab nur "sicher sein".



Kapitel 30 - Ans Licht


Das Toben, Kreischen und Prügeln dauerte ganze drei Tage. Es dauerte länger als erwartet. Länger als erhofft? Eine Definition "länger als geplant" durfte bei einer Aufarbeitung nicht einmal in Betracht gezogen werden. Das Ausmaß dessen, was sie von sich gab, zeigte Joaquin überdeutlich den riesigen Grad ihrer inneren Zerrissenheit, ihrer Scham und ihrer Wut.

Ihr Antlitz glänzte vor Schweiß, die Haare waren nass und die Locken klebten im Gesicht. Dies alles und ihr fanatischer, beinahe irrer Blick ließen sie wie ein wildes Tier aussehen.

Wenn sie nicht mehr konnte, brach sie wie vom Blitz gefällt zusammen und schlief wie eine Tote bis zum nächsten Tag, um dann von vorn zu beginnen. Längst schon hatte sie solche weichen Gegenstände wie ihre Fäuste oder den Kessel gegen andere Gerätschaften ausgetauscht.

Wenn es nicht bald *klick* machte, würde es zu spät sein. Zu tief schon hatte sie sich hineingesteigert und fand immer noch Gefallen daran. Auch daran, wie sie mit Worten umging.

Die gottverdammte, hässliche Visage polieren, bis nichts mehr erkennbar sei. Den Hieb zwischen seine Beine mit der hämischen Bemerkung kommentieren, dass es wohl lange kein Rührei gegeben habe.

Das Wissen, dass er ohne seinen abendlichen Besuch schon längst im Sand liegen und nicht mehr aufstehen würde, machte es auch nicht besser. Zu viel Hoffnung hatte er in ihren klaren Verstand gesetzt.

Kaum grub sich das Wort klar in seine Gedanken, pfiff er sich und seine Erwartungen zurück. Auf ihrer ersten Reise hatte Aniram etwas erlebt, das man niemandem wünschte. Für ein vierzehnjähriges Mädchen war das verdammt viel, es war ZU viel - und trotzdem stand sie hier.

Demnach musste sie über die vorausgesetzte mentale Stärke und innere Disziplin verfügen, weil sie es sonst nicht geschafft hätte, nach Hause zu kommen.

Diese Überlegungen ließen ihn so handeln, wie er handelte. Mit etlichen Illusionszaubern peitschte er sie wieder und wieder hindurch, obwohl es ihm sehr schwer fiel. Doch mit seiner Zustimmung, sie als Pendant anzunehmen hatte er gewusst, worauf er sich einließ.

Die Erinnerung an seine erste Reise arbeitete sich empor, an die sich unmittelbar daran anschließenden beinahe außerkörperlichen Erfahrungen. Joaquin wusste, sie war irgendwo, nur nicht dort, wo sie eigentlich hingehörte. Er ließ sie toben, weil er wusste, dass sie erst damit fertig werden musste.

Das alles änderte nichts an der Tatsache, dass sie mit diesem Zorn und dieser Wut gefährlich nahe an die Grenze zum Irrsinn stieß. All seine Hoffnung saß darin, dass sie kurz vor dem Überschreiten dieser Grenze umkehren möge. Beinahe wünschte er sich, er hätte sie nicht überredet zu kämpfen. Aber es war SEINE Aniram, verflucht!

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Anirams Gedankenwelt hatte sich verselbstständigt. Ihr rationales Bewusstsein hatte sich verabschiedet und ihr klares Denken war verschwommen. All das hatte etwas anderem Platz gemacht. War es Wissen oder lediglich Ahnung, dass unbändige Wut wie glühende Lava durch ihre Adern schoss? Sie konnte es nicht konkret sagen, denn zu sehr war sie damit beschäftigt, ES auszumerzen. Sie drosch drauflos, als würde sie dafür bezahlt.

Es gab Momente, an denen sie vom Gefühl beherrscht wurde, ihr Körper wäre zu winzigen Partikeln zerstoben und hätte sich in Luft aufgelöst. Manchmal glaubte sie, eins mit der Umwelt zu sein. Alles war zur gleichen Zeit unrealistisch und doch überdeutlich. Ihre losgelösten Gedanken flatterten genauso ziellos wie ihre Arme zwischen Fantasie und Wirklichkeit, zwischen Traum und Wachsein hin und her.

Ihr Gehirn arbeitete, aus ihrem Unterbewusstsein kroch etwas hervor, das ihr sagen wollte - he, ich bin auch noch da, schalt mich ein.

Mühsam und mit enormem Kraftaufwand versuchte sie, diese Zustände einzuordnen.

Was tat sie eigentlich?

Warum tat sie es?

In genau einem solchen Moment übernatürlicher Klarheit rastete etwas in ihr ein und platzierte alle Sinneseindrücke an die richtige Stelle.

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Urplötzlich hielt sie inne und schaute ihr reichlich malträtiertes Gegenüber verdutzt an. Der kräftige Holzstock entglitt ihren Händen. Sie ließ ihn fallen, als hätte sie eine Klapperschlage in der Hand gehalten. Dann legte sie den Kopf auf die Seite und starrte ihn mit engen Augen an. Ihr Kopf kam nach oben und sie drückte ihren Rücken durch, als hätte sie einen ganzen Eukalyptusbaum verschluckt. Verachtung und beinahe ein unterschwelliges Mitleid klangen aus ihrer Stimme.

"Du bist es nicht wert, dass man mit dir dieselbe Luft atmet. Du bist ein Nichts, ein Niemand. Also verschwinde."

Aniram wandte sich ab, ging einen Schritt und schaute zurück.

Joaquin bebte und hoffte, dass sie es geschafft hatte. Aus diesen wenigen Worten konnte er keinen eindeutigen Erfolg ableiten. Sollte sie es geschafft haben, wollte er um alles in der Welt kein Umschwenken. Dann würde sie nie mehr sie selbst sein.

Taumelnd stand er da, unfähig sich zu bewegen, als sie sich ihm langsam näherte. Ein merkwürdiges Funkeln trat in ihre Augen. Mit einem blitzschnellen Griff legten sich die Finger ihrer rechten Hand um seine Kehle und drückten zu.

"Junge, schaff deine elende Fresse hier weg."

Zur Unterstützung klopfte sie mit den Fingerknöcheln der Linken noch an seine Stirn. Als ob ihm nicht schon alles weh genug tun würde.

"Du machst dich gut als Schießbudenfigur. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass Schönheitsflecken out sind?"

Mit diesen Worten ging sie zu Boden.

Joaquin konnte nicht rechtzeitig genug hinzuspringen um sie aufzufangen. Mit einiger Verspätung hüllte er sie in seinen Umhang und schleppte sie in den Schatten.

Erst dann ging er in die Knie und wartete. Noch bevor er dieses altbekannte Flirren vor sich ausmachen konnte, begann er damit, den Ärmel seines linken Armes hochzukrempeln.

Wie aus dem Nichts tauchte auch schon der Riese auf. Snape fragte sich, welche Rolle er in diesem Spiel innehatte. Bis auf die der Person, die beide für eine gewisse Zeit in eine grün schillernde Blase hüllte.

Außerdem wurde ihm nachträglich schlecht. Warum zeigte sie ihm das? Wollte sie plastischer als es mit Worten möglich war zeigen, wie gut sie sich prügeln konnte? Wollte sie ihm verdeutlichen, was man unter "Schmerzteilung" verstand? Doch sein Schmerz war nicht mehr frisch, er war alt und vernarbt. Genauso wenig konnte er sich vorstellen, ihr Pendant zu sein mit allem was dazugehörte. Sollte er sie genauso verprügeln? Nein, unmöglich.

Das machte keinen Sinn. Gespannt lauschte er weiter.


Beide Personen verloren nicht viel Worte, sondern legten ihre Unterarme aneinander. Mit einem leisen Sirren schob sich die Wand zwischen beiden empor und stülpte sich über sie. Diesmal dauerte es lange, bis Joaquin befreit aufatmete. Dann sank er zurück und setzte sich auf seine Fersen.

Sein Gegenüber legte den Kopf schief. "Nun?"

Er nickte langsam. "Sie ist durch. Komplett. Mit einer Wucht..., ich sage dir, das Mädchen hat einen Schlag am Leib, der hat sich gewaschen."

Lachen. "Man sieht es."

Betroffen schaute Joaquin auf seine Hände. "War ich auch so?"

Weil der große Kerl ihm den Rücken zuwandte, sah Snape nur bebende Schultern, bevor sich die Geräuschkulisse um ein fröhliches Grunzen erweiterte.

"So in etwa. Damit muss man rechnen, wenn man ein Pendant erwählt. Du hast sehr überstürzt gehandelt und kanntest das Risiko. Du weißt, was alles dazu gehört. Selbstverständlich ist alles von Fall zu Fall unterschiedlich, weil ein jeder auf anderen Pfaden wandelt. Die Clans sind zu verschieden. Aber je gegensätzlicher die Clans, desto heftiger die Auseinandersetzung. Desto größer ist aber auch die Garantie, dass es keinen Rückfall gibt. Aber - kannst du nicht wirklich mal diese Fresse aus der Welt schaffen? Und was ist mit den Blutergüssen?"

"Nein." Joaquin antwortete energisch. "Beides bleibt. Ich will wissen, wie sie reagiert, wenn sie aufwacht und DAS immer noch sieht. Ich will wirklich wissen, ob DAS Luft für sie ist." Er deutete sich ins Gesicht.

"Ich verstehe. Ich hoffe nur für dich, dass sie nicht endlos schläft."

"Egal wie lange es dauert, ich werde warten."

"Ich weiß. Es wäre Wahnsinn, dir was anderes einreden zu wollen. Lass es mich wissen, wenn wir alles vorbereiten sollen."

Snape hörte einen alt vertrauten Unterton heraus. So würde Albus mit ihm sprechen. Eventuell. Wer war dieser Kerl? Wieso bediente er sich derselben Worte wie Aniram? Von wegen Fresse aus der Welt schaffen? Er hoffte, darauf noch eine Antwort zu erhalten. Diese Person schien ihm jedoch Joaquin gegenüber höhergestellt. Sein Umgang ließ darauf schließen. War das vielleicht sein früherer Lehrer?

Joaquin nickte abwesend und richtete seinen Blick auf Aniram, die im Sand lag. Nur ein leichtes Heben und Senken des Brustkorbes deuteten darauf hin, dass sie noch lebte.

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Er musste wohl eingenickt sein und das ärgerte ihn maßlos. Nicht den kleinsten Gedanken hatte er an Aufputschmittel verschwendet. Das war leichtsinnig. Joaquin war zur Seite gekippt und lag nun wenig elegant im Sand. In Sekundenschnelle schoss er hoch und schaute sie an. Die Dämmerung setzte bereits wieder ein und sie schlief immer noch. Er ging davon aus, dass sie sich gesund schlief.

Gerade, als er zur Überlegung ansetzte, sich einen Trank bringen zu lassen, weil sie es wirklich geschafft hatte, den Kessel unbrauchbar zu machen, rührte sie sich. Zuerst zaghaft, dann immer ausgiebiger. Gespannt wartete er auf ihre Reaktion. Wer da neben ihr saß, war immerhin noch erkennbar.

Aniram gähnte herzhaft und streckte ihren Körper. Warum nur wurde sie dabei behindert? Ah, ein Umhang. Umhang. Oh, die Reise. Anschließend dieser losgelöste Zustand, den sie nicht definieren konnte. Sie blinzelte noch einige Male schwerfällig mit den Augen und hatte Mühe, das Puzzle vollständig zusammenzusetzen.

Dann erst nahm sie die Gestalt neben sich wahr. Aber irgendetwas war komisch. Etwas war nicht so, wie es sein sollte. Merkwürdige Konturen hatte die Gestalt. Dann ging ihr ein Licht auf.

"Joaquin, wo ist dein Umhang?"

Sein Herz machte einen Hüpfer. "Du liegst darauf. Wenn ich bei Gelegenheit um mein Eigentum bitten dürfte?"

Snape kam dieser Satz sehr bekannt vor. Hatte er ihn nicht haargenau so ausgesprochen? Damals, als er sie ins Freie geschleppt hatte?

"Öh, ja, klar." Aniram rappelte sich hoch. Der Umhang glitt von ihren Schultern und sie mühte sich redlich ab, ihren Hintern da herunter zu bekommen. Kurz vor seinem Gesicht erstarrte sie und blinzelte erneut.

"Joaquin, was ist passiert? Warum bist du so... bunt und dick?"

Sie benutzte diese sehr höfliche Umschreibung für sein in allen Regenbogenfarben schillerndes Gesicht.

"Das warst du."

"Ich? Das ist nicht dein Ernst. Womit, ich meine, ah ja, Moment, ich sollte dich schlagen. Ab dann weiß ich nichts mehr konkret. Mann, ist das normal, dass man nach dem Aufwachen erst mal Mühe hat, sich zu orientieren? Wie lange war ich eigentlich weg?"

Joaquin lachte. "Fünf Tage, also länger als im künstlichem Koma. Selbstverständlich fehlt einem nach dem Aufwachen die Orientierung. Immerhin ist in den letzten Tagen nichts normal gewesen. Auf dich stürmte so vieles ein. Vergiss nicht, du standest vor der Aufgabe, zwischen Realität und Illusion zu unterscheiden. Und das, meine Liebe, hast du sehr tatkräftig herauszufinden versucht." Joaquin grinste halbseitig.

Aniram klappte der Unterkiefer herunter.

"Tja, bunt ist wirklich ein schicker Ausdruck, schon beinahe trendy. Darf ich die Tatwerkzeuge vorstellen?"

Er hob Kessel, Steine und Holzstöcke an.

"Oh weh, ich habe dich mit deinem Kessel geschlagen?"

Alles andere war nebensächlich, aber der Kessel!

"Ja, und nicht zu knapp. Der ist nicht mehr zu gebrauchen. Ich muss dir wohl nicht erst sagen, dass das eine Sonderanfertigung war, oder? Normgröße sieben gibt es nirgendwo."

Aniram schüttelte immer noch entsetzt den Kopf.

"Das kann ich einfach nicht glauben."

"Oh doch, das kannst du ruhigen Gewissens glauben."

Noch immer wartete er auf eine Reaktion. Sie sprach ihn immerhin die ganze Zeit mit seinem richtigen Namen an, obwohl er in der Maskerade von de Sade vor ihr saß.

"Darf ich deine blauen Flecken wenigstens wegzaubern?" Von Gewissensbissen geplagt stellte Aniram diese Frage. Aber ihr Gewissen wurde gleich wieder ganz ruhig, denn er hatte ihr befohlen, ihn zu schlagen.

Er gab eine Antwort, mit der sie nicht wirklich gerechnet hatte.

"Gerne, wenn es dir Spaß macht. Allerdings müsste ich mich dazu ausziehen, denn du siehst nur ein buntes Gesicht. Glaub ja nicht, du hast vor irgendwas Halt gemacht."

"Oh, zeugungsfähig bist du aber noch, oder?"

Trotz seines lädierten Zustandes musste Joaquin lachen. "Ich werde es dich wissen lassen."

Snape schüttelte den Kopf. Diese Australier waren ein merkwürdiges Volk. Es gehörte scheinbar zur Normalität, sein Privatleben öffentlich zu machen. Egal, worum es ging. Ansatzweise hatte er begriffen, wozu diese Aufarbeitung gut war und warum sie darüber gesprochen hatte. Auch wenn ihn große Verwunderung ergriffen hatte, dass die Zielperson ausgerechnet ein Mann war.

Noch langsamer kroch in sein Bewusstsein, was sie mit dieser Schmerzteilung sagen wollte. Er dachte daran, dass sich ihr Zauberstab in seinen Händen seltsam vertraut angefühlt hatte. Sein Leiden - ihr Leiden... Wenn er die Anwesenheit und die Tat des Riesen richtig interpretierte, dann ging es um irgendeine Art der Teilung.

Doch wie wollte sie das mit ihm fabrizieren? Sie hatte Joaquin gehabt, der wiederum den Riesen benötigte.

Es dauerte lange, aber er glaubte zu verstehen.


"Ach, du bist einfach ein Schatz." Damit raffte sich Aniram hoch und umarmte ihn. "Aber ich helfe dir trotzdem, ja? Bei Sekila hab ich genug gelernt. Kannst auch angezogen bleiben. Die Tiefe schaff ich."

"In Ordnung. Was würdest du anwenden?"

Begeistert sprang Aniram auf und schnappte sich ihren Zauberstab. "Wie wäre es mit ‚Nolens volens'?" Ein breites Feixen. "Oder aber mit ‚Fiat lux'? Was meine Wenigkeit betrifft, dann natürlich ‚Per noctem ad lucem'."

"Du kannst wieder Blödsinn machen. Latein sitzt auch noch. Das beruhigt mich wirklich ungemein, lässt aber meinen sonnengebräunten Teint immer noch bunt zurück."

"Klar."

Aniram baute sich über ihm auf. Wenn sie schon seinen wundervollen, überaus wertvollen und einzigartigen Kessel demoliert hatte, wollte sie wenigstens für die Beseitigung der Kollateralschäden verantwortlich zeichnen. Ihren Zauberstab richtete sie auf seinen Kopf. In immer größer werdenden Kreisen zog sie eine Art Spirale um Joaquin. Ihre linke Hand bewegte sich dabei vor seinem Gesicht auf und ab.

"Ascompela nokh!"

Kaum waren diese Worte verklungen, materialisierte sich die Spirale silbern schimmernd. Sie weitete sich wie ein Halo aus und nahm an Helligkeit zu. Bevor sie ihre linke Hand erreichte, schlug sie damit hinein und zurück blieb diffuser Nebel, der sich mit einem dumpfen Knall auflöste.

Scheinbar brauchten Australier für ihre Zauberei entweder keinen Spruch oder sie benötigten dafür Stab, Hände und Füße zur gleichen Zeit. Fest stand, dass gegen das, was er soeben gesehen hatte, dieser Erstarrungszauber für den aus dem Kessel gekrochenen Picasso wirklich einfach war. Sie hatte ihm damals erklärt, es wäre ein simpler Zauber. Ob darin der Unterschied bestand? Dass sie die Schwierigkeitsgrade nach dazugehörigem Einsatz der Hilfsmittel definierten?

Fest stand, dass Joaquin nicht die kleinste Blessur mehr aufwies. Weder Albus noch Madam Pomfrey würden so etwas mit einem einzigen Spruch zustande bringen. Nein, auch Albus nicht.

Joaquin nieste. "Nicht übel, meine Kleine. Wirklich nicht übel. Sekila sollte einen Ordnen bekommen."

"Na aber, aber, und die anderen Lehrer? Keinen? Ich glaube, ich bastle für alle einen. Und jetzt, mein Lieber, tu mir einen Gefallen und schaff diese Larve aus der Welt. Ich weiß, dass du es bist, okay?"

Er lächelte, heilfroh, wieder als Joaquin auftreten zu dürfen.

"Und jetzt?"

"Augenblick."

Aniram wartete geduldig und sah Joaquin an. Dessen Antlitz wirkte auf einmal entrückt und starr. Nach einem kurzen Augenblick schlug er die Augen nieder und holte tief Luft.

"Jetzt sollten wir uns schleunigst umziehen, Mikele wartet."

Aniram war baff. "Wow, er weiß schon, dass du mich und ich dich...?"

Joaquin leistete sich ein Lachen. "Selbstverständlich. Ich bin SEIN Pendant. Jeden Abend war er hier, sonst hätte ich nicht durchgehalten."

"Tut mir immer noch Leid, Joaquin. Aber wenigstens bist du vorzeigbar. Nicht auszudenken, wenn dich jeder mit einem bunten Gesicht sehen würde."

"In der Tat, und mit einem dicken noch dazu. Grässliche Vorstellung."

Nach dieser Unterhaltung in leichtem Plauderton herrschte kurzes Schweigen.

"Wenn du in einem Jahr deine Prüfung ablegst, will ich ein anständiges Ergebnis sehen, verstanden?"

"Verstanden. Bis dahin wirst du mich schleifen, bis mir der Bauchnabel glänzt, richtig?"

"Verdammt richtig", Joaquin grinste über das ganze Gesicht.

Alles, nicht nur sprichwörtlich, sondern wortwörtlich alles würde er dafür geben, für einen einzigen Tag in einer australischen Haut zu stecken. Er schätzte, dass er sich nach vierundzwanzig Stunden nicht mehr wieder erkennen würde. Entweder hing diese Leichtigkeit, mit der sie über das Vergangene sprachen, mit der Aufarbeitung - und darunter zählte in seinen Augen alles vom gesprochenen Wort bis zur zuletzt gesehenen Handgreiflichkeit - zusammen oder dort unten hatten sie weitaus effektivere Zaubersprüche.

"Bis gleich."

"Aye, Sir!" Aniram salutierte zackig und knallte die Hacken zusammen.

Irgendwoher kannte er dieses Bild. Es zog vor seinem geistigen Auge auf und brüllte ihn förmlich an.

"Gut, dann sollten wir uns schnell nach Hause begeben, die zeremonielle Tracht anlegen und hoffen, dass der Ayers Rock heute nicht allzu sehr dem Tourismus ausgesetzt ist. Diese Japaner machen mir langsam aber sicher Angst. Sie sind so oberflächlich und nehmen sich nicht die Zeit, die Wunder der Natur in sich aufzunehmen. Fotos und ab. Plagegeister."

Muggel schienen in der Welt der Australier eine besonders große Rolle zu spielen. Snape wusste, dass das mit den Traumzeitreisen zusammenhing. Denn wenn sie sich ausschließlich auf magischem Terrain bewegen würden, wäre das alles nicht notwendig, das war nur logisch.

So aber mussten sie gegen und für alles gewappnet sein, was ihnen jemals über den Weg laufen konnte. Ihm selbst erschien es undenkbar, sich mit solch trivialen Randgebieten auseinanderzusetzen. Nicht umsonst rangierte der Muggelkundeunterricht in Hogwarts weit hinten. Zwar immer noch vor Wahrsagen, aber das wollte beim Vergleich dieser beiden Fächer nichts heißen.

Dieser Unterricht dort war so anders. Die Personen waren anders. Er glaubte nicht, dass das ausschließlich mit der Traumzeit und den Magnetfeldlinien zusammenhing. Da steckte mehr dahinter. Mehr, als sie bis jetzt gesagt hatte.

Aniram nickte und wusste für den Moment nicht, ob Joaquin sie mitnahm oder sie allein teleportieren sollte. Die Frage wurde ihr mit Joaquins Verschwinden beantwortet, ohne dass sie sie gestellt hatte.

Kurz beschäftigte sich Snape mit der Form der Kommunikation unter den Australiern. Verfügte dieser Joaquin gar über telepathische Kräfte? Anders konnte er sich die Menschenmenge um die Ayers Rock herum nicht vorstellen. Sie mussten gerufen worden sein.

Gerufen. Wie um das zu unterstreichen zwickte das Mal erneut.

Doch es waren beileibe nicht nur Magier in allen Altersgruppen, die er anhand ihres Umhangs identifizieren konnte, er sah auch schwarzhäutige Menschen. Obwohl er noch nie einen gesehen hatte, ging er davon aus, dass es sich um Aborigines handelte. Sie waren halbnackt und trugen im Gesicht Bemalungen. Sehr unterschiedliche sogar. Was dort vor ihm ablief war wesentlich spannendes als alles, was sie ihm bis jetzt erzählt hatte.

Aniram und Joaquin, die Hauptpersonen, traten in ärmellosen bronzefarbenen Gewändern in die Mitte. Mikele wartete bereits.

Der riesige Kerl war sogar noch mit einer zusätzlichen Schärpe in Grün angetan. Das war eine Farbzusammenstellung, die sein ästhetisches Empfinden störte. Irgendwie wirkte diese Kostümierung fehl am Platz. Wenn Australier für alles und jedes bestimmte Farben benötigten, dann waren sie ein sehr buntes Volk. Diese Tatsache würde natürlich ihre Aversion gegen Schwarz erklären.

Das streng vorgeschriebene Ritual begann und niemand würde etwas tun, ohne dazu aufgefordert zu sein. Zunächst richtete er das Wort an Aniram.