Kapitel 6 - Bertie Botts Bohnen


Vorbei. Endgültig.

Als wollte er diesen Entschluss tatkräftig unterstreichen, strich er sich mit der rechten Hand über das Gesicht.

Vorbei.

Seine Augen saugten sich für einen Moment an der Uhr fest.

Vorbei. Vorbei?

Von wegen! Das, was er jetzt am wenigsten brauchen konnte, stand noch auf dem Plan - die Lehrerkonferenz.

Alles in ihm kreischte. Eine Entschuldigung für ein Fernbleiben wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen und wann, bitteschön, hatte Professor Snape jemals irgendwo gefehlt?

Mit mühsam unter Kontrolle gebrachten Emotionen marschierte er in den Kampf, in dieses Wortgefecht, das er wohl oder übel über sich hereinbrechen lassen musste. Auf dem Weg dorthin schnaubte er verächtlich. Leider wusste nie jemand, wann die Konferenz zu Ende war. Der Schulleiter hatte seine eigene Art und Weise, über alles und nichts zu reden.

Mit wehendem Umhang fegte er durch die Gänge. Wenn ihm jetzt doch nur ein Schüler über den Weg laufen würde… Punkte, Punkte, Punkte. Ausnahmsweise lag alles wie ausgestorben vor ihm, keiner trieb sich in einer Ecke herum und bot entsprechende Angriffsfläche. Vor dem Wasserspeier angekommen, wanderte seine Augenbraue unwillig nach oben.

"Jalapeño!"

Kopfschüttelnd ließ er sich aufwärts befordern. Albus hatte wohl wieder eine von den scharfen grünen Bohnen erwischt. Er sollte nicht so viel naschen, dann müsste er nicht jede Woche das Passwort ändern.

Snape versuchte alles, um seine Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Weg von dieser Frage, die ihn kälter als der harte Brausestrahl getroffen hatte.

Ein lautes Plappern verriet ihm, dass er wahrscheinlich der Letzte war. Ein Novum. Mürrisch und unter kurzzeitig verstummten Gesprächen ging er zielstrebig auf seinen Platz am Kamin zu, wurde fast eins mit dem Sessel und ließ sich von Minerva Tee einschenken. Danach war er für eine ganze Weile für seine Umwelt nicht mehr wahrzunehmen.

Die Wut wühlte weiterhin in seinem Gedärm. Wenn die Teetasse etwas Lebendiges wäre, wäre sie unter seinen Blicken schon längst jämmerlich verreckt.

Unruhig erwartete er das Ende dieser Besprechung, um endlich mit dem Direktor unter vier Augen reden zu können. Nein, reden zu müssen.

Durch das Auftauchen dieser Hawkwing, die sich in seinem Unterricht und auch danach einfach so *peng* benahm, sah er sich seiner Einzigartigkeit beraubt. Nein, das Problem musste aus der Welt. Was für ihn im Klartext hieß: zurück nach Australien. Egal wie. Am besten gestern.

Schon wurden seine unliebsamen Gedanken von außen verbal tatkräftig unterstützt und er zuckte regelrecht zusammen. Flitwick äußerte sich mehr als enthusiastisch über seinen Neuzugang, offenbar vollkommen unbeeindruckt ob des Punktverlustes. Aber dieser Zauberer war so klein, er ging nicht mehr kleiner zu machen. Es sei denn, man zerlegte ihn in Einzelteile. Gegen seinen Willen überlegte Snape, ob er in der Fünften heute Zauberkunst gegeben hatte.

‚Ach was', unterbrach er sich unwirsch, ‚was geht mich das an?'

Als auch noch Sinistra das Büro des Schulleiters kurzzeitig in eine Supernova verwandelte und meinte, eine dermaßen grundlegende Kenntnis der Astronomie und sichere Beherrschung der Sternenkarte wären ihr noch nie über den Weg gelaufen, war es um ihn geschehen.

Die Teetasse entwickelte ein Eigenleben und klapperte unruhig auf dem Unterteller. Hastig stellte er sie auf den Tisch und vergrub sich noch mehr im Sessel.

Albus' einziger Kommentar war - nichts. Nur ein gütiges, weises Lächeln. Das allein genügte, um Snape ein geschnaubtes hrmpf zu entlocken.

Endlich, nach drei endlos währenden Stunden, war die Konferenz zu Ende. Seine Kollegen verließen das Büro und wünschten Albus eine gute Nacht. Welcher meinte, die werde er sicherlich haben.

Mit Argusaugen überwachte Snape den Abgang seiner Kollegen, um sicherzustellen, dass auch ja keiner zurückblieb. Schließlich war er mit seinem Vorgesetzten allein.

Dieser fischte in einer Schale mit Bertie Botts Bohnen in allen Geschmacksrichtungen und entschied sich für eine hellgrüne. Als sei diese Bohne das einzig lebende Objekt in seinem Büro meinte er zu ihr: "Nun, Severus, du hast doch was auf dem Herzen." Dann verschwand sie in seinem Mund.

"Hrmpf."

Ein Strahlen. "Limone! Einmal muss ich ja Glück haben. Also, sagen wir es anders, wie war dein Tag?"

Snape sprang auf. "Wie er war? Katastrophal!"

Albus rührte weiter in den Bohnen. "Inwiefern katastrophal? Was meinst du, soll ich blau oder rot nehmen?"

Snape fuhr sich mit den Händen durch die Haare und lief wie ein gereiztes Tier hin und her.

"Er war genauso katastrophal wie jeder Tag der vergangenen zwei Wochen. Albus, warum habe ich nicht mehr über diesen gigantischen, exotischen und unangenehm aufdringlichen Neuzugang gewusst? ICH bin meilenweit davon entfernt, sie in den Himmel zu heben."

Mit einer abgehackten Geste deutete er hinter sich, wo noch vor kurzem das Kollegium versammelt gewesen war. Anschließend unterbreitete er Albus seine persönlichen Erfahrungen mit Miss Hawkwing.

"Ich musste noch einen Umhang besorgen, so einen grässlichen schwarzen. Und Mentitum Mortem? Aber sicher, Professor. An wem getestet? An einem Mitschüler selbstverständlich. Und wir haben uns wegen Überstunden angestellt, weil wir ihn alle mal trinken wollten. Aber nicht doch, Professor, wozu brauche ich Bücher? Was ich wissen muss, habe ich im Kopf."

Snape war immer lauter und schneller geworden, während er ihr Verhalten und ihre Worte nachäffte. Die Abende sparte er bei seiner Schilderung aus. Als er damit fertig war, hielt er sich an des Direktors Schreibtisch fest, der immer noch ungerührt in den Bohnen wühlte, und schrie lautstark, als stünde er einem Tauben gegenüber.

"Aber damit nicht genug! Sie fährt mir in die Parade, wo sie nur kann. Sie bringt es fertig, mir in die Augen zu schauen, IN DIE AUGEN, Albus!! Außerdem ist sie mit ihrem Wissen so weit, dass sie eine Assistentin sein könnte, aber keine Fünftklässlerin!"

Der Direktor lehnte sich zurück und meinte: "Also diesmal gelb."

Snape war kurz vor dem Explodieren, als er registrierte, dass sich sein Vorgesetzter lediglich für die Farbe der Bohnen interessierte und seine Worte an ihm vorbei zu fließen schienen.

"Hörst du überhaupt zu?!" Seine Stimme bebte vor Zorn.

Dumbledore bemühte sich darum, ein amüsiertes Zucken seiner Mundwinkel zu unterdrücken. Als er zubiss sagte er: "Natürlich, Severus, natürlich höre ich zu. Oh, das mit dem Umhang war ich. Sie brauchte doch etwas zum Anziehen. Ähm, ich meine, etwas, das sie als Schülerin ausweist. Ich verstehe durchaus, sie hat an deiner Ehre gekratzt. Hm, Ananas."

Spätestens hier war der Zeitpunkt gekommen, an dem Snapes Stimme umkippte und in einem schrillen Diskant endete.

"SIE HAT NIRGENDWO GEKRATZT!"

Albus hustete. "Warum brüllst du dann das halbe Schloss zusammen? Ich muss sagen, deinem Herumtigern zu folgen ist schlimmer als sich ein Quidditchspiel anzusehen. Um genau zu sein, es macht mich nervös."

Vergnügt blitzten seine Augen auf und er blickte über seine Halbmondgläser auf seinen Freund. "Setz dich, Severus. Bitte."

Diese Bitte wurde mit so viel Bestimmtheit vorgetragen, dass sie wie ein Befehl klang und sich der Angesprochene wortlos auf einen Sessel plumpsen ließ.

Dabei bekam er nicht einmal richtig mit, dass er in einem Sessel saß statt auf einem Stuhl. Mit Daumen und Zeigefinger massierte er seine Nasenwurzel und fasste noch einmal - deutlich leiser, beinahe erschöpft - zusammen.

"Ein einziges Desaster. Albus, dieses Mädchen ist einfach… ich finde keine Worte dafür. Die Bibliothek kann ich umgraben wie ich will, es lässt sich nichts finden."

Er beugte sich nach vorn, stützte seine Ellbogen auf die Knie und legte seinen Kopf in die Hände. Mit geschlossenen Augen murmelte er erschüttert: "Und das noch drei Jahre. Drei Jahre."

Albus Dumbledore wusste genau, welches Drama sich in dem Mann vor ihm abspielte. Er, vor dem alle schlotterten und zitterten, den niemand mochte, der selbst im Kollegenkreis keine Freunde hatte, der trotzdem tagtäglich sein Leben aufs Spiel setzte, um auf die unwahrscheinlichste Art und Weise an Informationen zu kommen, die der Zaubererwelt das Überleben sicherten - dieser Mann fühlte sich vom Thron geschubst. Er wühlte weiter in der Schale, als stellte sie seinen ganzen Lebensinhalt dar.

"Hast du mir nicht ein bestimmtes Detail unterschlagen?" Gelassen entschied er sich für eine Bohne, die perlmuttfarben schimmerte.

Gereizt kam es: "Was sollte ich unterschlagen haben?"

"Erdnussbutter, hmm."

Dumbledores Blick glitt gelassen über die Porträts. Übergangslos, als spräche er mit ihnen, sagte er: "Du vergisst, wer ich bin. Nein, nein, nicht einfach nur Direktor. Offen und ehrlich gestanden kann ich mir nicht vorstellen, dass du so aus der Haut fährst, nur weil dir jemand in die Augen schaut oder erschreckend viel weiß. Also? Hm, die dunkelbraunen erinnern mich an Kaffee."

Snape hatte gedacht, es gut genug versteckt zu haben. Darüber hinaus machte der Schulleiter mit seiner Offenheit Miss Hawkwing Konkurrenz und schabte gnadenlos in einer Wunde herum. Schon wieder Hawkwing! Ihm wurde bewusst, wer da vor ihm saß und dass sich dieser Jemand nicht mit Plattheiten und Oberflächlichkeiten abspeisen lassen würde, sondern eine klare Antwort verlangte, unerbittlich. Und dieser Jemand würde so lange sitzen bleiben, bis er sie bekam. Mit geschlossenen Augen atmete er tief durch und konnte während dessen ein kleines Seufzen nicht unterdrücken.

"Sie hat mich heute gefragt, ob ich ein Todesser war."

Dumbledore zuckte innerlich zusammen und stellte sein Wühlen unverzüglich ein. Oh, DAS saß wirklich tief. Vorbei mit der Spielerei. Mit ruhigen Bewegungen stellte er die Schale mit den Bohnen beiseite.

"Todesmutig, oder?"

Snape bellte heiser: "Natürlich, ich weiß nur noch nicht so recht, ob sie Tod oder Mut bevorzugt. Sie scheint nirgendwo eine Grenze zu kennen. Hast es doch gehört", er wischte unbestimmt durch die Luft, als wären seine Kollegen noch anwesend, "Begeisterung auf der ganzen Linie."

Albus wiegte den Kopf.

"Hmhm, weißt du, ich würde mein halbes Leben dafür geben, ein Schuljahr lang in Australien zu unterrichten. Nach dem zu urteilen, was ich bis heute von den Kollegen gehört habe, nun", glucksend unterbrach er sich, "handelt es sich um ein sonniges Völkchen. Nicht unterzukriegen."

‚Du ahnst gar nicht, wie recht du hast', hämmerte es in Snapes Hirn.

"Ja", knurrte er, "sie reden sich mit dem Vornamen an und jagen sich gegenseitig um den Ayers Rock."

Diese Worte sorgten für einen ausgewachsenen Husten.

"Dann weißt du schon mehr als wir alle zusammen. Meinst du nicht auch, wir sollten die Gelegenheit am Schopfe packen und einen Australier", gefolgt von einem Kichern, "nun ja, etwas ausquetschen? Lernen, fragen, zusehen. Ja, schau mich nicht so ungläubig an. Bitte glaub mir, du kannst in der Bibliothek forschen wie du willst, du kannst sie zur Freude von Madam Pince auseinander nehmen und wieder neu zusammensetzen, du wirst nichts über Australien finden." Erschöpft holte er Luft. "Weil ich nämlich selber schon dort war."

Das allerdings überraschte Severus. Ein klitzekleines Lächeln, das überhaupt nicht zur Unterhaltung passte, stahl sich in sein Gesicht. Die Neugier und der Direktor… Welcher weiter sprach.

"Deine Worte vorhin", er unterbrach sich kurz und studierte seine Decke, "warum machst du sie nicht zur Assistentin?"

Hätte sich die Erde vor ihm aufgetan, Severus Snape hätte diese Tatsache durchaus als normal empfunden und wäre mit Begeisterung in dieses Loch gehüpft. So aber brachte er nach kaum überwundenem Schock nur ein Zischen zustande.

"Ich soll WAS?" Er glaubte immer noch, sich verhört zu haben.

Ein verschmitztes Zwinkern, das zweite schon an diesem Abend, kam als Antwort. "Denk einfach in Ruhe drüber nach."

Severus Snape schwor sich, nie und nimmer darüber nachzudenken. Abrupt stand er auf und wandte sich zur Tür. Er hielt kurz inne, wusste nicht, wie er sich ausdrücken sollte und drehte sich einfach nur um.

"Albus…", gefolgt von einer unbestimmten Handbewegung.

Der rührte wieder mit derselben Intensität in den Bohnen herum wie während des Gesprächs. Seine Worte wurden von einem leichten Nicken begleitet.

"Ist schon gut, wo soll man denn sonst seinen Unmut auslassen, wenn nicht bei einem alten, fast tauben Mann."

Er wusste, wie schwer es Severus fiel, sich zu entschuldigen, also nahm er ihm kurzerhand die Worte aus dem Mund.

"Danke." Es war fast unhörbar und Snape huschte leise aus der Tür.

"Schon gut, Severus, schlaf schön."

Dann strahlte Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore eine rote Bohne an. Mit einem verzückten Lächeln auf dem Gesicht kaute er laut schmatzend: "Hmmmm, Erdbeere. Ich glaube, ich sollte das Passwort ändern."

xxxXXXxxx

Aniram hatte Josy ins Bett geschickt, weil sie erbärmlich zitterte. Nur im Nachthemd herumzustehen war gewiss keine Freude. Sie murmelte ein leises Dankeschön. Sie selbst blieb auf dem Fensterbrett sitzen und dachte nach.

Eigentlich hatte sie sich fast verraten, als sie ihren Satz begonnen hatte, ich bin gespannt, wann… Sie aufgeben. Glücklicherweise hatte sie diesen Teil des Satzes rechtzeitig genug verschluckt. Ihr platze fast der Kopf noch immer sah sie keine Möglichkeit, aus dieser Misere wieder herauszukommen.

Scheinbar hatte sie mit dieser Frage eine schwelende Wunde noch weiter aufgerissen. Anders war sein Toben nicht zu erklären.

Fragend schaute sie wieder und wieder die Sterne an und als sie verblassten, weil die Morgendämmerung heraufzog, hatte sie ihren Entschluss gefasst.

xxxXXXxxx

Snape schlief ausgesprochen schlecht, genau genommen überhaupt nicht. Es war keine Seltenheit, dass er die Nächte durchwachte, aus welchen Gründen auch immer, aber heute war wohl das Ungeheuerlichste geschehen. Da wollte er sich lieber als Sadist bezeichnen als diese Frage so unvermutet auf sich zurollen lassen.

Es hatte ihn getroffen wie ein Henkersbeil. Dann noch Albus' Vorschlag, der wohl dem heute geöffneten Fass gehörig den Boden ausschlug. Assistentin. Schon allein das Wort tat weh. Dafür hatte er nur ein verächtliches Schnauben übrig.

Unausgeschlafen, mit Augenringen und nicht nur knurrig, sondern schon am frühen Morgen wütend, machte er sich auf den Weg.

Dieser Tag ging in die Geschichte Hogwarts ein, denn noch nie bekamen die Punkte-Uhren mehr zu tun. Selbst die Lehrer schluckten und Dumbledore strich daran vorbei und spielte ernsthaft mit dem Gedanken, Severus für die nächste Woche zu beurlauben.

xxxXXXxxx

Vor dem Fach Zaubertränke gab es kein Davonlaufen. Unglücklicherweise stand es fast täglich auf dem Stundenplan. Unglück allerdings nur in Zeiten der Ungnade - so wie jetzt.

Die Frage, für wen diese Tatsache ein Unglück war, hing wie ein überdimensionales Damokles-Schwert im Raum. Die Schüler bemerkten rasch die außerordentlich große Gereiztheit und kuschten, wo es ging.

Die Ravenclaws warfen Aniram verdächtige Blicke zu, wie Snape bemerkte. Voller Genugtuung malte er sich aus, was sie wohl schon abbekommen hatte oder noch abbekommen würde - aus den eigenen Reihen. Im Gegensatz zu sonst hielt sie ihren Blick gesenkt und ihm blieb nicht verborgen, dass ihre Arme zitterten.

"Schwach auf den Beinen, Hawkwing?"

Dann pfefferte er ihr eine Pergamentrolle unter die Nase. Sie würde wohl begreifen, dass das ein Trank war, den sie zu brauen hatte.

Aniram rollte das Pergament auf. Colchicin? War das seine Art zu sagen, du bist tot? Die Herbstzeitlose war im oberen Bereich der toxischen Pflanzen anzusiedeln und ihr Hauptbestandteil wurde in Tränken für Mord oder Selbstmord verwendet. Diesen Trank an sich zu brauen stellte schon eine Herausforderung dar, aber es war offensichtlich, dass er sie an ihre Grenzen stoßen wollte. Denn dazu benötigte sie einige Tage.

Sie schluckte schwer und machte sich an die Arbeit. Je eher, desto besser. Beim Arbeiten konnte sie abschalten. Es dauerte nicht lange und der Schweiß tropfte von ihrer Stirn. Schnell, schnell, schnell. Sie legte ein Tempo vor, als gäbe es einen Rekord zu brechen. Wenn überhaupt, denn sie konnte nur ihren eigenen brechen.

Tatsache war, dass sie, sehr zur Verwunderung ihrer Klassenkameraden, nicht ein einziges Mal aufschaute. Sie lief nicht herum und erklärte nichts. Nein, das erledigte heute alles der Zaubertrankmeister persönlich. Der wiederum das mittlerweile gewohnte Muster durchbrach, indem er keine Fragen an sie stellte. So manch einer kam ins Stocken und wollte fragen, aber sie hielt den Blick gesenkt und schaute kein einziges Mal hoch.

Snapes Freude schlug in Nachsichtigkeit um. Die größte Langeweile schwang in seiner Information mit.

"Für jeden zwanzig Punkte Abzug, der nicht innerhalb der nächsten drei Sekunden anfängt zu arbeiten."

Wahrhaftig, sein freundliches Wesen nahm immer großzügigere Ausmaße an. Als er endlich tief über die Kessel gebeugte Köpfe sah, rezensierte er mit beißendem Sarkasmus vor sich hin.

"Nun, Herrschaften, sind wir unserer Führung beraubt? Können Sie überhaupt noch irgendetwas OHNE gewisse Unterstützung?"

Wenn die Ravenclaws ehrlich vor sich selbst waren, dann war ihnen Anirams Erklärung wesentlich lieber. Das lag nicht nur an der Gleichaltrigkeit oder weil sie keine Angst haben mussten, einiger Punkte verlustig zu gehen, sondern weil sie erklärte. Sie erklärte und setzte nicht voraus.

Mit Ruhe und Geduld widmete sie sich den vor ihnen liegenden beziehungsweise blubbernden Aufgaben und Tränken, die sie scheinbar alle schon einmal gebraut zu haben schien. Sie fühlten sich doch auf eine merkwürdige Art und Weise geborgen und ihr Wissen vermittelte ihnen Sicherheit und darüber hinaus Triumph über die Slytherins. Vielleicht waren sie doch zu hart mit ihr umgesprungen.

Wer hatte denn auch schon die Stirn, Snape geradeheraus zu fragen, ob er jemals ein Todesser war? Bis jetzt noch niemand. Wussten sie überhaupt, was Aniram allabendlich fast zwei Wochen lang hier erdulden musste? Strafarbeit bei Snape war immerhin mit einem gewissen Qualitätssiegel versehen.

Mit ihrer gebrüllten Frage hatte sie schon Recht. Jeder stand so platt wie möglich mit dem Hintern an der Wand und wollte ja nicht auffallen, um einer Strafarbeit aus dem Weg zu gehen. Sie hatten sich nicht einmal erkundigt, was sie denn immer machen musste.

Jetzt, einer gewissen Sicherheit und eigentlich doch zuverlässigen Stütze beraubt, wurden sie schlichtweg planiert. Gnadenlos dem Erdboden gleichgemacht.

Von den Gedankengängen ihrer Mitschüler ahnte Aniram nichts. Sie schwitzte Blut zu Wasser, wirbelte sie vor sich hin und benötigte diesmal tatsächlich die volle Stunde, um den Trank fertig zu stellen. Aber er war fertig. Sie hatte in dieser Stunde das Letzte gegeben, das an Energiereserven noch da war. Ihr Arm schmerzte. Wie lange würde sie davon zehren können, ohne es aufzuladen?

Als sie den Gong hörte, fiel eine große Anspannung von ihr ab. Trotzdem blieb sie stehen, verunsichert, aber sie blieb stehen. Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, zog sie durch, bis es vollbracht war und sie Ruhe finden konnte.

Bis heute hatte sie es nicht geschafft, die Mentalität dieser ulkigen Europäer zu verstehen. Nach knapp zwei Wochen Aufenthalt in diesem ach so sonnigen Land konnte sie auch keine Wunder erwarten. Aniram gehörte nicht unbedingt zu den Menschen, die beim Verstehen wollen aufgaben. Sie musste verstehen, also bohrte sie weiter. So wie gestern.

Unsicher hob sie zum ersten Mal in dieser Stunde den Kopf und suchte mit ihren Augen ihren Lehrer. Er stand fast neben ihr, ebenfalls vor der ersten Bankreihe. Aniram sprach sich noch einmal Mut zu, packte ihre Tasche zusammen und räusperte sich leise.

Snape hatte aus dem Augenwinkel bemerkt, dass noch jemand im Raum war, aber dass ausgerechnet sie es war… Schon holte er Luft, um sie an selbige zu befördern.

Schüchtern fuhr sie sich ins Haar, strich einige widerspenstige Locken aus dem schweißnassen Gesicht und schaute ihn dann direkt an.

"Ich möchte mich entschuldigen. Ich… ich habe kein Recht, so etwas zu fragen. Mit meiner Frage habe ich Sie anscheinend tiefer getroffen als… als gedacht. Es… es war keine Absicht, nein, aber, es ist nur so, wir…", bevor sie weiter sprach, musste sie unbedingt ihre Stotterei unterbrechen.

Mitten in diese Pause hinein erreichte sie ein Tonfall, der sie glauben ließ, die Herbstzeitlose im rohen Zustand zu mampfen.

"Ah, die Göttin höchstselbst möchte sich entschuldigen?"

Der Zynismus in diesen Worten war kaum zu übertreffen. Er war im selben Maße ätzend, als tröpfelte man konzentriertes Gift auf die Haut und schaute zu, wie es sich seinen Weg hindurch fraß.

"Wieder ein neuer Versuch, den dämlichen Snape zum Kochen zu bringen?"

Es war nur noch ein leises Zischen übrig. Er wollte endlich Ruhe in seinem Kerker, wollte nicht mehr ihren Worten zuhören. Noch gestern hätte er sein ganzes Vermögen in die Wagschale geworfen, dass sie ihn NIE WIEDER ansprechen würde. Und jetzt?

"Nein, das möchte ich nicht", traurig sackte ihr Kopf nach unten und sich machte eine unbestimmte Handbewegung, "wir… wir gehen allen Dingen auf den Grund, wollen die Wahrheit wissen, tuscheln nicht herum und manchmal… manchmal ist es sehr gut, wenn man seinen Schmerz teilen kann. Je… jedenfalls", ihr Blick, der ständig weiter nach unten gewandert war, kam wieder nach oben, "es tut mir sehr leid."

Dabei klammerte sie sich mit aller Kraft an ihre Schulmappe, als wäre das ihr ganzer Halt.

Snapes Arm hing in halber Höhe, weil er ihren Oberarm packen und sie aus dem Kerker schmeißen wollte, als ihn noch ein gehauchtes "Sir" erreichte.

Für sie unerwartet fuhr seine Hand hoch und packte sie am Umhangkragen.

"Ich wüsste nicht, was ich teilen soll und außerdem glaube ich nicht, dass Sie sich über die Bedeutung des Begriffes Schmerz im Klaren sind."

Hätte sie doch lieber die Klappe gehalten. Dieses Volk war eine noch traurigere Naturerscheinung als ein grauer Regenbogen, den man versucht hatte anzupinseln.

‚Ignorant.'

Diese Tatsache bohrte sich tiefer und tiefer in Anirams Kopf. Natürlich wusste sie, was Schmerz war. Sie hatte ihn sowohl auf physischer als auch auf psychischer Ebene kennen gelernt. Bei einer Gelegenheit, die hier unbekannt war. In einem Alter, in dem man daran zerbrechen konnte. Solche Erfahrungen machte hier wohl niemand. Sie sah ein, dass sie auf diesem Weg nicht weiter kam.

"Befördern Sie endlich Ihr Gesicht aus meinem Blickfeld!"

Das hatte ihm noch gefehlt. Es stand für ihn außer Frage, dass sie irgendeine Show abzog, wie so oft. Dass ihm ausgerechnet eine Schülerin unter die Nase rieb, er müsse seinen Schmerz teilen, brachte ihn fast zum Durchdrehen. Fast? Es fehlte nicht mehr viel und er war soweit.

"Gehen Sie endlich. Oder haben Sie vergessen, wie man läuft?"

Aniram straffte sich. "Natürlich nicht… Sir."

Abrupt drehte sie sich um und lief so schnell wie möglich zur Tür.

Snape schickte ihr ein grimmiges, wütendes Knurren hinterher. Dieses ‚Sir' hatte wie ein Schimpfwort geklungen. Also hatte er recht gehabt mit seiner Einschätzung - sie war dabei, ihn von neuem zu veralbern.

Nachdem er mit einem unwirschen Wink seines Zauberstabes Ordnung in den Kerker gebracht hatte, begab er sich in seine Privatgemächer. Zum Glück befanden sie sich gleich nebenan. Seine augenblickliche Verfassung war nicht die beste und die felsenfeste Überzeugung setzte sich in ihm fest, dass er sich vergessen würde, sollte ihm jemand, irgendjemand, über den Weg laufen.

Müde ließ er sich in einen Sessel fallen. Was für ein Tag. Er hatte eigentlich schon gestern angefangen, dieser Tag. Heiser bellte er auf, vollkommen übernächtigt.

"Ha, Schmerz teilen… Dämlichkeit. Soll sich erst mal am Boden winden, damit sie weiß, was das ist."

Selbstgespräche musste er jetzt führen. Das hielt er für die beste Gruppentherapie. Wenn diese Selbstgespräche nichts halfen, konnte er immer noch den Kerker zertrümmern.

Entschuldigen. Erneut wurde er von Empörung bemächtigt. Sich so simpel entschuldigen. Glaubte sie wirklich, damit war es getan? Hatte sie eine entfernte Vorstellung von dem, was sie gestern gefragt hatte?

Natürlich, wenigstens das gestand er vor sich selbst ein, wusste sie nichts über sein Doppelleben. Aber dennoch - dieses ‚es tut mir leid'. Von ihm aus konnte es ihr leid tun bis in die nächste Eiszeit, das änderte nichts an der Tatsache, dass sie sich vielleicht vorher überlegen sollte, was sie fragte. So einfach funktionierte das nicht.

Er griff nach einer Rotweinflasche und schenkte sich ein Glas ein. Achtlos stürzte er es hinter.

"Verflucht, ha, es tut mir leid", murmelte er vor sich hin und schenkte sich sein Glas erneut voll.

‚Reiß dich zusammen!'

Verzweifelt versuchte er sich an seinen eigenen Befehl zu halten, aber eine innere Stimme widersprach vehement.

‚Nein, warum denn, ich bin hier allein, und da kann ich tun und lassen, was ich will. Basta. Zusammenreißen? Für wen und was denn?'

Er trank, diesmal wesentlich langsamer, und holte sich dieses eigenartige Gespräch zurück. Mit einem Aufschrei warf er das Glas in den Kamin. Warum nur immer wieder? Warum, wieso, weshalb?

Er kam sich vor, als stünde er zwischen zwei Leuten. Rechts Hawkwing, links Dumbledore.

Jeder von beiden hatte seine Art, ihm gegenüber beinahe normal aufzutreten. Fast war er versucht zu lachen. Was er jedoch bei Albus als normal akzeptierte, gipfelte in der Schülerin Hawkwing in Respektlosigkeit. Eine andere Definition fiel ihm nicht ein. Und DAS konnte er keinesfalls durchgehen lassen.

Ein Fakt ließ sich jedoch nicht leugnen, obwohl er mit aller Macht versuchte, ihn in einen weit, weit entfernten Winkel seines Gehirns zu stopfen - bis heute hatte er kein einziges Mal Lug und Trug in ihren Augen gesehen.

Es fiel ihm schwer, so zu denken. Daran zu glauben. Fast fühlte er sich verflucht. Als ob sich seine Gedanken auf einer gleich bleibenden Spirale bewegten, stieß er in regelmäßigen Abständen auf den Namen Hawkwing.

Wenn der Rest es nicht sah, blitzte sie ihn an. Sie dachte nicht einmal im Traum daran, die Augen niederzuschlagen. Bis heute. Verwunderung hatte ihn ergriffen, gefolgt von der kurzen Überlegung, warum sie das Risiko eingegangen war, ihre Locken Feuer fangen zu lassen.

In der heutigen Stunde hatte sie ihren Kessel wohl für das bestmögliche Versteck gehalten. Was natürlich ihm und seiner Laune entgegenkam. Aber dieser Entschuldigungsversuch...

"Pah", krächzte er heiser, "niemand, kein einziger Mensch, hat sich bis heute um mich gesorgt. Bis auf Albus, der mir eine zweite Chance gegeben hat und dem ich es als einzigen erlaube, sich frei in meinem Dunstkreis zu bewegen."

‚Interessant, interessant', widersprach ein inneres Stimmchen, ‚warum hast du sie dann fast zwei Wochen lang zu dir bestellt und nicht irgendwann zu Filch geschickt?'

"Das geht dich überhaupt nichts an."

Wütend stand er auf. Toll, wirklich toll, er brüllte sich schon selbst an.

Nein, das konnte sie nicht ehrlich gemeint haben. Es gab keine Ehrlichkeit auf der Welt.

Wie erschlagen schlich er zum Bett, beherrscht von dem Gefühl, heute irgendeinen Trank nehmen zu müssen, damit er morgen einigermaßen erholt aussah. Und noch mehr Punkte abziehen konnte. Sein Gesicht verzog sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen.

Unterwegs stockte sein Schritt und er starrte auf das Bett. Etwas Entscheidendes fiel ihm nachträglich auf. Sie hatte gestottert. Was bis heute, egal vor welcher Situation sie stand, noch nie geschehen war.

Also doch Ehrlichkeit? Aufrichtigkeit? Und dieser Blick! Darin hatte etwas Flehendes gelegen, so ungefähr wie beim Kaffee. Aber doch wieder ganz anders. Das hatte nicht gewirkt, als wollte sie sich lustig machen, nein, in Ruhe und mit genügend Abstand betrachtet sah sie traurig aus.

Dann diese beiden unterschiedlichen Sirs, die machten ihm zu schaffen. Das erste hatte wirklich fast so geklungen, wie er es immer haben wollte und das zweite? Das zweite war die alte Hawkwing.

Diese Gedanken rumorten in ihm und sorgten dafür, dass er eine weitere Nacht nicht schlief. Es waren nicht viele Gedanken, die seinen Kopf als Jahrmarkskarussell missbrauchten, aber sie gaben ihm genügend Nahrung.



Kapitel 7 - Drei Wochen


Seit diesem Eklat waren drei Wochen vergangen. Drei Wochen, in denen Professor Snape von diesen Gedanken zehren konnte. Konnte? Diese Gedanken kamen ungefragt und nisteten sich nachts ein. In der letzten Woche waren sie dazu übergegangen, ihn sogar am Tag zu befallen.

Drei Wochen, in denen er eine gewisse Ravenclaw mit Nichtachtung strafte und dennoch oft, sehr oft - zu oft - ihre Arbeitsweise beobachtete. Kein einziges Mal hatte er ein Zusammenzucken registrieren können, egal, welchen Trank, egal welchen Schwierigkeitsgrad er ihr unter die Nase hielt.

Schon längst war er dazu übergegangen, sie mit "Sonderaufgaben" zu ehren, er wollte sehen - auch jetzt noch - wo ihre Grenzen waren. Wie es schien, hatte sie sie noch nicht erreicht. Hielt er ihr eine Pergamentrolle unter die Nase, rollte sie diese sofort auf und begann, die Zutaten zusammenzusuchen.

Obwohl es ihm nicht passte, musste er doch das Vorhandensein von Faszination anerkennen. Er war fasziniert. Wenn er nicht selbst ein Zauberer wäre und alle anderen um ihn herum auch, dann würde er ihre Art, Tränke herzustellen, schlichtweg als Zauberei empfinden.

Ihr dabei zuzuschauen war eine reine Augenweide. Keine Kleinigkeit gab es zu bemängeln. Im Gegenteil, alles, was er sah, verdiente Anerkennung und Auszeichnung. Theoretisch. Praktisch? Niemals. Davon war er sehr weit entfernt.

Mit schief gelegtem Kopf betrachtete er ihren Arbeitskreis. Exakt, ja keinen Millimeter zu weit weg, postierte sie die Zutaten. So konnte sie sofort danach greifen, wenn sie laut Anweisung an der Reihe waren. Sie war sogar so clever, alles von innen nach außen zu stellen. Als hätte sie ein Diner vor sich.

Wie sehr vermisste er doch seine eigenen Fragen und ihre Antworten.

Sein Blick fiel auf den Rest der Klasse und wanderte doch wieder zurück. Nicht ein einziges Mal hob sie den Kopf, eher hatte er das Gefühl, sie wollte eins mit der Tischplatte werden. Diesen Verschmelzungsversuch praktizierte sie nun schon seit drei Wochen. Aufmüpfig hatte sie ihm wesentlich besser gefallen, mit ihrem "nicht wahr"?

Selbstverständlich würde er diese Tatsache vor sich selbst nie eingestehen. Geschweige denn vor anderen.

Für Aniram waren diese drei Wochen alles andere als eine Erholung. Sie klassifizierte diese Zeit kurzerhand als europäische Hölle - deren Ende noch lange nicht in Sicht war.

Ihr anfänglicher Unglauben, dass es irgendjemanden auf dieser Welt gab, der vor einer Entschuldigung zurückwich, sie regelrecht abschmetterte, wandelte sich in Zorn und gipfelte schließlich in grenzenloser Wut.

Ab einem bestimmten Zeitpunkt, als sie selbst entschied, sich nicht länger zu quälen, weil es ohnehin nichts bringen würde, befahl ihr das australische Naturell, die Angelegenheit zu den Akten zu legen.

Ein Festhalten an diesen niederen Instinkten wollte und konnte sie sich nicht leisten. Also endete alles im Gleichmut und schneller als vermutet fand sie zu ihrer früheren Form zurück. Wenn er ihr nicht so unheimlich viel zu tun geben würde, wäre sie wahrscheinlich in der traurigen Verfassung, im Feuer des Unglaubens und der Wut zu vergehen. So aber schwang sie nur ihre Arme und arbeitete wie ein Berserker. Und die Augen? Die blieben besser unten. Denn sie war sich sicher, ihm dann nur wütende Blicke entgegen schleudern zu können.

xxxXXXxxx

Es waren drei Wochen, in denen sie Professor McGonagall zur Verzweiflung brachte - mit kehlig gebrummten oder auch recht vokalreich ausgestoßenen Zaubersprüchen.

Die stellvertretende Schulleiterin verfügte über eine untadelige Sicherheitseinrichtung - über eine Brille, die verhinderte, dass ihr sprichwörtlich die Augen aus dem Kopf fielen. Die Antwort auf ihre Fragen war immer dieselbe.

"Tut mir leid, ich kann das nicht anders. Mit Ihren Stecken funktioniert der Spruch nicht."

Stets stand sie mit einem verlegenen Lächeln neben ihrem Resultat. Jeder der Lehrer hatte sich inzwischen an ihre ungewöhnliche Ausdrucksweise gewöhnt, also kommentierte auch McGonagall den ‚Stecken' nicht weiter.

Drei Wochen, die ihren Hauslehrer mit mehr blauen Flecken versorgte als jemals zuvor. Er kippte so oft vom Bücherstapel, weil er vor Begeisterung in die Hände klatschte, dass er alles andere um sich herum vergaß.

Drei Wochen, in denen Madam Hooch in ihr eine gewisse Neigung zum Fliegen zu erwecken suchte. Aniram näherte sich diesen etwas größeren Stecken immer noch mit der allergrößten Vorsicht. Madam Hooch dachte sicherlich, in Australien flog man nicht.

Oh, weit gefehlt. Man flog. Und wie! Aber auf Teppichen. Ergonomisch geformt und, wenn sie an ihr letztes Modell dachte, sogar mit Turbofransen ausgerüstet. Madam Hooch dachte wohl, sie wäre unsportlich, wusste aber nicht, dass Aniram alles für den Sport gab. Sie hatte so hart trainiert, dass sie es in die Mitte einer Woohadonga-Mannschaft geschafft hatte.

Aniram versuchte, wenigstens diesem Unterricht eine positive Seite abzugewinnen, weil er im Freien stattfand. Aber wenn sie von dieser Krüppelkiefer namens Besen herunterstieg, zitterte sie wie Espenlaub und war meistens blass. Und das passierte ihr als Stürmer!

Drei Wochen, in denen sich Sinistra als zweite Sonne versuchte. Dieser Unterricht gehörte ebenfalls zu ihren Lieblingsfächern. Oben auf dem Turm, mit freiem Blick auf die Sterne, was für ein Traum!

Drei Wochen, in denen sie ihre Favoriten klar festlegte.

Trelawney bereitete ihr mit ihrem durchgeistigten Verhalten und ihrem fast schon an Wahn grenzenden Weihraucheinsatz regelrechte Kopfschmerzen.

Die Unterrichtsfächer Pflege magischer Geschöpfe und Kräuterkunde waren etwas luftig, so dass sie sich besser fühlte.

Drei Wochen, in denen ihr Snape einen Trank nach dem anderen unter die Nase hielt und sie herausforderte. Innerlich schüttelte sie den Kopf über so viel Sturheit. Wenn man bedachte, wie viel Zeit inzwischen vergangen war…

Ja, drei Wochen waren eine halbe Ewigkeit. In Australien war so ein Anschweigen, feindseliges Anschweigen, unbekannt und unüblich. Sie wusste nicht, wieso, aber dieser Kasten namens Schloss legte sich langsam aber sicher wie eine eiserne Faust um ihr Herz.

xxxXXXxxx

Ungeduldig klopfte Snape mit den Fingerspitzen der linken Hand auf die Tischplatte und notiert die heutigen Unterrichtsergebnisse. Er wollte festhalten, was mit welchen Zutaten gebraut wurde, als er sich beobachtet fühlte. Unwillkürlich schoss sein Blick in die erste Reihe der Ravenclaws und er fixierte zwei bernsteingelbe Lichter. Die ihn irgendwie ansahen, wie…

Aniram hatte sich während der Zeit, in der sie eine Pause machen musste, bevor die nächste Zutat in den Kessel wanderte, den Luxus geleistet aufzuschauen. Er hockte über seinem Buch - was auch immer er dort hineinkritzelte. Urplötzlich ruckte sein Kopf hoch und sie sahen sich einen Moment lang in die Augen.

Sofort hatte sie die Augen wieder unten und schluckte. Prüfend beobachtete sie das Thermometer und fügte mit unbewegtem Gesicht die nächste Zutat hinzu.

Sie hatte erkunden wollen, was in ihm vorging, nur deshalb hatte sie aufgeschaut. Und das hatte sie jetzt davon. Er hatte sie erwischt.

Sie rechnete am Ende der Stunde damit, dass so eine Art ironischer Bemerkung auf sie herabtropfen würde. Wenn er sich überhaupt die Mühe machte, so etwas in Erwägung zu ziehen. Es war ihr gleich, da sich die Meinung in ihr immer mehr verfestigt hatte, es bei Snape gründlich vergeigt zu haben.

Snape überlegte gegen seinen Willen krampfhaft und versuchte, diesen Blick einzustufen. Was war das eben? Trauer? So eine Art Sehnsucht? Allerdings eine von der Art, einen Spielkameraden verloren zu haben.

‚Seit wann kommen dir so blöde Gedanken? Heute oder nie, wenn du schon einmal dabei bist.'

Es klang, als wollte er sich Mut zusprechen. Seit wann nahm er das Wort blöd in den Mund, und sei es auch nur gedanklich? Es entsetzte ihn allerdings ein wenig, dass ein einziger Blick in ihre Augen die vergangenen drei Wochen auszulöschen schien. Wenn er sich nicht ganz irrte, zog sie ein kleines Schmollmündchen. Nicht für jeden erkennbar. Höchstens für die Tischplatte.

Es amüsierte ihn und wenn er die chirurgischen Instrumente dazu hätte, würde er sofort eine laienhafte Schädeltrepanation hinlegen, um herauszufinden, was dort drin vor sich ging.

Er fand ihre gesamte Art und Weise unterhaltsam und im Grunde genommen brachte sie etwas in sein Leben, das vorher nicht da gewesen war: Leben.

Seine Neugier rundete alles ab. Natürlich war er auch neugierig. Er war es eine Zeit lang gewesen, als er sich noch jeden Abend fragte, womit sie heute diesem "Veni, vidi, vici" gerecht wurde. Dann kam dieser angeblich brennende Umhang und beinahe hätte sich aus dieser "Sitzung" mehr entwickelt, denn innerlich musste er über ihr gemurmeltes Scheverusch so lachen wie nie zuvor. Die Erinnerung, wann er jemals aus tiefster Seele gelacht oder gelächelt hatte, lag weit zurück.

Allerdings sorgten ihre Frage und das daraus resultierende brutale Finale dafür, dass er sich außerstande sah, anders zu reagieren als gewohnt. Sollte er sie etwa an die Hand nehmen und sagen: Ja, ich war einer und bin immer noch einer, aber…?

Seine Überlegungen wurden vom Gong unterbrochen. Endlich.

Er gab sich der Überlegung hin, wie er besser wirken würde: wenn er vor ihr stand oder ihr aus sicherer Entfernung einen Befehl zubellte. Er entschied sich fürs Sitzenbleiben.

Die Klasse leerte sich erstaunlich schnell. Ebenfalls ein Phänomen, welches er seit exakt drei Wochen studieren durfte. Die Ravenclaws hatten einiges an Selbstsicherheit eingebüßt. Er stellte fest, dass wenigstens etwas von ihrer Arbeitsweise auf sie abfärbte. Und sei es das Aufräumen. Auf jeden Fall hatte diese Bande angefangen, besser zu arbeiten.

‚Hör endlich auf, darüber nachzudenken und tu etwas. Bist doch sonst so schnell.'

Die Klasse war halb leer und zufrieden nickte er leicht vor sich hin. Dann knallte er: "Miss Hawkwing!"

Es war keine Frage, es war en Befehl. Aniram holte tief Luft. Die Arbeitsutensilien waren weggepackt, ihr Arbeitsplatz sauber, also schnappte sie sich ihre Schultasche und ging nach vorn.

"Ja?"

"Sir", ächzte er. Was nur zur Folge hatte, dass sie hoch schaute und endlich, endlich in seine Augen sah. Er kniff sie zusammen und quetschte hinter den Zähnen hervor: "Neunzehn Uhr! Kerker."

"Oh…", eigentlich wollte sie mehr sagen, aber sie hielt es für ratsam, erst einmal zu warten, was er von ihr wollte. Dann konnte sie ihn immer noch - womit auch immer - eindecken. Der Rest ihrer Antwort ging in einem Räuspern unter.

Ihr war jedoch klar, dass sie dieses Herbeizitieren nicht nur mit einem halbherzigen ‚oh' kommentieren durfte. Also folgte noch ein "Natürlich." Damit wandte sie sich um und schwebte regelrecht ihren Klassenkameraden hinterher. Ein kleines Fünkchen ließ sich wieder in einem Auge sehen. Nur vorübergehend, da sie keine Ahnung hatte, was heute Abend auf sie zurollte.

Snape massierte seine Schläfen und schloss die Augen. Er wusste wirklich nicht, wie er diesen so gut wie direkten Befehl von Albus in die Tat umsetzen sollte. Er lachte höhnisch auf.

Diese Person, die eben durch die Tür verschwunden war, konnte man nicht einfach fragen: "Ich brauche eine Assistentin, möchten Sie das sein?"

Vor allem nicht nach den vergangenen fünf Wochen. Ein kleines, zynisches Lächeln nistete sich in seinem Mundwinkel ein, als er begann, die Hausaufgaben des heutigen Tages zu kontrollieren.

xxxXXXxxx

Wie ein gereizter Stubentiger lief Aniram im Gemeinschaftsraum auf und ab. Josy meinte: "Wenn du nicht langsamer läufst, wird mir noch schwindlig, ehrlich."

"Dann mach doch die Augen zu." Doch kaum war Aniram dieser Satz herausgerutscht, tat er ihr leid. Kleinlaut sagte sie: "Entschuldige bitte, aber ich bin so… entschuldige." Ihr Blick fixierte den Fußboden.

"Ich geh dann mal lieber, sonst kriegt der da unten nen Anfall."

Sie wusste nicht warum, aber irgendwie heiterte sie diese Vorstellung auf. Ein tobender Snape, was gaaaanz Neues… Nur leider hatte sie schon einen erlebt - unwissend, dass sie nur den Vorspann gesehen hatte. Sie beschloss, heute so zu tun, als sei nie etwas gewesen.

Ha, wenn Okuna so wäre, wäre einer von beiden tot. Also drehte sie ihr emotionales Chronometer auf Null Uhr zurück.

"Wieso kommst du eigentlich wieder zu dieser zweifelhaften Ehre, Snape aufsuchen zu dürfen?"

Josy wollte dieses eigenartige Verhalten ihres Zaubertrankprofessors nicht aus dem Kopf gehen.

"Wahrscheinlich soll ich büßen", brummelte Aniram und musste sich ein Grinsen verkneifen. Mit einem Lächeln, das nur teilweise gelang, verschwand sie. "Was weiß ich. Der hat manchmal komische Anwandlungen."

Die gerade in der Nähe standen, sahen sich vielsagend an. Büßen? Anwandlungen? Die Ärmste!

Nachdem Aniram diesen Irrgarten, der sich Treppen und Trickstufen nannte, hinter sich gebracht hatte, stand sie aufatmend in der Eingangshalle. Von hier aus ging es nur noch schnurstracks nach unten. Sie atmete noch einmal tief ein und drückte ihr Kreuz durch.

Es war Punkt sieben. Sie klopfte. Da er wohl seine Termine im Kopf hatte, tat sie das auch nicht gerade zaghaft, denn er würde sie wohl erwarten. Wie immer. Von drinnen kam ein düsteres "Herein".

Schwungvoll riss Aniram die Tür auf und schloss sie genauso wieder hinter sich. Mit demselben Schwung ging sie nach vorn. Vor dem Schreibtisch angekommen musste sie wohl oder übel eine Pause einlegen, es sei denn, sie beabsichtigte, den Schreibtisch samt dem dahinter sitzenden Professor Snape an die Wand zu schieben.

Die Feder kratzte über das Papier. Mehr nicht. Obwohl es mittlerweile nach sieben war. Sie entschied sich dafür, ihn ein bisschen darauf aufmerksam zu machen, dass jemand vor ihm stand.

Sie räusperte sich lautstark und begann übergangslos ihren Satz. "Also, da bin ich."

Professor Snape zuckte innerlich zusammen. Hatte er wirklich auf eine Änderung der Stimmfarbe gehofft? Die da so etwas wie Angst oder Respekt enthielt? Dass sie ihn Sir nannte?

Es hatte sich nichts an dem geändert, was ihm diese Ausgeburt von einem Temperamentbündel entgegen brachte. Ihre penetrant gute Laune trug noch erheblich dazu bei, dass er nur einige Millimeter seinen Kopf anhob und sie anzischte.

"Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind?"

Aniram wusste nicht, welcher Teufel sie ritt. Es musste wohl derjenige der Glücksseligkeit sein, ihm wieder auf den Wecker fallen zu dürfen. Alles andere war weg. Die drei Wochen waren weg.

Sie legte den Kopf schief und ihr lag auf der Zunge ‚Aniram'. Aber nein, ihr fiel gerade etwas Besseres ein.

Sie salutierte zackig, knallte die Hacken zusammen und brüllte aus voller Lunge.

"SIR! ANIRAM HAWKWING! SIR!"

Danach musste sie sich vor Lachen den Bauch halten. Ungeniert stützte sie sich mit einer Hand an seinem Schreibtisch ab.

"Gucken Sie auch manchmal solche Filme an?"

Das Gesicht, das jetzt noch langsamer, aber immerhin nicht mehr so fürstlich blass, vom Schreibtisch aufblickte, ließ ihr Lachen gefrieren.

"Oh heilige Schei… wahrscheinlich nicht."

Er erhob sich im Handumdrehen und brüllte: "Raus!"

Er hatte seinen guten Willen gezeigt, wollte Dumbledore beweisen, dass er wenigstens in der Lage war zu denken, aber diese Unmöglichkeit vor ihm fror alles ein, was an guten Vorsätzen jemals vorhanden gewesen war.

Wenn er jedoch dachte, sie würde seinem Befehl Folge leisten, sah er sich abermals enttäuscht. Wie so oft zog sie ein vollkommen anderes Register. Vor ihm stand eine Hawkwing, die die Hände in Seiten stemmte und ihn wütend anfunkelte.

"Scheinbar sind Sie sehr unentschlossen oder einfach um diese Zeit noch nicht konversationsfähig. Dann geh ich eben raus. Aber Professorchen, sollten Sie sich das nächste Mal mit dem Gedanken tragen, mich hierher zu beordern, dann geben Sie gefälligst etwas Anständiges von sich. Wissen Sie, der Ravenclaw-Turm ist ein ganzes Stück entfernt und ich darf nicht teleportieren. Also muss ich diese blöden Treppen nehmen." Sie wurde lauter und stampfte auf. "Das ist verdammt anstrengend." Sie drehte sich um und stürzte mit wehendem Umhang davon.

Teleportieren, das hatte sie doch schon einmal gesagt. Dieser Redeschwall war nach dem Schweigen der letzten Zeit regelrecht beängstigend. Eigentlich hatte er mit einem unauffälligen Rückzug gerechnet, aber dieses Mädchen lief wahrscheinlich zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Höchstform auf.

‚Ha, ha, und weshalb hatte ich in den vergangenen drei Wochen nicht dieses Gefühl? Immerhin, sie nennt mich jetzt schon Professor.'

Seine andere Stimme widersprach ihm. ‚Professorchen, mein Guter, ProfessorCHEN.'

Er war kurz davor, sich laut zu antworten.

Während sie gesprochen hatte, war Snapes Wut ein klein bisschen verraucht und hatte etwas anderem Platz gemacht.

Noch konnte er nicht konkret das Warum und Was benennen, aber ein diabolisches Grinsen bemächtigte sich seiner Gesichtszüge, er zückte seinen Zauberstab und richtete ihn auf die Tür. Zu lange hatte er es vermisst. Ja, das war der richtige Ausdruck dafür.

Er murmelte einen Spruch und ließ den Zauberstab wieder im Umhang verschwinden. Gleichgültig wandte er sich dem Papier auf seinem Schreibtisch zu.

Aniram fasste die Türklinke an und machte die Tür auf. Sie kam aber nicht dazu, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Vergebens rüttelte sie an der Tür, aber sie ließ sich nicht öffnen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein.

Dieser Kerl wusste nicht, ob rein oder raus und jetzt stand sie hier vor einer Tür, die sich nicht öffnen ließ. Mit blitzenden Augen drehte sie sich um und wollte wieder zum Schreibtisch stürmen. Nach nicht einmal zwei Schritten prallte sie gegen eine schwarze, aber weiche Wand. Snape. Der sie amüsiert von oben anfeixte und ihr nahe legte, sich mit weniger Hast zu bewegen.

"Inwiefern ich haste, müssen Sie schon mir überlassen. Sie haben gesagt, raus, also wollte ich raus. Und jetzt machen Sie Ihre Tür auf, damit ich Sie von meiner Anwesenheit befreien kann." Sie stampfte mit dem Fuß auf. "Das dürfen Sie nämlich nicht, Sie sind Lehrer."

"Eben, eben, Miss Hawkwing. Ich bewundere Ihren Scharfsinn", spöttelte er. "Sie befinden sich in meinem Reich, wo nur mein Wort zählt. Ich darf hier alles. Und wenn ich der Meinung bin, Ihnen noch etwas an Erziehung angedeihen zu lassen, dann tue ich das eben."

"Weiß keiner besser als ich", murrte sie.

Wundervoll impertinent. "Fantastisch, dass Sie sich erinnern, Miss Hawkwing."

"Wie könnte man diese Sitzungen vergessen? Und jetzt will ich hier raus."

Trotzig drehte sie sich zur Tür um und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Sie enttäuschen mich maßlos. Sie waren schon mal besser."

Voller Schadenfreude drehe er sich um und ging wieder zu seinem Schreibtisch. Aniram hörte die sich entfernenden Schritte und ihr flogen die Gesichtszüge hochkant auseinander. Oh nein, raus hier, raus hier, hämmerte es im Hirn.

Sie rannte ihm hinterher, zupfte an seinem Umhang und - was jetzt? Mit einer einfachen Bitte würde er sie wohl kaum entlassen.

Ihr Hinterstübchen beherbergte eine Vielzahl kleiner Teufelchen. Das erste hatte sie schon rausgekickt, also aktivierte sie das nächste.

Theatralisch sank sie auf die Knie und bettelte.

"Bitte, bitte, Professor, ich muss noch lernen und so…"

Zerknirscht beendete sie ihren Satz. Zugegeben, er war sehr ungeschickt formuliert. Sie hatte ihn sich nicht mit derselben Sorgfalt und Gründlichkeit zurechtgelegt wie eine Rezeptur, die man abarbeiten konnte. Sie wusste deshalb nicht, wie dieser Satz aufzuhören hatte.

Snape zog seinen Umhang zurück und ließ verächtlich fallen: "Mehr haben Sie nicht aufzuweisen? Ich bin enttäuscht, sehr enttäuscht." Er gähnte.

"Nun, ich gebe Ihnen Gelegenheit, bezüglich Schauspielkunst und Überzeugungsvermögen etwas an sich zu arbeiten. Ich bin gespannt, was Ihnen in den nächsten Stunden noch so alles einfallen wird. Bis zu Ihrem nächsten Einfall belästigen Sie mich nicht mehr."

Augen, Mund und Ohren hatten ungefähr denselben Durchmesser. Anirams Stimme schrillte ein paar Oktaven höher.

"Stunden? Sagten Sie, Stunden? Sind Sie…" Das ‚wahnsinnig' verschluckte sie lieber.

Sie rappelte sich vom Boden auf, denn eine Ravenclaw kroch nicht herum. Noch dazu, wenn sie zu der Einsicht gelangte, dass Kriechen sowieso nichts nützen würde. Sie lief hin und her und suchte nach einer Möglichkeit, einen anständigen Abgang hinzulegen. Schließlich konnte er sie nicht die ganze Nacht hier unten behalten. Hoffentlich. Als ihr Magen knurrte, dachte sie sofort an die Große Halle. Unwirsch drehte sie sich um und versuchte ihr Glück.

"Aber ich hab Hunger."

*peng* Auf einem Tisch stand Essen. Zwar dermaßen spartanisch, dass sie glaubte, mitten in der Gladiatorenausbildung zu sein, aber es war trotzdem da. Mist!

"Und Durst!"

*peng* Eine Karaffe mit was auch immer, höchstwahrscheinlich Wasser, stand daneben.

Ruckartig blieb sie stehen, drehte sich um und quengelte: "Ich muss mal ganz fürchterlich."

Ihre Versuche begannen ihn tatsächlich zu amüsieren. Das war wieder die Hawkwing, die er kannte. Seine Antwort war staubtrocken.

"Wenn es soweit ist, erlaube ich Ihnen, mein Bad zu benutzen."

"Häh? Ich soll auf ein Jungsklo?"

Entsetzen und Unglauben schwangen in ihrer Stimme. Längst schon hatte sie eingesehen, dass es Snape nicht um irgendeine Rache ging. Nein, sie war aus anderen Gründen hier unten. Und genau diese Gründe waren der Grund, weshalb sie zu ihrer früheren Form zurückfand. Wort für Wort tastete sie sich heran und achtete bedächtig darauf, ob und wann er in die Luft ging.

Sein Kopf ruckte hoch und er fragte sich ernsthaft, was sie darunter verstand.

"Mein Bad ist bestens ausgestattet und dürfte Sie in keinerlei Hinsicht an ein "Jungsklo" erinnern. Sie werden also auch etwas vorfinden, was… Damen benutzen können. Auch wenn mir nicht bekannt ist, wie man in Australien solche Tätigkeiten erledigt", knurrte er.

Vor dem Wort ‚Damen' legte er eine kleine Pause ein, als müsse er erst überlegen, in welche Kategorie der biologischen Existenzen sie einzuordnen war.

Sie brummte und gab auf, weil der Hunger größer war. Missmutig setzte sie sich vor das "Essen".

"Notfalls hinterm Busch, wo denn sonst?"

Sie genoss seinen Blick und schaute sich dann suchend um. Diesen Mist sollte sie essen? Vorsichtig stupste sie an den harten Kanten. Er war allenfalls gut für die Zähne. Seufzend ruckelte sie an der Karaffe herum und räusperte sich laut und vernehmlich.

"Was ist denn noch?", kam es genervt vom Schreibtisch.

Sie spitzte ihre Lippen und zog eine Augenbraue hoch.

"Woraus soll ich trinken? Australier verfügen zufälligerweise über Tischmanieren."

Mit blitzenden Augen beförderte er per Zauberspruch ein Glas auf ihren Tisch. Jetzt würde sie wohl endlich Ruhe geben.

"Oh", bewundernd nahm Aniram das Glas in Empfang und meinte schelmisch: "Das ist regelrecht fesselnd."

Ein breites Grinsen konnte und wollte sie nicht unterdrücken.

"Und es grenzt an Zauberei. Ich stelle fest, die Palette der von Ihnen beherrschten Zauber ist gigantisch. Von wegen, albernes Zauberstabgefuchtel… hm, von wem ist das? Ich bin zwar neu, aber einiges weiß ich doch. Anscheinend können Sie mit dem Ding doch umgehen. Irgendwie."

Nachdenklich schaute sie auf das, was vor ihr stand und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

"Na ja, war wahrscheinlich Ihr erster Versuch, wenn ich mir das so ansehe."

Wenn Snape nicht soeben den Entschluss gefasst hätte, sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen, würde er mit sich selbst spielen. Er lächelte abschätzig über dieses "Snape explodiert". Es müsste ganz anders heißen.

Trotzdem, hörte sie denn nie auf zu plappern? Sollte er durchhalten und wider Erwarten ihr lärmendes Mundwerk endlich stillstehen - in seiner Fantasie steckte sie mit dem Kopf vor Verzweiflung in der Wand und er rief Merlin zur Unterstützung an, um diese Verzweiflung recht bald herbeizuführen - dann konnte er vielleicht seine Frage vorbringen. Kühl fragte er dennoch nach: "Was gehört denn in Ihren Augen zu einem anständigen Essen?"

Um ihren Worten mehr Ausdrucksstärke zu verleihen, fuchtelte Aniram mit ihren Händen in der Luft herum.

"Mann, ich bin im Wachstum. Mindestens ein halbes Krokodil, ein Straußenei, Lachsröllchen, gebackenen Camembert mit Preiselbeeren garniert, wunderbar weich gekochter Spargel, ummantelt von gekochtem Schinken und in Käse geschmolzen", sie leckte sich über die Lippen und schluckte, "ein paar Hähnchenschenkel, riesengroße Champignons, ausgehöhlt und gefüllt mit Käse und gebacken, gebrutzelte Zucchini und eine große Schüssel Gemüse mit Oliven und Patros drin und dann noch", sie holte weit mit den Armen aus, "ein Riesenhaufen Obst."

Frech grinste sie nach vorn.

Er lehnte sich zurück und richtete den Zauberstab auf sie.



Kapitel 8 - Die Wirkung von Mango


Aniram kauerte sich in den Stuhl in der Hoffnung, den Bogen nicht überspannt zu haben. Sie schluckte hart und warf einen lauernden Blick nach vorn, denn sie wusste nur allzu gut, was ein auf sie gerichteter Zauberstab bedeutete. Trotzdem entfuhr ihr ein ungewollter Satz.

"Oh, ich wollte doch meine eigenen Stricke mitbringen…"

Snape ließ sich nicht anmerken, ob er diesen Satz gehört hatte oder nicht. Wenn er etwas gekonnter als ein diabolisches, überlegenes Grinsen beherrschte, dann war das ein ungleich größeres inneres diabolisches Grinsen. Unbewegten Gesichts brachte er seine Antwort hervor.

"Ich dachte schon, die Liste Ihrer Wünsche würde nie abreißen."

‚Stricke willst du mitbringen? Keine üble Idee, wirklich nicht.'

Aniram fuhr sich an die Kehle und glaubte zu träumen. Seinen zuckenden Mundwinkel sah sie nicht. Viel zu intensiv war sie mit der Erscheinung vor ihr beschäftigt. Schnell schloss sie die Augen und schüttelte den Kopf. Mit dieser Aktion wollte sie den Anblick dieser großen, wenn auch gesunden Schlachteplatte aus ihrem Kopf verbannen. Es könnte ja sein, dass es schon wieder ein Illusionszauber war.

Als sie die Augen wieder öffnete, stand diese Gigantomanie immer noch vor ihren. Also musste sie wohl real sein. Vorsichtig grabschte sie danach und stieß an sehr reale Kanten.

"Wow."

Im Umgang mit dem Zauberstab rutschte Snape in ihren Augen eine Etage höher.

"Essen Sie jetzt endlich! Es steht alles vor Ihnen, was Sie wollten, also…" Er spitzte die Lippen. "Ich versohle Ihnen den Hintern, wenn nur ein Stückchen übrig bleibt."

Freudig plapperte sie drauflos. "Oh, Kapitel 1 geschafft?"

Der Blick, mit dem sie gemustert wurde, war undefinierbar. Sicherheitshalber zog sie den Kopf ein.

"In der Tat", kam es langsam und gedehnt vom Schreibtisch, "ich bin schon ein Kapitel weiter."

"Schön."

Sie blitzte noch einmal in seine Richtung und fiel dann wie ein Raubtier über das Essen her. Nie hätte sie geglaubt, nach diesen drei schrecklichen Wochen jemals wieder so sticheln zu können, wenn sie Snape gegenüber saß oder stand. Wundervoll, herrlich.

Snape versuchte, ihr Verhalten klar zu definieren. Für ihn gab es nur schwarz oder weiß, jegliche Grautöne waren ihm verhasst. Irgendwohin musste sie doch einzusortieren sein. Er wollte sie in eine Schublade stecken, sah aber ein, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war.

So sehr er auch stopfte und die Schublade zuschob, immer und immer wieder quoll sie heraus. Ob nun eine mahagonifarbene Locke, der sandfarbene Umhang - egal was, aber sie quoll.

Da eine exakte Artenbestimmung nach ‚dumm', ‚frech', ‚vorlaut', ‚ängstlich', ‚respektlos', ‚besserwisserisch' oder ‚großspurig' nicht möglich war - weil das bedeuten würde, dass er sie in Einzelstücke zerreißen und jedes Stück davon entsprechend beschriften musste, weil sie einfach alles verkörperte - fertigte er extra für sie eine neue Schublade an.

Sie enthielt die Aufschrift ‚Unikat'.

Denn sie war eins, von oben bis unten. Zu Hause seine Lehrer mit dem Vornamen ansprechen - Unikat, fehlender Respekt - Unikat, eine Unterhaltung führen, wann ihr danach war - Unikat.

Viele dieser Unikatteile verursachten in ihm den unwiderstehlichen Drang, so viel wie möglich einzusammeln, in die Schublade zu stecken und wenn alles darin war, diese sorgsam mit mehreren Zaubern zu verschließen.

Er hätte dann so etwas wie eine Büchse der Pandora vor sich. Wobei er zugeben musste, dass dieser Vergleich ein bisschen hinkte. Es sei denn, Miss Hawkwing verkörperte Übel, Krankheit und Mühen. Nun ja, eine vorübergehende Mühe für ihn.

Außerdem waren Zauberer generell langlebig, aber nicht unsterblich. Wenn man einen mit einkalkulierte, der auf Teufel komm raus dieses Ziel erreichen wollte.

Kopfschüttelnd versenkte er sich wieder in die Hausaufgaben und dachte, dass wohl jeder andere Schüler still geworden und zusammengezuckt wäre und rückwärts auf Knien rutschend seinen Kerker verlassen hätte. Unikat Nummer vier. Aber dieses sonnige Völkchen, wie Albus es nannte?

Inzwischen erreichten wohlige Laute sein Ohr, ab und zu gefolgt von einem "aah" und "hm". Aus den Augenwinkeln warf er einen kurzen Blick in die Richtung dieser Geräusche.

Aber das glückliche Gesicht, das ihn langsam zu nerven begann und er überlegte, ob sie überhaupt einmal so etwas wie ängstlich oder traurig aussehen konnte, überzeugte ihn davon, dass Australier eine ganz eigene Art von Wachstum hatten.

Irritiert und um Konzentration bemüht widmete er sich den zu korrigierenden Hausaufgaben. Dies konnte er solange tun, bis sie wieder einmal der Meinung war, etwas kundtun zu müssen.

Aniram hatte seinen prüfenden Blick bemerkt. Allerdings glaubte sie nicht, dass er sich schlicht und einfach davon überzeugen wollte, ob er auch genügend und nach ihrem Geschmack gezaubert hatte.

Nein, sie interpretierte ihn anders. So, wie sie es von zu Hause gewohnt war. Prüfender Blick - unausgesprochene Frage. In seinem Unterricht war er ebenso verfahren. Inwiefern sie jemals wieder diesen Level erreichten, stand in den Sternen.

Also leerte sie kurzerhand ihre Schleusen und begann ungefragt.

"Sie fragen sich, wie ich es fertig bringe, wieder so zu sein wie vor, äh, der Frage."

Das war mehr eine Feststellung des Offensichtlichen als eine konkrete Antwort.

Diese Direktheit schockierte ihn nun wirklich. Bevor er auch nur ansatzweise entscheiden konnte, bestätigend zu nicken oder verneinend den Kopf zu schütteln, fuhr sie schon fort.

"Das ist im Grunde genommen ganz einfach. Einfach für mich, sagen wir es so. Wenn man spürt, eine gewisse Grenze überschritten zu haben, hat man die Pflicht sich zu entschuldigen. Allerdings ist es manchmal ganz nützlich zu wissen, dass es eine solche Grenze gibt und wo sie verläuft. Ich erkannte, dass ich bei Ihnen eine Grenze überschritten habe."

Sie zielte verdächtig auffällig mit dem Obstmesser auf ihre Brust und anschließend auf seine.

"Eine, von der anscheinend jeder weiß, die Sie jedoch selber zu verleugnen suchen. Daraus resultierende Komplikationen lassen wir an dieser Stelle mal unter den Tisch fallen. Als ich bemerkte, wie tief ich Sie getroffen hatte, stand mein Entschluss zu einer Entschuldigung fest. Eine, die ich meinem Wesen, meiner Erziehung und unserem Credo schuldig war. Ich sprach sie aus, Sie wiesen mich ab und forderten mich mehrmals auf, Ihren Kerker zu verlassen."

Sie biss wie eine halb Verhungerte in eine Hühnerkeule und sprach mit vollem Mund weiter.

"Also, wenn jemand von einer Entschuldigung nichts wissen will, dann ist sie Schall und Rauch. Vergessen. Denn ich sehe nicht im Geringsten ein, warum ich mir wegen einer Abweisung das Leben schwer machen sollte. Ich glaube, wenn wir so ein tieftrauriges Naturell hätten, dann wäre das Outback kein Outback mehr, sondern ein Ozean voller Tränen."

Die Hühnerkeule nickte in seine Richtung und wurde daraufhin weiter malträtiert.

Nachdenklich schaute sie ihn dabei an. Er hatte sich bis jetzt nicht gerührt, sondern sich alles angehört. Wie er es verarbeitete, war nicht mehr ihre Angelegenheit. Dieser Blick wirkte irgendwie hungrig. Ihr kam eine Idee.

"Aber wissen Sie was? Sie sollten mehr Obst essen. Vielleicht können Sie damit etwas gegen Ihre fürchterliche Blässe tun. Außerdem hebt es deutlich die Stimmung. Was darf es sein? Mango? Oh, Mango hatte ich lange nicht. Wir teilen uns eine."

Sie fing an zu säbeln wie eine Wilde und zerteilte mit leuchtenden Augen eine Mango. Stolz trug sie die Stückchen nach vorn und stellte sie auf den Hausaufgaben ab.

"Bitte, lassen Sie es sich schmecken. Ist zwar ne Sauarbeit, aber schmeckt. Wäre doch gelacht, wenn wir damit nicht den Charmebolzen in Ihnen wecken könnten."

Aus diesem Gesicht leuchtete ihm so viel Frohsinn entgegen, dass er mit einer unwirschen Handbewegung den Teller vom Tisch fegte.

"Ich hasse Obst!"

Aniram verdrehte die Augen, zog ihren Zauberstab und richtete ihn auf das Obst. Die arme Mango. Wusste er überhaupt, was das für eine Arbeit war? Sie stand in keinerlei Relation zum eigentlichen Genuss dieser Frucht. Es war ihr gleich, ob er Obst hasste. Die Mango konnte nichts dafür, dass sie Obst geworden war.

Mit einem leichten Schwenker sorgte sie dafür, dass der Teller wieder vollkommen unbeschädigt auf dem Tisch stand. In ihren Augen saß der Schalk.

"Tja, noch nie einen Zauberspruch gehört, den man nicht hören kann, oder?"

Sie feixte, hob ihren Zauberstab vors Gesicht und blies gegen die Spitze.

"Ach, kennen Sie ja sowieso nicht."

"12 Uhr mittags."

Während dieser Worte starrte Snape reichlich entsetzt auf den Teller. Natürlich kannte er ungesagte Flüche. Aber das hier schien wohl etwas anderes als ein Fluch gewesen zu sein. Eingehender konnte er sich nicht damit beschäftigen, denn schon holte ihn ihre Stimme wieder ein.

"Oh, Western kennen Sie? Ich bin versucht, ehrfurchtsvoll auf den Knien und Ellbogen zu robben."

Ihrer Stimme verlieh sie einen spöttischen Ton.

"Ich dachte, für euch Briten ist Shakespeare das Größte. Ich hab's da mehr mit Hemingway. Das ist verständlich, oder? Schließlich kommt er aus meiner Ecke. Aber lassen Sie mich nachdenken. Die Deutschen sind auch nicht zu verachten. Schiller? Goethe? Wissen Sie was, ich starte jetzt ein kleines kulturelles Programm."

‚Und dann lässt du mich hoffentlich raus, wenn du die Nase voll hast.'

Voller Schadenfreude wandte sie sich um, ging in Richtung Tür und begann zu trällern.

"Freudäää, schöner Göttääärfunken, Tochter aus Elüüüsium, wir betreten feuertrunken… äh, freudetru…"

Sie wedelte mit den Armen. "Jedenfalls waren sie trunken, nicht wahr?"

"Himmlischää, dein Haailigtum."

Beifall heischend drehte sie sich um. "Na, wie war das?"

‚Ganz die Alte, wirklich.'

"Grauenvoll. Der Laut einer Banshee ist meinen Ohren willkommener."

‚Soso, grauenvoll, dann werden wir mal für das größte Grauen sorgen, das du je erlebt hast.'

Aniram bewegte sich katzengleich ein paar Schritte zurück und wiegte sich in den Hüften. Hatte sie eben noch gekräht wie ein Hahn, wurde ihre Stimme tiefer, sehr viel tiefer.

"Say, wouldn't you like to know
What's going on in my mind
So let me get right to the point
I don't pop my cork for every
man I see"

Langsam hatte sie sich umgedreht und schritt auf den Schreibtisch zu und hielt seine Augen mit ihren fest. Ihren Umhang öffnete sie und warf ihn zusammengeknüllt an seinen Kopf. Dann kniete sie sich auf den Schreibtisch, begann sich auszustrecken, schlug ihr linkes Bein über das rechte, stützte ihren Kopf in die Hand und sang weiter:

"Hey, big spender
Spend a little time with me"

Der Teller mit den Mangostücken stand noch vor ihr. Sie steckte sich ein Stückchen in den Mund, wo es mit einem Flutschen verschwand. Aniram schnurrte wie ein zufriedenes Kätzchen und zog einen Schmollmund.

"Darf ich jetzt raus?"

Snape war schon eine gewisse Weile sprach- und fassungslos. Diese simple Frage erreichte sein Gehirn nicht mehr.

Zuerst hatte er zugehört, was sie alles über das Thema Entschuldigung, Grenzen und weiß der Teufel noch alles hervorbrachte. Irgendwie klang alles logisch. Für sie war es sicherlich absolut normal. Er jedoch hatte Schwierigkeiten, alles so zu akzeptieren wie sie es vorbrachte. Denn es entsprach keinesfalls europäischen Maßstäben und irritierte ihn. Demzufolge fiel eine Einordnung schwer. Unikat Nummer fünf?

Jetzt jedoch war auch der letzte Rest Logik zum Teufel gegangen. War das, was sich geradeaus in Augenhöhe befand, auch nur ansatzweise logisch? Fassungslos stierte er auf das, was zwar nicht nackt, aber dennoch wie die Sünde vor ihm lag. Unikat Nummer sechs? Seine Sicherungen flogen erneut heraus. Wie von einem Magneten angezogen beugte er sich leicht nach vorn.

Aniram nahm ein neues Mangostückchen und leckte es zur Hälfte ab. Ihre Augenlider flatterten. Dann steckte sie sich das Stück Obst in den Mund und zog es langsam, aber unaufhörlich nach innen, bis es verschwunden war. Sie wusste nicht im Geringsten, warum sie das tat, aber irgendein Gefühl sagte ihr, es gehöre hierher. Das Knistern der Atmosphäre war schon fast greifbar.

Snape schluckte und er hatte das Gefühl, als ob die Temperatur im Kerker schlagartig um dreißig Grad angestiegen wäre. Sein heißer Atem erreichte ihr Gesicht.

"Ich hasse Obst", flüsterte er.

"Ich weisch", kam es sehr undeutlich zurück. Es war nur ein Hauch.

Mit der Zungenspitze leckte er über ihre Lippen, diese wundervoll süßen, warmen Lippen. So frisch und jung, so… Sein Denken setzte komplett aus.

Aniram öffnete ihren Mund, Snape glitt mit seiner Zunge hinein und beide begannen, das Obststück zu zerdrücken.

Selbstvergessen und weit weg genoss er diesen Kuss und die Schlacht um dieses Obststück wie noch nie irgendetwas in seinem verkorksten Leben. Er wollte die Arme heben, sie festhalten und damit diesen wundervollen Augenblick. Er befand sich in einem Schwebezustand und wollte mit einer Hand ihren Nacken und mit der anderen ihre Taille streicheln.

Doch genauso plötzlich, wie man einen hypnotisierten Menschen aufweckte, fuhr etwas wie eine übergeordnete Macht in sein Gehirn und brachte ihn wieder zum Denken. Sie schraubte die Sicherungen wieder in die dafür vorgesehenen Fassungen.

Bei Merlin, was tat er hier? Keuchend und schockiert riss er sich zurück.

Er hatte schon viele Gefahrensituationen gemeistert - dank seines Überlebenswillens und wahnsinnig schnellen Reflexes. Aber so schnell wie diesmal hatte er noch nie seinen Zauberstab gezückt.

Fast schon panisch, mit der Angst verbunden, es könnte zu spät sein, grabschte er sich ein Mangostück, stopfte es ihr in den Mund und rief: "Obliviate!"

Dann wischte er sich den Mangosaft an seinem Umhang ab und musterte sie kühl. Er hoffte jedenfalls, dass es so aussah, denn sein Herz klopfte immer noch wie ein Dampfhammer, sein Blut rauschte wie Lava durch seine Adern und seine Augen waren alles andere als kühl.

Aniram war so erschrocken über das große Stück Obst, dass sie mit halboffenem Mund anfing zu kauen. Natürlich bleib das nicht ohne Auswirkung, denn nicht nur ihre Bluse wurde beträufelt, sondern auch die Hausaufgaben, auf denen sie lag.

"Ich wusste doch, Australier können sich nicht benehmen." Sein Mundwinkel zuckte. "Und jetzt runter von meinem Tisch."

Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf. Warum hatte sie sich überhaupt dort drauf gelümmelt? Was hatte sie dort zu suchen? Sie versuchte sich zu erinnern, woran sie aber kläglich scheiterte.

"Was soll ich denn noch alles machen, damit Sie mich rauslassen? Mehr Schauspielkunst kann ich nicht aufbringen, da müsste ich unbeobachtet mal einen ganzen Tag alleine üben." Mit einem unvergleichlichen Augenaufschlag schaute sie ihn an.

"Was Sie NOCH tun können? Sie könnten endlich Ihren Wachstumsbeschleuniger vertilgen, damit mein Kerker wieder nach Kräutern riecht und nicht mehr nach Essen."

Kleinlaut sagte sie: "Ich schaff das aber nicht, ich… ich… ist eben zuviel. Sie haben viel zu viel gezaubert."

"Ah so, und jetzt bin ich schuld?" Er stand auf und erhob sich über ihr. "Hinsetzen und essen."

"Aber…"

Sie verstummte unter seinem Blick, wandte sich um und ging auf den Tisch zu, auf dem immer noch sooo viel Essen stand. Sie hatte ihn eigentlich keck fragen wollen, ob er ihr bei der Vertilgung helfen würde, aber die Antwort konnte sie sich im Voraus ausmalen. Seufzend ließ sie sich nieder.

Endlich, endlich war Ruhe. ‚Hoffentlich nicht die Ruhe vor dem Sturm', dachte er grimmig. Er nahm einige Unterlagen von seinem Schreibtisch und wandte sich aufatmend seinem Versuchsaufbau zu. Vielleicht kam er heute ein Stück weiter. Er kontrollierte die Anweisungen auf dem Pergament und verglich sie mit dem Aufbau.

Seine Gedanken wanderten aber immer wieder weg. Und warum? Mit Fesseln und Stimmbandlahmlegen hatte er sie nicht klein bekommen, nicht mit Büßen und genauso wenig mit Brot und Wasser. Aber nicht doch - Madam legt Veto ein und verlangt ein halbes Krokodil nebst Beilagen. Hilfe! Er zauberte das auch noch herbei.

‚Snape, wo bist du?' Überlaut kreischte diese Frage in seinem Innern.

Dennoch, er fragte sich, wie lange sie brauchte, um sich totzulaufen. Diese Energie war unwahrscheinlich. Beinahe befürchtete er, dass in Australien Tag und Nacht die Sonne schien und nicht nur ihre Kopfhaut, sondern ihr ganzer Körper mit Solarzellen ausgerüstet war.

Er konnte nur hoffen, dass sich seine Geduld irgendwann auszahlte. Er hatte immense Probleme damit, sich einen solchen Unterricht vorzustellen. Wenn alle so losrasselten und den Lehrer kaum zu Wort kommen ließen, dann gute Nacht. Ganz zu schweigen von der fehlenden Aufmerksamkeit.

Andererseits ließ sich nicht leugnen, dass sie ausgerechnet sein Fach beherrschte. Warum? Nicht zum ersten Mal stellte er sich die Frage, ob sie in Australien ebenfalls ein Unikat war. Tief holte er Luft, kniff die Augen zusammen und massierte seine Nasenwurzel.

"Brauchen Sie eine Brille?"

Diese Stimme erklang so plötzlich und so nahe an seinem Ohr, dass er zusammenzuckte. Wütend fuhr er herum und nahm dabei den halben Versuchsaufbau mit. Es klirrte und schepperte ordentlich.

"RAUS!" donnerte er zornesrot. "Verlassen Sie auf der Stelle meinen Kerker!"

"Toll, echt. Ich schlage vor, solange Sie nicht wissen, was Sie wollen, lassen Sie mich in Ruhe. Sollten Sie sich irgendwann zu einer wenn auch diffusen, aber immerhin zu einer Entscheidung durchgerungen haben, dürfen Sie sich durchaus wieder bei mir melden. Ich hab's einfach satt. Das ist unglaublich. Wissen Sie, wie liebend gern ich Sie verlassen würde? Seit ich hier bin, höre ich nichts weiter als raus und verlassen. Warum nehmen Sie keine Single auf? Das wird unter Garantie ein Hit, ein richtiger Ohrwurm, den kann jeder mitträllern. Das Zeug heißt heute sogar Maxi-CD und Sie können dasselbe Lied in vier verschiedenen Variationen vortragen. Stellen Sie sich vor, welche Vielfalt! Einmal in Snape-Ausführung, einmal Radio edit, einmal Techno und einmal instrumental. Ja, vielleicht ist noch ein Raus-Verlassen-Rap drin. Keine Ahnung."

Es folgte eine kurze Unterbrechung, weil sie nach dieser langen Rede erst einmal gehörig Luft holen musste. Danach fuhr sie mit gleicher Lautstärke und gleicher Wut fort.

"Vielleicht erinnern sich Monsieur, dass zwischen Ihrem Befehl und dessen Ausführung nur ein einziges Hindernis steht - Ihre dämliche Tür!"

Sie zeigte mit dem Finger auf die Tür. Anschließend nahm sie eine unruhige Hin- und Herwanderung auf.

"Sie sind so ziemlich das Trockenste, was mir je in meinem Leben begegnet ist. Jeder Eisklotz strahlt mehr Wärme aus, jede knorrige Wurzel freut sich dumm und dusslig, wenn wir dran vorbeilaufen und der schiefe Turm von Pisa wird noch schiefer, wenn er uns zuhört. Sie stecken so tief in Ihrer Monotonie fest, dass Sie scheinbar nichts weiter als Ihre saudämlichen Tränke brauen können!"

Ein Arm flog zum Arbeitstisch und sie legte einen verächtlichen Klang in ihre Stimme. Genervt lief sie schneller hin und her. Ihre Wut steigerte sich ins Unermessliche. In diesem Moment wusste sie nicht einmal mehr, wer und wo sie war.

Snape zog die Augenbrauen zusammen und stierte die Wand an. Kaum hörbar wisperte er: "Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen."

Was jetzt noch alles kam interessierte ihn. Warum das so war - dafür fehlte ihm jegliche Begründung. Außerdem hatte sie sich mit ihrer letzten Behauptung auf ein sehr gefährliches Terrain begeben.

"Kann doch wohl nicht wahr sein, ich hocke hier, kriege nichts gesagt, obwohl Sie mich herbestellt hatten…"

Sie legte eine kurze Pause ein, um den Knopf ihrer Bluse zu öffnen. Ihr wurde mit einem Mal warm, sehr warm. Und ein bisschen schwindlig. Das Gefühl, wie durch Sirup zu waten, gesellte sich dazu.

‚Um Himmels Willen, nur nicht jetzt, lass mich nicht hier zusammensacken.'

Dagegen wehren konnte sie sich nicht, es kam unaufhaltsam auf sie zu. Ihr klares Denken setzte aus.

Dabei war sie froh, dass dieses Es bis heute einen großen Bogen um sie gemacht hatte. Denn sie hatte Angst davor und jeden Tag damit gerechnet. Fahrig wischte sie sich mit der Hand über das Gesicht, langte am Hals an und öffnete einen zweiten Knopf. Ihr Magen schlug einige Salti, sie würgte und es war ihr im Moment egal, wer da vor ihr stand. Sie wollte nur noch… raus.

Unkontrolliert brüllte sie ihn an: "Sie nehmen unverzüglich Ihren Zauberstab in die Hand und machen das blöde Schott auf! Auf der Stelle!"

Er glaubte, so etwas wie Panik in ihren Augen zu erkennen. Sie wurden dunkler, unergründlicher. Sie hatte definitiv Angst. Endlich. Ihn durchströmte tiefste, innere Zufriedenheit und er weidete sich an ihrer Hilflosigkeit.

Er hatte sie geknackt. Da hatte er nun zwei Wochen lang geschuftet, um das zu erreichen und jetzt brüllte sie und verlor die Nerven. Spöttisch verzog er einen Mundwinkel, froh, dass sie endlich nicht mehr die Szene beherrschte.

"Die Tür ist bereits offen."

"Das will ich sehen. Los, vor", zischte sie.

Snape hatte sich bereits wieder seinem Versuch zugewandt und versuchte, Ordnung in diesen Klarschlag zu bringen. Er wusste nicht einmal, warum er sich mit ihr überhaupt noch unterhielt, schlimmer noch, einen solchen Tonfall duldete. Aber er tat es.

"Können Sie mir dafür einen vernünftigen Grund nennen?"

Es bereitete ihm ein Heidenvergnügen, im Gegensatz zu ihr die größtmögliche Contenance zu wahren und kühl und überlegt zu antworten. Scheinbar hatte sie nicht nur etwas, sondern alles von diesen Fähigkeiten eingebüßt. Warum auch immer.

"Oh ja, kann ich, denn ich hab keine Lust, vorne an der Tür zu rütteln und dann", sie riss ihn an der Schulter herum, "ist sie doch wieder zu und Sie lachen sich krumm und schief. Wobei ich das für unwahrscheinlich halte."

Mit einem zynischen Lächeln fegte er ihre Hand wie ein Staubkorn von seiner Schulter. Er ging voraus, also sah sie sein zufriedenes Grinsen nicht.

‚Elender Mistkerl', dachte sie. Sie schnappte sich seinen Zauberstab und fetzte hinter ihm her. Mit schweißnassen Händen drückte sie ihn in seine Hand.

"Den brauchst du. Verarsch mich ja nicht, Bruder."

Am Umhang zerrte sie ihn immer schneller nach vorn.

Täuschte er sich oder zitterte sie tatsächlich? Und diese Wortwahl samt der Anrede!!

Rein intuitiv spürte er, dass sie nicht mehr sie selbst war, was auch der Grund dafür war, dass er es wegsteckte. Vorübergehend zumindest. Denn er war sich beinahe sicher, mit Worten jetzt nicht zu ihr durchdringen zu können. Sein kritischer Blick fiel auf ihr Gesicht, das schweißnass glänzte.

"Aufmachen", stieß sie hervor.

Seine Lippen kräuselten sich. "Ich sagte bereits, es ist offen."

"Das glaub ich erst, wenn ich dort draußen stehe." Sie deutete auf die Tür.

Snape deutete eine Verbeugung an und sagte im Aufmachen: "Ich freue mich bereits auf unseren nächsten kulturellen Austausch, Miss Hawkwing."

Der kalte Luftzug, der sie streifte, kühlte ihre Körpertemperatur etwas ab. Trotzdem fühlte sie sich wie kurz vor dem Erstickungstod. Die Freiheit rückte in zwar greifbare Nähe, aber etwas war hoffnungslos verkehrt und falsch.

Nur mühsam quetschte sie eine Antwort hervor.

"Da müssen Sie warten, bis ich mir ein Didgeridoo gebaut habe." ‚Das werde ich dir dann rechts und links um die Ohren hauen', führte sie ihren Satz in Gedanken zu Ende.

"Nun, ich werde so lange warten."

‚Pah, der Trottel weiß wohl nicht, was das ist. Eine Bearbeitung mit diesem Blasinstrument tut verdammt weh.'

Im Bruchteil einer Sekunde ließ sie seinen Umhang los und sprang auf den Gang. Dort brüllte sie: "FREEEEIIII!"

Bevor sich der Mageninhalt auf den Weg machen und die Kerkerwand verzieren konnte, wandte sie sich unverzüglich nach links, in der Hoffnung, die Orientierung nicht vollkommen verloren zu haben.

Snape blieb im offenen Türrahmen stehen und zog eine Augenbraue nach oben. Verdutzt schaute er auf die Wand gegenüber, gegen die sie beinahe gesprungen wäre. Er stand immer noch so unbeweglich da, als ein mahagonifarbener Wuschelkopf mit bernsteinfarbenen Augen im Gesicht noch einmal um die Ecke schaute.

Seine Nüstern bebten.

Aniram drückte einen Kuss auf ihre Fingerspitzen und hauchte ihn in den Kerker.

"Trotzdem danke fürs Essen."

Dann war sie wirklich weg.



Kapitel 9 - Verwirrung, Versuchung, Erinnerung


Fauchend warf Snape die Tür ins Schloss und mahlte mit den Zähnen.

"Vergiss es, Albus, vergiss es ganz schnell."

Irgendwie musste er seine eigene Stimme hören, um sich zu vergegenwärtigen, dass er noch er selber war.

Sich über ihre Befreiungsversuche zu amüsieren war das Eine, mit ihr zusammenzuarbeiten statt sich zu amüsieren war das Andere. Schon allein diese Vorstellung lag in weiter, weiter Ferne. Beides zugleich war in seinen Augen unvereinbar.

Doch leider musste er an dieser Stelle klar und nüchtern konstatieren, dass er an dieser Stichelei Freude empfand.

‚Ja, Sev, schlicht und einfach Freude', gluckste es irgendwo.

Diese Freude, wiederum ein unwilliges Eingeständnis vor sich selbst, schien auf beiden Seiten vorhanden zu sein.

‚Sei ruhig, sei einfach ruhig, okay?'

Das fehlte noch, dass sie ihn dazu brachte, Selbstgespräche zu führen.

Diese Selbstgespräche ließen sich nicht einmal in die Kategorie Monolog stopfen, wo sie eigentlich hingehörten. Nein, diese unaussprechliche Person brachte ihn dazu, einen waschechten Dialog zu führen. Hier Sev, dort Snape.

‚Und das, mein Lieber, sind wirklich zwei völlig verschiedene Personen.'

Hilflos jaulte sein alter Ego auf. Gepaart mit der Erkenntnis, dass er kein klitzekleines bisschen vorankommen würde, solange er sie Krokodile und Mangos essen ließ. Weder mit seinem Versuch noch mit seinem zu stillenden Wissensdurst bezüglich Australien. Tief aus seinem Inneren brach es hervor.

"Du würdest schneller vorankommen, mach die Augen auf. Schon wie sie arbeitet, Merlin, diese Geschwindigkeit, das exakte Platzieren…"

xxxXXXxxx

Aniram torkelte den Gang entlang, nahe an einer Grenze, vor der sie fürchterliche Angst hatte. Und sie schimpfte. Fluchen traf es wohl eher.

"Herrje, wo bin ich bloß gelandet? Inkompetente Krankenschwester, die von nichts eine Ahnung hat. Blödes Europa! Blödes Hogwarts! Dämliches Gemäuer."

Jeder Titel wurde von einem wütenden Tritt gegen die Mauer begleitet.

"Steht nie still und baut sich ständig um… Schlimmer als in einem Horrorfilm. Verdammich, da lieber zwei Wochen ohne Wasser im Outback unterwegs, das steck ich besser weg. Und diese überdimensionale Fledermaus namens Snape setzt allem noch die Krone auf. Ich frag mich sowieso, warum Dumbledore an dieser Schule Direktor ist. Könnte doch der Herrscher der Kerkerwände mit links erledigen. Unentschlossen, ob raus oder rein, hat die große Klappe, wo es nur geht…"

"Unerhört!"

"Empörend!"

"Blasphemie!"

Die Gemälde konnten sich einfach nicht mehr zurückhalten.

Aniram schrie los: "Dann bleibt doch gefälligst in euren Rahmen und stapft mir nicht hinterher."

"Einfach kein Benehmen."

Jetzt platzte ihr der Kragen. "Halt die Klappe!"

"Na, na, na", kam es von hinten.

Sie wirbelte auf dem Absatz herum und schrie weiter: "Du auch!"

Dann zuckte sie zurück. Oh, wie peinlich. Denn dieses Ventil, über das sie gerade ihre Wut ablassen wollte, war äußerst lebendig. Aber es legte einfach seinen Arm um ihre Schultern und führte sie vor das Schloss. Augenblicklich sank sie auf der Treppe zusammen. Sie konnte nur noch ein Dankeschön hauchen. Dann kamen die Tränen.

"Entschuldigung", murmelte sie kleinlaut. "Aber das brauch ich manchmal. So… heulen. Das schwemmt einem die ganze Wut aus dem Bauch. Kennen Sie das auch? Ach, was frag ich überhaupt, niemand kennt hier nichts. Saftladen."

Zerknirscht saß sie neben ihrem Retter auf der Treppe. Eine ganze Weile ließ sie den Kopf hängen und versuchte, in der Dunkelheit die Stufen zu zählen. Als ihr das nicht gelang, hob sie den Kopf und schaute geradeaus.

Ohne es zu wollen, von einem unerklärlichen Mitteilungsbedürfnis befallen, und ohne dass es verlangt worden wäre, lieferte sie einen Bericht der vorangegangenen merkwürdigen Unterhaltung, wobei sie ein klitzekleines, aber wichtiges Detail unterschlug. Ab und zu hörte sie neben sich ein Glucksen. Ihre Ausführungen gipfelten in einer sehr persönlichen Analyse.

"Besser?"

"Ja, mir geht's besser, danke. Ich, ich musste nur raus. Kann ich noch sitzen bleiben?"

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.

"Ausnahmsweise. Aber passen Sie auf sich auf. Versprechen Sie mir, wieder hineinzugehen, bevor Sie eine Unterkühlung erwischt."

Sie nickte schwach.

xxxXXXxxx

Snape war zu dem Schluss gekommen, heute nichts und niemanden mehr anzufassen. Mit seinem Versuch konnte er sich morgen weiter beschäftigen. Das Pergament wollte er vom Arbeitstisch holen und sicher verstauen, als es zaghaft klopfte.

Ruckartig hielt er inne. Sein Verstand setzte aus. Nein! Nein! Dreifach Nein!! Sie konnte doch nicht schon wieder klopfen.

Diese Nerven hatte NIEMAND.

Sein Mundwinkel verzog sich nach unten, als er auf die Tür zuschritt und er sich das hochrote, wütende Gesicht von Miss Hawkwing dahinter vorstellte. Um ihr einen gebührenden Empfang zu bereiten, öffnete er die Tür, und zwar so, dass sie langsam von allein aufging und postierte sich mit verschränkten Armen auf der Brust.

Seine Stimme troff vor Hohn.

"Nun, suchen wir unsere verloren gegangenen Nervenstränge zusammen?"

"Ich wüsste nicht, dass ich welcher verlustig gegangen wäre, Severus."

Die Tür war vollkommen aufgeschwungen und vor ihm stand kein Geringerer als Albus Dumbledore. Schicksalsergeben schloss er die Augen, beseelt von dem Gedanken: ‚Du hast mir jetzt noch gefehlt.'

Seinen Vorgesetzten schien das nicht weiter zu stören. Er warf ihm nur etwas Unhöflichkeit vor. Dann nahm er die Unterhaltung in die Hand.

"Severus, ich kann es einfach nicht glauben. Versorgst du neuerdings heranwachsende, pubertierende Schüler mit einem ausgewachsenen Diner?"

Snape verdrehte die Augen. Auch das noch. Woher wusste er das? Seine Kerkereinrichtung zu zertrümmern - danach stand ihm im Augenblick eher der Sinn als nach einer Unterhaltung mit seinem Direktor. Die Aversion stieg, als er daran dachte, wie das Gespräch eröffnet wurde.

Urplötzlich hatte er das Gefühl, Albus hätte sein Bad in den Kerker gezaubert. Es war vollkommen unnötig, sich zum Duschen in seine Wohnung zu begeben, denn der nächste Satz erwischte ihn wie ein eiskalter Brausestrahl.

"Wo sind denn die Mangos? Ich muss sagen, ich hätte liebend gern davon gekostet. Schade, dass du schon aufgeräumt hast."

Im Zeitlupentempo drehte sich Snape um und musterte seinen Direktor mit immer schmaler werdenden Augen. Erst jetzt dämmerte ihm, was Albus bei seinem Eintritt gesagt hatte. Mit einem Diner versorgt. Das hörte sich so vollkommen natürlich und selbstverständlich an, als würde er das jeden Tag machen. Darüber hinaus schien es Albus nicht im Geringsten zu verwundern.

"Woher weißt du das?" fragte er argwöhnisch.

"Von Miss Hawkwing, von wem sonst. Ich weiß so ziemlich alles."

Mit leuchtenden Augen und einem wippenden Fuß ließ sich Professor Dumbledore in einem Sessel nieder.

Snape dankte wem auch immer für den bewusstseinsverändernden Zauber. Den Vergessenszauber konnte er nicht anwenden. Leider. Damit würde er sich der Gefahr aussetzen, dass sie vielleicht von ihren Klassenkameraden gefragt wurde, was sie zu erledigen hatte und einer Antwort unfähig war.

Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz, wo er sich unangreifbar fühlte. Das brauchte er selbst in der Gegenwart von Dumbledore. Er sagte oder fragte nichts, sondern zog nur eine Augenbraue nach oben.

Egal, was sie erzählt hatte, er würde es sofort zu hören bekommen, ob er wollte oder nicht.

Dumbledore stierte inzwischen gekonnt Löcher in die Luft und lächelte unaufhörlich.

"Nachdem sie mich angebrüllt hatte, ich soll die Klappe halten, lieferte sie mir eine ziemlich nüchterne Analyse eurer Unterhaltung, die wohl, hm, in einem kulturellen Austausch endete. Oder so ähnlich."

Snape schluckte erst einmal, denn den Direktor anzubrüllen, er soll die Klappe halten… Seine Gedanken kreisten weiter. Wie war sie hier rausmarschiert? Eigentlich relativ klein und fertig. Und dann so etwas.

"In der Tat." Betont gelangweilt lehnte er sich zurück. "Und der Rest ihrer Analyse?"

"Oh, den fand ich witzig. Also, wenn ich das noch im Kopf habe, äh, ja, dann bezeichnet sie dich wohl als einen Eisklotz. Und so weiter, du weißt ja. Einiges hat sie dir wohl auch selbst ins Gesicht geschmettert, so dass ich mir eine weitere Schilderung sparen kann. Also, lass mich überlegen."

Grübelnd schaute er die Decke an.

"Sie hat dir, nachdem sie bestellt war, die Parodie eines Militärstreifens gezeigt, über den du überhaupt nicht lachen konntest. Sie meint, jeder Eukalyptusbaum und jeder Schamane der Aborigines bringt mehr Humor auf als du."

Dumbledore grinste breit.

"Jedenfalls ist sie ziemlich enttäuscht, dich nicht zum Lachen gebracht zu haben, denn jetzt tun ihr die Fersen weh. Dann hast du ihr einen unzumutbaren Gefängnisfraß…"

Snape wollte aufbrausen, aber Dumbledore wedelte mit den Händen.

"Ihre Worte, Severus, ihre Worte. Ahm, Gefängnisfraß vorgesetzt und ihr dein Jungsklo angeboten. Nun, ich weiß nicht, wieso, jedenfalls hast du sie anschließend mit allem Nötigen versorgt, was ein heranwachsendes Mädchen so braucht. Übrigens hat sie dich im Umgang mit dem Zauberstab von der Anfänger- in die Fortgeschrittenenklasse gesteckt."

Er strich sich über seinen Bart und musste sich beherrschen, seine Augen nicht allzu deutlich funkeln zu lassen. Was für ein Spaß! Er wartete auf den Moment, an dem Severus aus der Haut fuhr.

"Tja, wie ging es weiter? Mit deiner kulturellen Bildung ist es auch nicht weit her, denn nicht einmal Beethovens Neunte konnte dich vom Hocker reißen."

Dann machte er erst einmal eine Pause und musterte den vor ihn stehenden Tisch langsam von links nach rechts und wieder zurück, als wäre er ein äußerst seltener magischer Gegenstand.

"Fehlt noch was?"

Albus fand, dass man kaum gereizter klingen konnte. "Nun, hm, wie soll ich sagen…"

Er kam verschwörerisch näher.

"Hat sie wirklich "Big Spender" gesungen und hier auf dem Schreibtisch gelegen?"

Snape war sprachlos. Er brachte nur ein Würgen und Gurgeln hervor und legte seinen Kopf in die Hände.

"Wahnsinn", flüsterte sein Gegenüber ergriffen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Snape seinen Direktor an.

"Oh Merlin, ich besitze den höchsten deiner Orden und verpasse das Beste. Zur falschen Zeit am falschen Ort."

Bevor die Augen seines Zaubertrankprofessors noch weiter aufquollen, wischte er durch die Luft.

"Um eins klarzustellen, ich bin alt, nicht wahr?"

Snape war so verdutzt, dass er nur nicken konnte. Mit einem schelmischen Grinsen auf den Lippen folgte noch eine Erweiterung.

"Aber ich bin immer noch ein Mann."

Jetzt brachte Snape nicht einmal mehr Gurgeln und Würgen zustande. Er musste vor sich selbst zugeben, dass er daran nicht ein einziges Mal gedacht hatte.

"Ach ja, van Helsing hätte das richtige Jahrhundert verpasst. Sie scheint dich mit Dracula zu verwechseln. Also wie gesagt, recht nüchtern und interessant."

Snape fuhr auf und fauchte: "So, jetzt, nachdem du weißt, wie sie über mich denkt, kannst du dir diese Person und mich auf engstem Territorium vorstellen? Nie und nimmer. Und wenn du es genau hören willst, ich weigere mich. Ich würde nicht nur stündlich, sondern jede Minute mehrmals explodieren."

Dumbledore nahm diesen Ausbruch vollkommen ungerührt hin.

"Nun, Severus, dann sag mir mal, wie lange du es heute mit ihr ausgehalten hast?"

"Das spielt absolut keine Rolle", kam es giftig zurück, "schon ihre Nähe ist eine Zumutung und artet fast in Überlebenstraining aus."

Überlebenstraining, das er brauchte, aber sich nicht eingestehen wollte.

Dumbledore versteckte sein wissendes Lächeln hinter seinem Bart. Was für ein Glück, dass alte Zauberer dichte, lange Bärte hatten. Er musste sich wirklich etwas nicht nur Intelligentes, sondern gleichermaßen Reizvolles einfallen lassen, um über diesen Kontinent und seine Bewohner soviel wie möglich herauszufinden. Gewissermaßen die Quintessenz dessen, das sich Australien nannte und was Miss Hawkwing mit sich herumtrug und verkörperte.

Scheinbar war Severus dazu ausersehen, das Rätsel zu lösen - aber der wollte nicht.

"Severus, bitte, denk doch einmal darüber nach, was du alles in Erfahrung bringen könntest. Du allein. Nicht einer von uns weiß, dass sie teleportieren und sich mit dem Vornamen anreden. Das hat sie nur dir gesagt", versuchte er ihn.

Ein Grummeln war die Antwort.

"Dann sag mir eins, wie verhält sich Miss Hawkwing in deinem Unterricht?"

Widerwillig gab Snape auf, da er nicht lügen wollte.

"Exakt, korrekt, schnell. Sie arbeitet ordentlich."

Dumbledores Hirnwindungen kamen dermaßen ins Schwingen, dass sie fast eine eigene Symphonie komponierten. Er stellte fest, dass gleich drei Adjektive vor "ordentlich" gestellt wurden. Drei höherwertige Adjektive. Wenn er das jetzt nicht zu seinem Vorteil nutzte, würde ihm nichts mehr einfallen.

"Sie arbeitet also besser als der Rest, wenn ich dich richtig verstanden habe. Und du verzichtest freiwillig auf eine solche Mitarbeiterin? Die dir, gewollt oder nicht, bestimmt mitten in der Arbeit das eine oder andere australische Geheimrezept anvertrauen würde. Oder wenn sie das nicht tut, vielleicht rutscht es ihr unbeabsichtigt heraus?"

Dumbledore dachte: ‚Mein Junge, wenn du das nicht ausnutzt…'

"Soll ich ihr auf Knien in den Ravenclaw-Turm folgen?"

Snape hoffte, dass dieses Argument genügte, um endlich Ruhe zu bekommen.

Albus' undefinierbarer Blick wanderte zum Kamin. "Es gibt noch andere Wege."

Snape war kurz davor, in seinen Schreibtisch zu beißen. Warum musste er so in die Enge getrieben werden? Also verzichtete er auf eine Antwort und verlegte sich stattdessen aufs Schnauben.

Dumbledore ließ eine kleine Pause entstehen, um seine Worte wirken zu lassen. Er spürte, wie es in seinem Gegenüber arbeitete, auch wenn das Gesicht vollkommen emotionslos wirkte. Aber er wusste es besser.

Dort liefen gerade Kombinationsmöglichkeiten mit Höchstgeschwindigkeit und der Brachialität eines tonnenschweren Mahlsteins ab. Severus mochte für alle der unbeliebteste Lehrer sein, der gefürchtetste, selbst im Kollegium, aber was dieser Mann tagtäglich auf seine Schultern nahm, wusste nur er allein. Er wusste, wie er dachte.

Als er der Meinung war, jetzt sei es genug, erhob er sich.

"Ich kann dich natürlich nicht zwingen und wenn du deine Entscheidung getroffen hast, akzeptiere ich sie."

Auch Albus Dumbledore beherbergte mehrere Teufelchen in seinem Oberstübchen. Er lachte leise.

"Aber weißt du, was ich machen würde, wenn mein Name Severus Snape wäre?"

Dumbledore wusste, jetzt hatte er das ungeteilte Interesse. Er hob die Schultern.

"Nun, wenn du, also ich, schon nicht herausfinden möchte, was sie kann oder könnte, dann würde ich mich zumindest der Herausforderung Hawkwing stellen. Und das meine ich so, wie ich es sage. Überleg doch einmal, warum sie sich dir gegenüber anders verhält als jeder andere Schüler, seit du hier unterrichtest. Auch wenn du es nicht zugeben magst, sie bringt so etwas wie frischen Wind in unsere Bude. Ja, schau mich nicht so entsetzt an, ihre Ausdrucksweise färbt auch auf mich ab. Du", damit stach er auf Snapes Brust, "bist bei der Lehrerkonferenz nur still, weil man von dir Stille gewohnt ist. Aber im Grunde genommen denkst du dasselbe wie die anderen."

Er ging näher heran.

"Warum, Severus? Warum steckst du ihr Verhalten und ihren Tonfall überhaupt weg? Weil dir diese Herausforderung gefällt, ansonsten müsste ich mich meine Menschenkenntnis vollkommen im Stich lassen. Du hast das heute Abend genossen, sonst hättest du ihr kein halbes Krokodil gezaubert. Im Gegenteil, du hättest ein halbes aus ihren Rippen herausgeschnitten."

Der letzte Satz ging in einem Flüstern unter.

Fast erweckte es den Eindruck, als wüsste er Bescheid über die beiden Wochen… Snape wurde angst und bange.

Aber Dumbledore wurde wieder Dumbledore, der leicht senile Tattergreis, der nur seine Süßigkeiten im Kopf hatte. Er drehte sich um und sprach mit sich selbst.

"Wie die Zeit vergeht, wenn man sich angenehm unterhält. Ich glaube, ich brauche jetzt einen Schokofrosch. Dir wünsche ich eine gute Nacht, Severus."

Wie vom Donner gerührt blieb Snape sitzen. Einsam, frustriert. Wie immer. Dumbledores Worte hatten etwas in ihm gerührt, das besser ungerührt geblieben wäre. Auch wenn dessen Abgang etwas merkwürdig und senil wirkte - er wusste präzise, dass er genau dann am wachsamsten und gefährlichsten war.

Es fiel ausgesprochen schwer, sich in so einem alten Mann, der seinen Schokofröschen hinterher jagte, den mächtigsten aller Zauberer vorzustellen.

Dass solche Worte manchmal die einzige Art und Weise waren, um jemanden zum Überlegen anzuregen. Ja, verdammt noch mal, er hatte Recht. Es gefiel ihm. Aber um nichts in der Welt würde er das vor irgendjemandem, und sei es Albus Dumbledore, zugeben.

Er trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte und merkte zu spät, dass es die Melodie von "Big Spender" war. Seine Augen blitzten auf. Albus hätte das sehen mögen?

Leicht schüttelte er den Kopf und sein Blick wanderte zu der Stelle, wo bis vor kurzem noch ein kleines Tellerchen mit Mangostückchen gestanden hatte. Fast schon panisch sah er sich um, aber er war allein, wirklich allein.

Also konnte er es sich leisten, diesen Teller mit einem Schwenk seines Zauberstabes herbeizuholen und beinahe gierig, nein, neugierig, darüber herzufallen.

Mit spitzen Fingern griff er nach einem Stück und schob es in den Mund. Dann kaute er bedächtig darauf herum. Glücklicherweise sah ihn niemand, nicht einmal Peeves.

Seine Augen leuchteten. Und er wusste, was er zu tun hatte.

xxxXXXxxx

Aniram saß noch auf den Eingangsstufen und atmete tief durch. Jetzt, wo sie alles, ob interessant oder nicht, bei Professor Dumbledore abgeladen hatte, ging es ihr besser. Es fing schon an, ihr besser zu gehen, als sie durch die Eingangstür getreten war.

Die Portion Sauerstoff, die mit Macht über sie herfiel, genügte vollkommen, um ihr Gehirn wieder mit den nötigen Botenstoffen zu versorgen.

Mit derselben Macht kamen die Erinnerungen zurück. Ja, sie erinnerte sich.

Als Dumbledore weg war, befühlte sie ungläubig ihre Lippen. Seine Zunge, sein Kuss. Davor sein verlangender Blick und dieses wahnsinnig angenehme Prickeln im Bauch. Sie schloss die Augen und genoss noch einmal diesen Augenblick.

‚Kleiner, armer, ahnungsloser Snape.'

Niemand wusste, dass ausgerechnet Australier gegen den Gedächtnis verändernden und auch den Vergessenszauber immun waren. Sie durften einfach nichts vergessen. Vergessen bedeutete Tod.

Für diese Immunität hatte vor vielen Jahrhunderten jemand gesorgt und heute wurde sie als selbstverständlich betrachtet. Keiner dachte darüber nach und keiner sprach dort diesen Zauber aus. Für eine kleine Erweiterung trug sie die Verantwortung. Eine Verantwortung, die sie immer noch mit Stolz erfüllte.

Wäre ihr Denken vorhin nicht irgendwie blockiert gewesen, dann hätte sie darüber lachen können, als sie seinen hektischen Blick sah und sich mit einer Mango voll gestopft fühlte.

Träumend blickte sie in den Sternenhimmel und ihre Zähne blitzten wie eine kleine, weiße Perlenkette. Aber es war kein hinterhältiges, falsches Lächeln, nein, wieder und wieder holte sie diese Erinnerung hervor und genoss sie von neuem. Sie war so neu für sie, so aufregend, … einfach unbeschreiblich.

Sie zuckte zusammen, als sie hinter sich leise ihren Namen hörte.

"Miss Hawkwing, was machen Sie denn noch hier draußen? Aber, aber, ab ins Bett mit Ihnen. Ich hab keine Lust, meinem eigenen Haus Punkte abzuziehen."

Aniram erhob sich, für die Begriffe der Patrouille wahrscheinlich nicht schnell genug, denn diese Worte wurden noch von einem aufmunternden "husch, husch" und einem Klaps auf ihren Po unterstrichen.

"Bin schon weg."

"Ich habe nichts gesehen", quiekte Flitwick auf der Treppe, wippte auf seinen Fußspitzen hoch und runter und Aniram verschwand mit einem leisen Lachen wieder im Schloss.



Kapitel 10 - Gespalten


Am nächsten Abend stand sie wieder vor der Kerkertür und bestaunte sie wie ein seltenes Lebewesen. Snape schien sich ihre Worte zu Herzen genommen haben. Eine andere Erklärung dafür, dass er sie diesmal erst zwanzig Uhr bestellt hatte, konnte sie nicht finden.

Das war ein sehr großer Fortschritt, fand sie. Eventuell war er um diese Tageszeit ansprechbarer, nur ganz eventuell. Es lag im Bereich des Möglichen, dass er solch schwierige und kräftezehrende Aufgaben wie Wut und Unmut verarbeiten oder gar Punkte abziehen bewältigt hatte. Obwohl es Wunschdenken war, wäre es doch nicht übel, wenn es Ravenclaw nicht mehr so hart treffen würde.

Dieses Punktegelaber ging ihr mächtig auf den Zeiger und nachmittags im Gemeinschaftsraum hatte sie überlegt, ob sie sich lieber ein paar Punkte ausstanzen sollte, die sie ihm geben könnte oder ob sie an ihrem Plan arbeitete. Den Sieg trug der Plan davon, da sie zu der Einsicht gelangt war, dass Unmengen an Pergamenten vonnöten waren, um seine Punktegier zu befriedigen.

Nun stand sie hier, ziemlich unentschlossen, und erhoffte sich einen relativ entspannten Abend. Bedächtig wiegte sie den Kopf hin und her - genauso, als wollte sie alle Möglichkeiten und Gefahrensituationen in Betracht ziehen und von vornherein einkalkulieren, die hinter dieser Tür auf sie lauern und unabdingbar auf sie zurollen könnten, sobald sie diese öffnete.

Doch selbst die Tätigkeit des Abwägens wurde ihr irgendwann zu öde. Denn in ihr versteckte sich nicht gerade ein Meister, wenn es darum ging, sich die Beine in den Bauch zu stehen. Ihr Arm kroch langsam nach oben und sie klopfte leise.

Nach einer kurzen Massage ihrer Nasenwurzel zeigte sie sich selbst einen Vogel. Er würde sie doch wohl kaum auf dem Gang Wurzeln schlagen lassen. Also überlegte sie auch nicht weiter, wischte alle Überlegungen beiseite, öffnete die Tür und trat ein.

Als außerordentlich nervtötend empfand sie inzwischen das Geräusch des Herumkratzens auf Pergamenten. Bei dieser und keiner anderen Tätigkeit traf sie ihn an. Das schien ihm die wohl größte Satisfaktion zu bereiten - es wies bereits Suchtcharakter auf und war therapiebedürftig. Aniram konnte sich nicht erinnern, Professor Snape jemals anders gesehen zu haben, wenn sie abends durch diese Tür trat. Seine Finger mussten doch schon wund sein.

Seinen stur nach unten gerichteten Blick interpretierte sie - erst einmal gar nicht.

Die selten geniale Überlegung, einen schriftlichen Antrag zu stellen, dieses Territorium außerhalb der Unterrichtszeit nicht mehr betreten zu müssen, platzte unwillkürlich in ihr Hirn.

Das würde sie in die Tat umsetzen, sollte er sie wieder so lange stehen lassen, dass sie ihn lautstark auf ihre Präsenz aufmerksam machen musste. Nicht, solange er nicht wusste, was er wollte. Seine Artikulation diesbezüglich ließ sehr zu wünschen übrig.

Wie sehr sie mit dieser Überlegung ins Schwarze getroffen hatte, wurde ihr rasch klar. Kaum vor seinem Schreibtisch angekommen, wusste sie, dass es sein würde wie immer.

Ihrem ausgeprägten Sportsgeist war es zu verdanken, dass sie a) nicht festfror und b) es als absolut fair empfand, als Sieger aus diesem Wettbewerb hervorzugehen. Dieser Wettstreit, den sie gerade ins Leben gerufen hatte, hieß Bewegung.

Während er immer noch kratzte, fletschte sie abwechselnd die Zähne, blähte die Nasenflügel auf, rollte mit den Augen - gut, Hawkwing, bereits zwei Disziplinen mehr, das gibt Gold - knetete ihre Hände hinter dem Rücken: kurzum, sie tat alles, um auf irgendeine Weise ihren Unmut kundzutun.

Nur leider war kein Mensch in der Lage, den ganzen Abend zu zucken. Demzufolge entschied sie sich, noch ein bisschen Gas zu geben, bevor daraus ein Dauerzustand wurde.

Wenn er schon nicht auf dezentes Geraschel ansprach, sollte sie das Ganze vielleicht lautmäßig unterlegen.

Ihr Räuspern war unmöglich zu überhören. Es wurde gefolgt von einem ausgewachsenen Raucherhusten, der beharrlich in ein beinahe unerträgliches Bellen überging. Sicherheitshalber schnaubte sie noch durch die Nase. Es würde wohl nicht mehr viel fehlen und sie lieferte ganzen Körpereinsatz. Spätestens dann, wenn sie damit begann, mit den Hufen zu scharren.

Er musste doch merken, dass jemand vor seinem Tisch stand. In ihren Augen war es eine bodenlose Frechheit, jemanden zu bestellen und dann nur als Paravent zu benutzen.

Aber Snape hatte sie bemerkt. Ihr Schnaufen, Prusten und Bellen waren unerhört und unerträglich. Nicht einmal den letzten Aufsatz ließ sie ihn zu Ende korrigieren.

Langsam hob er den Kopf und wortlos beschrieb seine Feder einen eleganten Weg bis zur Tür, gefolgt von einem vernichtenden Blick. Auf diese Art und Weise musste er sie loswerden, ansonsten würde dieser Abend in einem Fiasko enden.

Schlagartig hing eine Pergamentrolle unter seiner Nase. Seine Nase zuckte. Frechheit! Seine Augen wurden schmal.

"Was ist das?"

So schüchtern wie möglich versuchte Aniram zu antworten.

"Extra für Sie gemacht. Ich… ich hab mir ganz große Mühe gegeben."

Er spürte irgendein Unheil auf sich zukommen. Aber in einer Pergamentrolle? Die Plagen der Ägypter vielleicht? Wer wusste denn schon, welche Plagen Australier hatten. Es lag im Bereich des Möglichen, dass gegen diese die Plagen der Ägypter regelrecht lächerlich wirkten und an Sandkastenspielerei erinnerten. Noch schwankte er, ob er danach greifen sollte oder nicht.

"Was ist das?", fragte er erneut.

"Bitte schauen Sie es sich an, bitte." Ihr Tonfall war fast flehend.

Zweimal bitte in einem Satz?

‚Vorsicht, Sev, Vorsicht. Hier kommt Ungeheuerliches auf dich zu.'

Mit immer noch schmalen Augen und spitzen Fingern griff er nach der Rolle. Skeptisch rollte er das Pergament auseinander und erstarrte. Fassungslos schaute er darauf und obwohl er es sah, konnte und wollte er es nicht glauben. Nein, nein, nein!

Dreifach nein hatte er gestern Abend schon gehabt, aber ihm wollte beim besten Willen keine Steigerung einfallen. Vierfach Nein? Infantiler Gedanke!

Doch bevor er auch nur zu einer vernichtenden Antwort ansetzen konnte, ertönte hinter dem Pergament ein leises Stimmchen.

"Das hab ich extra für uns gemacht, Professor. Ganz allein, niemand weiß davon."

Dann linste ein fröhliches Gesicht mit leuchtenden Augen am Pergament vorbei und schaute ihn an.

"Und jetzt machen Sie unter den Worten, welche eben Ihre elegante Bewegung begleiten sollten, ein Kreuz."

Snape schoss wütende Blicke Giftpfeilen gleich in ihre Richtung. Einfach unglaublich. Als er das Pergament auseinandergerollt hatte, glaubte er an einen schlechten Scherz. Aber es blieb dabei, diese Rolle war fein säuberlich in zwei Spalten unterteilt.

Ihre Überschriften lauteten: "Raus!" und "Verlassen Sie umgehend meinen Kerker!"

Seine rechte Augenbraue schnellte nach oben.

"So, sind wir jetzt im alten Rom? Mach dein Kreuz? Ich kann schreiben, Hawkwing!" zischte er wütend.

Aber schon wieder drängelte sich eine ungebetene Überlegung in sein Denken. Was sagte Albus von einer Herausforderung? Sollte er, der Potions Master, der Generationen von Schülern das Fürchten gelehrt hatte, wirklich vor einer sechzehnjährigen Schülerin klein beigeben und somit eingestehen, dass er nur zu diesen beiden Sätzen in der Lage war? Deren Häufigkeit auch noch schriftlich festgehalten wurde? Nie und nimmer!! Er überlegte nicht lange.

"Kinderkram, Hawkwing, aber wenn Ihnen solche Spielchen gefallen, bitte."

Welcher Teufel ihn jetzt ritt, konnte er nicht sagen. Vielleicht war es auch nur Kalkül, vielleicht auch nur die dumpfe Ahnung eines Wissens, dass sie mit ihren eigenen Waffen am besten zu schlagen war. Obwohl man ja nie wusste, wohin das ausuferte. Denn als ihr Umhang brannte, hatte sie sich bedankt wie bei einem alten Kumpel.

Dennoch ergriff er eine neue Pergamentrolle, legte sie quer und unterteilte sie sorgfältig in viele, viele Spalten. Wenn er Kreuze machen sollte, dann hatte sie das ebenfalls zu tun.

Die Beschriftung der Spalten enthielt vom vertilgten Essen und Trinken bis zu Schauspielern, Opern und Filmen so ziemlich alles, was ihm gerade in den Sinn kam und was er ihr ansatzweise zuordnen konnte.

Zufrieden mit seinem Werk lehnte er sich zurück und brachte dann noch das akrobatische Kunststück fertig, schwungvoll seine Tabelle unter ihre Nase zu befördern.

Aniram nahm sie freudestrahlend entgegen. Nach einem aufmerksamen Studium trat sie nervös von einem Fuß auf den anderen und gab ihm die Rolle zurück.

Snape lehnte sich zurück und betrachtete sie.

"Sind Sie mit irgendeinem Punkt nicht einverstanden?"

"Nei… hein, eigentlich nicht. Es ist nur so, ich weiß nicht, nicht dass Sie das übel nehmen, äh, wie ich das sagen soll…", sie bereitete ihrem Stottern ein Ende.

"Seit wann so schüchtern? Ich habe soeben beschlossen, heute nichts übel zu nehmen. Also frisch heraus."

Er musterte sie kühl, während seine Gedanken rotierten. ‚Was soll ich nach diesem Desaster schon noch übel nehmen?'

"Na ja", druckste sie herum, "es… es fehlt noch eine Spalte."

Mit unbewegtem Gesicht schob er die Tabelle zusammen und machte Platz für eine neue Spalte.

"Die da lautet?"

"Häufigkeit der Badbenutzung."

Er fuhr auf. "Sie…"

Er wollte nach ihrer Kehle fassen und sie abmurksen. Ja, endlich einmal löste sie in ihm ein echt menschliches Gefühl aus. Schnell wie der Wind kam er um den Schreibtisch herum.

Aniram ergriff die Flucht. Unterwegs riss sie ein Tintenfass aus der Halterung und brüllte hinein.

"Mayday, mayday, ich werde von einem Wahnsinnigen mit funkelnden Augen verfolgt. Kreuzung fünfte Bank und dritter Stuhl…"

Snape kam unaufhaltsam näher. Seine Augen funkelten wirklich, da log sie nicht einmal. Aber was für einen Unsinn fabrizierte sie nun schon wieder?

"MAYDAY, das Teil heißt Hogwarts, steht in Schottland und ich bin im Kerker, bevor Sie eine genaue Ortsangabe verlangen..."

Sie verhedderte sich im Umhang, war eine Sekunde unachtsam und fand sich gegen die Kerkerwand gedrückt wieder.

"Meine Hochachtung, weshalb haben Sie mir verschwiegen, dass Sie die Hauptrolle für "Das Phantom des Kerkers" übernommen haben? Diese Rolle steht Ihnen."

Er stützte seinen rechten Arm neben ihrem Kopf ab und grinste. Und grinste.

Aniram schaute perplex auf. Dann wanderte ihr entsetzter Blick zum Tintenfass, welches… leer war. Phantom? Das würde ja bedeuten… Sie fummelte sich im Gesicht herum, nur um an ihren schwarzen Fingerspitzen ihre Vermutung bestätigt zu sehen. Ihre untere Gesichtshälfte war schwarz. Sie hatte sich auf der Flucht die Tinte ins Gesicht geschüttet.

Ungeachtet dieser Tatsache schaute sie ihm fasziniert ins Gesicht. SO hatte sie es noch nie gesehen. Mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, den so schnell nichts aus der Bahn werfen konnte, zückte sie ihren Zauberstab, richtete ihn auf den Schreibtisch und zischte etwas.

Snape hielt sich nicht lange mit der Frage auf, was sie eben gemacht hatte.

"Accio."

Dann hielt er seine Rolle in der Hand und stellte fest, dass sie eine weitere Spalte hinzugefügt hatte. Unter "Grinsen in ihrer Gegenwart" hing jetzt ein dickes, fettes Kreuz.

Aniram war der felsenfesten Überzeugung, ihn vorübergehend zur Genüge abgelenkt und vor allem auch geschockt hatte. Frohen Mutes nahm sie ihr nächstes Vorhaben ins Visier.

"Dann wird's ja Zeit, dass ich Ihr Bad kennen lerne, nicht wahr?"

Enttäuschung machte sich in ihr breit, als sie feststellen musste, dass der verpasste Schock wohl noch nicht tief genug saß. Oder aber er gehörte zu der Sorte Mensch, der sich wahnsinnig schnell erholte. Denn kaum, dass sie sich vorbeidrücken wollte, befand sich sein linker Arm auf gleicher Höhe wie sein rechter. Sie zog kurz den Kopf ein und schielte nach oben.

"Irrtum! Wenn Sie erledigt haben, weshalb Sie hier sind, können Sie sich Ihrer Körperpflege widmen."

"Oh, warum bin ich denn hier? So eigentlich? Hm?"

"Von Eulenlesen halten Sie wohl nichts?"

Bevor er weiter sprechen konnte, unterbrach sie ihn freudestrahlend.

"Das war ernst gemeint? Ich darf assistieren?"

Dabei lächelte sie und kam sehr schnell zu der Schlussfolgerung, dass das überhaupt keine gute Idee war. Die Folge ihres verzückten Gesichtsausdruckes war ein bitterer Geschmack. Die Tinte schmeckte nun mal eklig.

Er wandte sich seinem Schreibtisch zu, nahm eine Pergamentrolle auf, beförderte sie auf den Arbeitstisch und ließ lediglich am Rande fallen, dass sie einen Kupferkessel Größe 3 benötigte.

Aniram schwebte auf Wolke Sieben. Fast. Diese zerzauste Eule hatte sie nicht für voll genommen. Das Pergament an deren Bein teilte ihr in kurzen und knappen Worten mit, dass sie ab übermorgen, also exakt drei Tage nach dem Krokodil, täglich ab zwanzig Uhr eine Assistentenstelle bei Professor Snape anzutreten habe.

Natürlich stand dort nicht das Wort Assistentenstelle, sondern Aushilfe, aber Aniram bearbeitete dieses Wort so lange mit ihren Augen, bis es so klang, wie sie es wollte. Jetzt versuchte sie, die größte Nässe aus dem Gesicht zu wischen und ging nach vorn. Als sie die Pergamentrolle entrollte und entrollte und immer noch entrollte und irgendwann endlich lesen konnte, fehlten ihr die Worte.

"Mannomann, das ist ja ein Haufen. Was soll das eigentlich werden?"

"Seit wann halten Sie sich mit Fragen auf, was das werden soll?"

"Ah… hm, haben Sie auch wieder Recht."

Während der Zeit, in der sich Aniram als Goldgräber betätigte, war ausnahmsweise einmal Ruhe. Es dauerte nicht lange und sie hatte in ihrem Arbeitseifer die Umwelt vergessen.

Einfach alles. Professor Snape, ihr mit Sicherheit rabenschwarzes Gesicht und sogar den Raum, in dem sie sich befand.

Die Pergamentrolle in der Hand und zwischenzeitlich die Nase darin lief sie zwischen Arbeitstisch und Regalen hin und her, bis sie alle Zutaten eingesammelt hatte.

Wenn Zaubertränke nicht gerade ihr Lieblingsfach gewesen wäre, würde sie an dieser Stelle stocken und sich höchstwahrscheinlich nur noch um einen Kupferkessel Größe 3 kümmern. Natürlich war es damit nicht getan, denn sie konnte ohne die entsprechenden Arbeitsmittel nicht einmal beginnen. Also landeten noch Mörser, Stößel, Waage, etliche Phiolen, Metallspatel und Petrischalten auf dem Tisch. Nichts war schlimmer als fehlendes Material, das die Arbeit ins Stocken brachte.

Die Plünderung der Regale hatte sie hinter sich gebracht und machte sich nun an die Tischdekoration. Sie ordnete alles, wie sie es gewohnt war. Entsprechend der Reihenfolge von innen nach außen und mit einem genügend großen Abstand zwischen den trockenen und feuchten Zutaten.

Der Kessel hing schon in seiner Halterung. Ihre Nase verschwand gerade wieder im Pergament, als sie eine laute Frage aufschreckte.

"Weshalb ist noch kein Feuer unter dem Kessel?"

Aniram machte sich nicht einmal die Mühe, über die Schulter zu schauen.

"Ich wüsste keinen Grund, unter einem leeren Kessel Feuer anzuzünden."

Kopfschüttelnd las sie weiter. So ein Unfug, Feuer.

'Na warte, Hawkwing, na warte. Wenn du freiwillig keinen Fehler machst, erschrecke ich dich mal kurz.'

Der kleine Sev in ihm erlaubte sich diesen Scherz, zog seinen Zauberstab, richtete ihn an ihr vorbei auf den Kessel und flüsterte: "Inflammare!"

Mit einem quietschenden und erschrockenen Schrei sprang Aniram zwei Sätze nach hinten.

"Oh, verzeihen Sie mir meine Unachtsamkeit. Ich bin mir sicher, in Australien wurde das Feuer erst in der Neuzeit entdeckt. Ich erinnere mich an eine ähnliche Reaktion vor kurzer Zeit…"

Ganz seidig, ölig und voller Genuss brachte er diese Sätze über die Lippen.

Er stand auf und ging mit einem mörderischen Grinsen auf sie zu. Glücklicherweise drehte sie ihm den Rücken zu. Auf ein weiteres Grins-Kreuz wollte er gerne verzichten.

Sanft legte er die Hände auf ihre Schultern und schob sie beharrlich einen Schritt näher an den Arbeitstisch heran.

"Sehen Sie", murmelte er hypnotisch, "das Feuer ist harmlos. Die Menschen haben es sich schon vor langer, langer Zeit nutzbar gemacht. Sie brauchen keine Angst zu haben."

"Das weiß ich", brüllte Aniram geradeaus. Dann wirbelte sie herum und stoppte ihre Faust kurz vor seiner Nase. "Sie… Sie…"

Mit einer fließenden Handbewegung half Snape ihr aus.

"Trottel? Dussel? Dämlack? Rindvieh? Hornochse? Idiot? Mistkerl? Den Bastard habe ich heute sogar im Angebot."

Mit einem undefinierbaren Geräusch drehte sich Aniram um und hüpfte mehrmals mit beiden Beinen gleichzeitig in die Luft. Sie kochte vor Wut. Als sie die Zutaten zusammengesucht hatte, war sie wirklich dem Glauben anheim gefallen, ernsthaft arbeiten zu können. Und jetzt? Jetzt schien es, als ob er ihr einen Schlüssel in den Rücken gesteckt hatte und wieder anfing, sie aufzuziehen. Nein, nein, nein! Dreifach nein.

"Miss Hawkwing", erklang es verdächtig seidig hinter ihr, "bitte entschuldigen Sie meine Unwissenheit. Es ist durchaus möglich, dass ich in einer dekadenten Gesellschaftsordnung lebe. Aber führen Sie gerade einen Fruchtbarkeitstanz auf oder beschwören Sie einen Dämon? Ich habe so etwas noch nie gesehen."

Jetzt hingen beide Fäuste unter seiner Nase.

"Ich beschwöre mich und dann bin ich ein Dämon", funkelte sie ihn an.

Mit einem abfälligen Lächeln ging er an ihr vorbei.

"Lassen Sie sich nicht stören, arbeiten Sie weiter an den Reitern der Apokalypse. Ich schätze mich glücklich, dass Sie mich nicht beschwören. "

"Vielleicht keine schlechte Idee", knurrte sie. "Dann drück ich Ihnen ein Messer in die Hand und es sieht aus wie Selbstmord."

"Haben Sie immer das letzte Wort?"

Schon wieder musste er um Fassung ringen. Er musste sich unbedingt Ersatz besorgen, falls die Sicherungen reihenweise herausflogen.

"In der Regel, ja."

"Und außerhalb der Regel?"

Viel zu spät merkte er, was er da eben gesagt hatte. Selbstverständlich war ein breites Grinsen aus einem schwarz-weißen Gesicht die Antwort.

"Außerhalb der Regel auch."

Er ächzte und gab bei Merlins Bart nicht zu, dass sie ihn soeben geschlagen hatte. Ihm wollte beim besten Willen kein Widerpart auf dieses - in seiner ursprünglichen Bedeutung - Frauenproblem einfallen. Scheinbar hatte sie auf alles eine Antwort. Egal, ob es sich um Pferde oder Regel handelte. Wo eben nichts zu antworten war, fragte sie einfach drauflos.

"Jetzt machen Sie sich endlich an die Arbeit. Ich möchte heute noch etwas schaffen."

"Ich hab nicht angefangen", maulte sie noch leise hinterher.

Diese Instruktion erreichte sie absolut überraschend: Erst hinderte er sich bei der Arbeit, um anschließend herumzumaulen, dass ER noch was schaffen wollte. Pah! Sein ewiges mal hüh und mal hott begann zu nerven. Aber wenigstens hatte er mit diesem letzten Satz eine wirklich klare Anweisung hinterlassen. Endlich bekam sie etwas zu tun.

Voller Elan stürzte Aniram zum Arbeitstisch. Dort prasselten die Anweisungen wie ein Bombardement auf sie nieder, gefolgt von einigen zynischen Bemerkungen.

"Ich bin gespannt, wie lange Sie brauchen." Er hämmerte weiter. "Sicherlich die ganze Nacht."

‚Du Esel, du weißt genau, wie schnell sie ist!' Schockiert bemerkte er, dass sich sein Innerstes immer häufiger ungefragt meldete.

Sie beschloss, überhaupt nichts mehr zu sagen und stürzte sich in die Arbeit. Innerlich fluchte sie wie ein Kesselflicker und fügte der langen, langen Latte der Titel, die er selbst aufgezählt hatte, noch ein paar eigene hinzu.

Zwischen sich und den zubereiteten Materialien, ob nun zerschnitten, zerstampft, zermahlen oder nur abgezapft, ließ sie nicht eine Sekunde Luft.

Als sie fertig war, bahnte sich der Schweiß in kleinen Rinnsalen seinen Weg durch ihr schwarz-weißes Gesicht. Aufatmend schob sie alles in des Meisters Richtung, wobei sie bei dieser innerlichen Formulierung fast einen Lachkrampf bekam. Dann wartete sie, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Mit unbewegter Miene nahm er einfach von dem, was vor ihm stand. Schließlich hatte er ihre Arbeit mit Argusaugen überwacht und wusste, dass sowohl Menge als auch Reihenfolge der Zutaten stimmte.

"Sicherlich haben Sie sich jetzt völlig verausgabt. Also dürfen Sie eine kleine Pause einlegen."

Das klang dermaßen gönnerhaft und herablassend, dass es sie schon wieder hinauf trieb.

Aniram stand neben dem Objekt ihrer Begierde, nämlich einem Kupferkessel der Größe 3, und wippte ab und zu auf den Zehenspitzen, um einen Blick hinein zu werfen.

‚Komische Assistenz', dachte sie, ‚eigentlich hab ich gedacht, ich kann ein bisschen mitrühren. Und außerdem, wenn du wüsstest, dass das der unterste meiner Adrenalinspiegel war, würdest du nicht so die große Klappe haben.'

Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und sie fragte etwas spitz: "Kann ich sonst noch was zersägen? Mein Adrenalinspiegel schreit förmlich danach, abgebaut zu werden."

Snape hatte ihre Unruhe schon gespürt und er wartete nur auf den Moment, an dem sie ihre Untätigkeit beenden wollte. Vor allem war das Wie interessant.

Aber zersägen? Teufelchen Nr. zwei schlug zu. Er nickte schräg an ihr vorbei.

"Den Kandinsky können Sie sich vornehmen."