Disclaimer:

Nichts von allem gehört mir. Fast nichts. Auf diesem Trip durch Möglichkeiten und Unmöglichkeiten habe ich mir die geniale Figur des Severus Snape lediglich ausgeliehen. Für diesen komplexen und in meinen Augen facettenreichsten Charakter im Potterverse danke ich JKR bis in die Steinzeit.

Mythische Stätten und Orte, Legenden und historische Fakten gehören ebenfalls nicht mir, sondern den entsprechenden Kulturkreisen. Kenner der einen oder anderen Materie mögen mir vergeben, dass ich mir gewisse Gegebenheiten den Erfordernissen entsprechend zurechtbog. Dichterische Freiheit? Dankeschön! Das erleichtert mich ungemein. Also ist das Ganze mit einem Augenzwinkern zu lesen. ;)

Die Story spielt unmittelbar nach Band 4 und lässt alle folgenden Ereignisse außer Acht.

Besonderer Dank gilt meiner Beta Ninni, die sich durch nicht gerade kurze Kapitel zu wühlen hat.



Kapitel 1 - Erste Begegnungen



Unruhig wälzte sie sich im Schlaf hin und her. Das Klopfen in ihrer Brust nahm unerträgliche Ausmaße an. Sie wusste nicht, woher dieses Geräusch kam, das sie fast bis an die Schmerzgrenze trieb. Irgendein Mechanismus erlöste sie und ließ sie aufwachen. Sie riss die Augen auf und hatte vorübergehend Mühe, sich zu orientieren. Es war dunkel. Allerdings war es die Sorte von Dunkelheit, die sie automatisch mit Wärme und Geborgenheit assoziierte. Das war ein sehr seltsamer Gedankengang und ließ sich auch nicht schlüssig belegen, wollte man ihn hinterfragen. Es war so.

Dennoch war irgendetwas fremd. Das Geräusch in ihrer Brust ließ nicht nach, im Gegenteil, es nahm an Intensität zu.

Sobald sich ihre Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, registrierte sie, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Dieses hier war viel größer. Es war wuchtiger als ihr eigenes und trotzdem war es auf merkwürdige Weise ihr eigenes. Die Bettwäsche hätte sie in erfrischende Kühle hüllen sollen und sie fragte sich, weshalb sie dennoch schwitzte. Ihre Hand fuhr an ihren Hals und sie hielt inne. Sie schimpfte sich selbst einen Dussel. Denn was sie in der Hand hielt, war der Auslöser für das Geräusch, das sie aus ihrem Schlaf gerissen hatte.

Ein Herzschlag. Das Donnern, das sich anhörte wie eine Stampede, war ein Herzschlag. SEIN Herzschlag.

Vorsichtig drehte sie den Kopf zur Seite und wusste, es war kein Traum. Der Mond schien nur spärlich, aber dennoch würde sie dieses Profil selbst in einer anderen Galaxis wieder erkennen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem kleinen Schmunzeln. Ja, das würde sie, schließlich hatten sie galaktische Eskapaden hingelegt, die wohl neu und ungewöhnlich für schottische Verhältnisse waren. Seine langen Haare und die unergründlichen Augen sah sie jetzt nicht. Lediglich die kühn geschwungene Nase verriet ihr, dass sie wirklich neben dem Mann lag, der ihr sein Herz geschenkt hatte. Der zu ihr gehörte und zu dem sie gehörte. Ihr Schmunzeln wurde zu einem fetten Grinsen, als sie daran dachte, wie unmöglich, unvorhersehbar und unvorstellbar das Ganze noch vor sieben Jahren gewesen war.

Damals, als noch alles fremd und neu war und zwischen ihnen beiden der Notstand herrschte. Damals, als sie sich im Grunde genommen permanent mit einer imaginären Parlamentärsflagge gegenüberstanden, sorgsam hinter dem Rücken versteckt, ohne es vom anderen zu wissen. Aufgeben? Keiner machte den Anfang. Sie waren gleich stark, sie waren gleich stolz.

Als diese Erkenntnis langsam dämmerte, lösten sich diese Flaggen irgendwann auf und machten etwas anderem Platz.

Unglauben.

Aus Unglauben wurde Respekt und aus Respekt wurde so etwas wie Freundschaft.

Etwas, das es normalerweise zwischen Lehrer und Schüler nicht gab. Eine Freundschaft, die tief war, aus der mehr hätte werden können, die lange gehalten hätte. Hätte. Wie sehr sie auf tönernen Füßen stand, merkte sie schnell.

Denn dieser Beziehung fehlte eines: Vertrauen. Genau aus diesem Grund wurde sie durch ihr Geständnis und ihre Offenheit brutal zerstört. Sie verschwand so schnell, als sei sie in Treibsand geraten. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt und er war unfähig gewesen, damit umzugehen. Er konnte nicht vertrauen, er konnte sich nicht öffnen. Weit schob er alles von sich. Auch tiefere Gefühle, die an seinem Image kratzen könnten und nach seinem Dafürhalten nicht zu ihm gehörten.

Aber eines Tages geschah etwas, das sie für immer zusammenschweißte. Nie würde sie diesen Tag vergessen. Nie. Offenheit gegen Offenheit. Vertrauen gegen Vertrauen. Und es war so verdammt schwer gewesen. Für ihn.

Ein Gedankenstrudel riss sie sieben Jahre zurück.

xxxXXXxxx

Die Dämmerung brach so schnell herein, dass das Auge kaum folgen konnte. Der Wind fuhr in die mahagonifarbenen Locken des Mädchens, das am Rande des Sees wartete. Er zerrte regelrecht daran. Schnell zog sie ihren Umhang enger. Wärmer wurde es natürlich nicht, aber irgendwie fühlte sie sich darin geborgen. Er war das letzte Stück Heimat, an das sie sich klammern konnte. Er war so sehr Australien wie sie selbst. Beinahe schmeichelnd glitten ihre Augen über die Farbe, die wie Sand war, vermischt mit einem kaum wahrnehmbaren rötlichen Ton, der so sehr ihr Zuhause widerspiegelte.

Es hatte in ihr einen beträchtlichen Schock hinterlassen, als sie in der Winkelgasse einkaufen gewesen waren und ausschließlich schwarze Umhänge sah. Scheinbar trug man die hier in Europa. Wenn australische Magier eine solche Farbe tragen würden, dann würden sie im Outback wohl einem Schwarm verirrter Krähen gleichen, der wie die Heuschreckenplage durchs Land zog.

Hoffentlich beschränkten sich die Unterschiede zwischen Europa und Australien auf ein Minimum, so dass ihr die Umstellung nicht allzu schwer fallen würde. Zu ihren Augen mochte diese Farbe sehr wohl einen guten Kontrast herstellen, mehr aber nicht.

Diese Augen waren das ungewöhnlichste an diesem Mädchen. Ein einziges Meer aus Bernstein. Am schönsten sahen sie aus, wenn die Sonne unterging und ihre Strahlen über die Iris irrlichterten. In diesem Augenblick verwandelten sie sich selbst in winzige Sonnen. Jetzt aber lag ein Schatten darüber und er wurde immer trüber, je dunkler es wurde. Ihr kritischer Blick wanderte über den See und ihre Stirn legte sich in Falten.

Da stand sie nun, Aniram Hawkwing, frisch importiert aus Australien, und bekam vor lauter Staunen und Ehrfurcht den Mund nicht mehr zu. Was glücklicherweise niemand sah.

DAS also war Hogwarts. Demzufolge war sie doch nicht so begriffsstutzig, wie sie angenommen hatte. Denn als ihr Vater sehr erschöpft von einer Unterredung mit Professor Dumbledore wiederkam, brachte er nur noch die Kraft auf, um von Schlössern und Häusern zu murmeln. Jetzt, wo sie dieses imposante Gemäuer sah, das sich wie ein Adlerhorst in die aufkommende Dunkelheit schmiegte, war es kein Wunder, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Sie legte den Kopf leicht schief.

In Australien gab es keine Schlösser. Ihr Vater sprengte die Grenzen ihrer Vorstellungskraft, als er auch noch behauptete, dieses eine Schloss hätte Häuser. Sie hatte sich schon auf den Anblick eines seltsamen und lächerlichen Gebildes eingestellt. Mehrere Häuser in einem Schloss! Also entweder ein Schloss oder ein Haus.

Gut, Hogwarts sah gewaltig aus und Aniram revidierte ihre Vorstellung von einem Haus. An dieser Stelle zumindest erkannte sie, dass ein Haus nicht nur eine architektonische Definition erfuhr. Ihr Vater hatte gesagt, nach dem Umzug nach Europa käme sie in das Haus Ravenclaw. Ihre Gedanken ratterten weiter. Wie wohl die anderen Häuser heißen mochten? Hatte das alles etwas mit Tiernamen zu tun und war sie auf Grund ihres Nachnamens nach Ravenclaw geraten? Aber was geschah dann mit Schülern, die Allerweltsnachnamen trugen?

Sie war neugierig, sehr neugierig. Es war keine Scheu oder Schüchternheit, die sie befiel, als sie daran dachte, dieses unbekannte Terrain zu betreten. Sie sah es als Herausforderung an und nahm sich vor, so selbstbewusst wie möglich aufzutreten. Also so, wie sie selbst auch war. Und sie würde Fragen zu stellen. Schließlich sollte sie eine Zeitlang hier verbringen.

Jetzt wartete sie eigentlich nur auf jemanden, der sie da hinüberkutschierte oder über den See transportierte oder was auch immer. Sie hasste es, von irgendetwas oder irgendwem abhängig zu sein.

Erneut brodelte der Ärger in ihr hoch. Ärger über ihren Vater. Normalerweise wäre sie teleportiert und wegen eben dieses Ansinnens kam es gestern Abend zum größten und besten Streit seit Jahren im Hause Hawkwing. Sie wollte einfach nicht einsehen, warum ihre übliche Fortbewegungsmöglichkeit hier in Europa nicht mehr möglich sein sollte.

Die von ihrem Vater vorgebrachten Argumente zerschnipselte sie mit ihrem messerscharfen sechzehnjährigen Verstand. Sie wollte sie nicht akzeptieren, sie weigerte sich. Denn immerhin sollte sie nicht unter Muggeln, sondern unter Magiern leben, die wohl kaum zusammenzucken würden, wenn sie auf einmal weg war. Sicherlich hätte es niemand bemerkt, wenn sie sich nachts in den Garten geschlichen hätte und verschwunden wäre. Nicht einmal mit einem Plopp! Einfach weg von einer Sekunde auf die andere.

Aber nein, Mister Hawkwing, der große Erfinder, bestand darauf, dass sie den Hogwarts-Express nahm. Sie schüttelte sich noch nachträglich, als sie an die Fahrt in diesem schnaufenden, altersschwachen Ding dachte. Ihr anfänglicher Missmut schlug erst recht in Ärger um, als sie die Abteile abklapperte und zu ihrem Entsetzen erkannte, dass sie der einzige Fahrgast war. Welcher Trottel auch immer dafür verantwortlich zeichnete, er schien diese komische Mühle einzig und allein für sie eingesetzt zu haben. Die Kette der Fragen mit allem Warum, Wie, Wer oder Was schien nie abzureißen. Seufzend stand sie hier und wusste, die Antworten darauf bekam sie nur dort drüben.

Aniram schnitt Grimassen und rekapitulierte den ellenlangen Vortrag darüber, was sie in Zukunft tun durfte und was nicht.

Unauffällig benehmen. Aber klar. Eine Hawkwing benimmt sich nicht auffällig.

Keine kilometerlange Teleportation wie in Australien. Oho, wenn sie gezwungen war, noch einmal dieses Dampflok-Ding zu nehmen, dann würde sie das mit Sicherheit tun. Außerdem ging es schneller. Ihr tat jetzt noch der Hintern weh.

Und so weiter, und so fort. Überall Verbotsschilder. Einfach nur ätzend. Wenn das ihr zukünftiges Leben hier war, dann gute Nacht! Ihr Vater rieb ihr noch mit mütterlicher Unterstützung Regel Nummer Eins unter die Nase:

Kein Wort von zu Hause.

Ha! Eine schweigsame Hawkwing? Er hatte wohl vergessen, dass sie seine Tochter war. Am besten tackerte sie sich den Mund zu, so dass kein Sterbenswörtchen über ihre Lippen kam. Bis zu einem gewissen Grad verstand sie die Vorsichtsmaßnahmen, denn Australier lebten für sich. Aniram wusste auch, warum. Allerdings unterschied sie zwischen Vorsicht und Vorschrift. Was ihr vor die Nase gesetzt wurde, waren alles Vorschriften.

Unruhig begann sie hin und her zu laufen und schnaubte durch die Nase. Ihr Vater war ein großartiger Kerl, aber in gleichem Maße unheimlich stur. Ein fettes Grinsen bemächtigte sich ihres Inneren und sie dachte, dass sie ja irgendwas von ihrem Vater haben musste. Ihre Mutter hörte sich einen Vater-Tochter-Disput in der Regel so lange an, bis es ihr zuviel wurde und zu nerven begann. Dann wurde sie mindestens genauso laut. Aber egal, in Australien konnte man laut werden wie man wollte, die nächste Nachbarschaft war weit entfernt.

Australien! Sie geriet wieder ins Träumen und wünschte sich augenblicklich nach Hause. Ihr Unwohlsein stieg und ihre Schritte beschleunigten sich. Erst dieses eigenartige Beförderungsmittel und jetzt dieses Klima. Ihrer sonnen verwöhnten Haut war es viel zu kalt. Zudem fing es noch an zu nieseln. Wann würde sie diese Warterei endlich hinter sich haben? Aus ihrer Ungeduld wurde langsam ein bisschen Grimmigkeit. Wie konnten die einen so lange warten lassen? Erst der einzige Fahrgast und jetzt? Es war eine bodenlose Frechheit.

Nicht zum ersten Mal stellte sie sich die Frage, wie viele tasmanische Teufel ihre Eltern geritten hatten, um sie zu veranlassen, nach Europa zu gehen. Nun ja, das australische Zaubereiministerium und in oberster Instanz die Internationale Magiervereinigung als tasmanische Teufel zu bezeichnen, war schon reichlich vermessen. Und womit hing das alles zusammen? Sollte sie stolz oder wütend auf ihren Vater sein? Ihm war es gelungen, einen interkontinentalen Portschlüssel zu modifizieren. Dieser Erfindung würde wohl kaum eine solche Bedeutung beigemessen werden, wenn nicht Voldemort wieder aktiv wäre.

Der war - im Gegensatz zu den antiquierten Europäern, die anscheinend nicht teleportieren konnten - in der Lage, immer und überall aufzutauchen. Aniram hatte noch nie davon gehört, dass ein Apparieren von Kontinent zu Kontinent möglich war. Ihres Wissens reichte ein normaler Portschlüssel nur innerhalb eines Landes. Oder eines Kontinents.

Aus den Erklärungen ihres Vaters ging nur so viel hervor, dass die Magier diesen besonderen Portschlüssel hier, an der einstigen Wirkungsstätte des Dunklen Lords, haben wollten. Und nirgendwo anders. Niemand wollte sich auf Portschlüssel oder gar konventionelle Muggelbeförderungsmittel verlassen, die sich Schiffe und Flugzeuge nannten.

Zwar war es nicht ihre Aufgabe, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum um dieses Ding so ein Wind gemacht wurde. Sie tat es trotzdem. Wahrscheinlich hing es mit der Tatsache zusammen, dass australische Hexen und Zauberer von Natur aus starke Teleporter waren und damit das Wort und die Tätigkeit Apparieren ersetzten. Also irgendeinen Sinn musste es schon haben, dass es jemand als nützlich ansah, eine ganze Familie aus Australien kommen zu lassen.

Mit einem gewissen Stolz dachte Aniram daran, dass sie die ersten gewesen waren, die diesen Portschlüssel ausprobierten. Zuerst ihr Vater, der zur Unterredung mit Professor Dumbledore hierher gereist war, und jetzt die gesamte Familie. Dabei konnte noch nicht einmal gesagt werden, ob drei Personen über so eine gewaltige Distanz transportiert werden konnten. Sie taten es einfach. Ohne Experimente keine Ergebnisse. Das Credo der Australier, mit dem Aniram aufgewachsen war.

Ihr Vater erfand alles Mögliche und Unmögliche, also diesmal einen solchen Portschlüssel. Und? Ihr mittlerweile wirklich grimmiger Blick schoss über den See. Unwillkürlich verglich sie diesen schwarzen Kasten mit dem Ayers Rock. Aber der Rock war wärmer, er war schützender. Selbst in der Nacht verlieh er einem noch Sicherheit. Diese Festung dort drüben wirkte einfach nur abweisend.

Wenn Hogwarts für sie nach den ersten Augenblicken bereits ein hoffnungsloser Fall war, dann führte sie das weiter zu der Überlegung, wie der Unterricht aussehen könnte. Dass er sich in den wesentlichsten Sachen von dem zu Hause unterschied, dessen war sie sicher. Zu ihren Fragen von vorhin fügte sie noch eine hinzu: Gab es hier Teleporter? Die Antwort lag eigentlich auf der Hand und war mit einem klaren Nein zu beantworten. Wenn die Europäer so versessen auf diesen Schlüssel waren, dann definitiv nein. Sie stellte fest, je länger sie warten musste, desto weniger konnte sie das Wort Schlüssel sagen oder denken.

Krampfhaft versuchte sie, an etwas Angenehmeres zu denken. Sie landete prompt wieder in Australien. Im Augenblick gehörte es noch in die Kategorie der Nebensächlichkeiten, woran sie dachte, denn solange sie hier stand und Wurzeln schlug, konnte sie denken, was, so lange und so oft sie wollte.

Lächelnd erinnerte sie sich an ihr erstes Schuljahr. Ob hier wohl auch so viele Touristen herumschlichen wie um den Ayers Rock? Wenn ja, wie bekam man dieses Problem hier in den Griff? Nicht ein einziger Mensch wäre auf die Idee gekommen, dass es sich bei der Schar Kinder, die sich um den Ayers Rock tummelte, um Schüler aller Jahrgangsstufen handelte. Und erst recht wäre keiner auf die Idee gekommen, das Planetarium im Fels zu suchen. Die Touristen bestaunten den roten Felsen und zischten wieder ab. Natürlich kam es vor, dass sie mit ihrem Geplapper und Geknipse reichlich störend in den Unterricht eingriffen, ohne es zu ahnen. Hier war es wohl kaum vorstellbar, dass Lehrer dafür sorgten, ihre Klassen mittels Teleportation ungefähr fünfzig Kilometer zu versetzen und den Unterricht fortzuführen.

Genau diese Aktionen waren der Grund, weshalb australische Zauberer sandfarbene Umhänge trugen. Es musste manchmal ruckartig vonstatten gehen und diese Farbe war nichts weiter als perfekte Tarnung und Anpassung an die vorherrschende Farbe im Outback. Sie brachte ein innerliches Glucksen zustande. Verursacht wurde es von der Farbe Schwarz. Wenn man die zu Hause tragen würde - nein. Sie stellte sich vor, wenn sich eine Masse von Schülern in schwarzen Umhängen erhoben hätte. Das musste doch für die Muggel wie ein Weltuntergang wirken. Nein, ihre Farbe war perfekt, denn so sah es jedes Mal wie ein leichter Sandsturm aus und sie hinterließen nichts weiter als flirrende Luft. Für ein ungeübtes Auge nicht wahrnehmbar, WAS dort eben verschwand. Die Luft flirrte sehr oft um den Ayers Rock. In der Muggelpresse schrieb man dann von ungewöhnlichen Vorkommnissen.

Überhaupt kam sie aus einem Land der Ungewöhnlichkeiten. Nur war es für sie Normalität. Ihr graute irgendwie vor dem Zusammenstoß mit der Realität, wenn sie feststellen musste, dass es KEINEN Unterricht am Ayers Rock gab, KEINE Erforschung der Traumzeitpfade der Aboriginies, KEINE Arbeiten mit Magnetfeldlinien, die um solche magische Stätten wie den Rock am stärksten ausgeprägt waren. Die am besten und strengstens gehüteten Geheimnisse trug sie mit sich herum. Wieder tauchte vor ihrem geistigen Auge dieses Verbotsschild auf:

Nichts von zu Hause erzählen.

Sie dachte an die Aboriginies, die Ureinwohner Australiens, die in ihren Augen selbst halbe Magier waren. Sie brauchten nicht einmal eine Ausbildung. Denn wie sonst wenn nicht durch Teleportation bewegten sie sich vorwärts? Aniram war manchen dieser Geheimnisvollen auf ihren Wanderungen begegnet. Sie erinnerte sich noch an ihren aufgeklappten Kiefer, als sie von einer kurzen Ablenkung wieder auf ihren Gesprächspartner schaute oder besser gesagt schauen wollte, aber der war weg. Weit und breit kein Busch, kein Baum oder Stein, hinter dem man sich verstecken konnte. Kahler Boden und heiße Luft. Aber der Aboriginie war trotzdem weg. Es war manchmal unheimlich. Und unwahrscheinlich. Sie zweifelte jetzt schon daran, ob ihren Worten jemals Glauben geschenkt werden würde.

Das Unwahrscheinlichste war jedoch die Traumzeit und ihre Erlebnisse darin. Zwar ungern, aber dennoch mit einem gewissen Stolz erinnerte sie sich an die zurückliegenden vier Jahre. Knochenhartes Training, das schon Kampfsport gleichkam, gleichzeitig Meditation, um eine größere Zielsicherheit und die Fokussierung der Körperkräfte auf den mit Magnetlinien verstärkten Umhang zu erreichen. Nur mit diesen Fähigkeiten hatte man überhaupt eine Chance, aus einer anderen Zeit zurückzukommen.

Die Traumzeit-Teleport-Prüfung war die schwerste Prüfung im Leben eines australischen Magiers. Auch wenn es seltsam erscheinen mag und für manche zu früh war, diese Prüfung absolvierte man am Ende der vierten Klasse. Die eigenen Vorbereitungen wurden von den Lehrern mit peinlicher Genauigkeit überwacht. Natürlich wurden auch die Eltern mit eingespannt. Nicht selten war es ihre Mutter, die sie mitten in der Nacht anstupste und sagte: "Unsichtbarkeit." Aus dem Stand, genauso genommen aus dem Schlaf heraus musste dieser Trank samt Zutaten, Zubereitungszeit und Wirkungsweise heruntergeleiert werden. Dieses umfangreiche, solide fundierte Wissen musste sein, denn ansonsten konnte man sich die Zulassung zur Prüfung abschminken. Ganz einfach deshalb, weil man allein war. Kein Lehrer, kein Eingeweihter, mit dem man durch ein dünnes Band noch verbunden war und von dem man sich Rat holen konnte, nichts. Es gab nur noch den Schüler und seine Fähigkeiten, denn selbst ein Zauberstab war in der Traumzeit wirkungslos, regelrecht außer Gefecht gesetzt.

Bei dieser Prüfung zählte wirklich, entweder teleportieren oder für immer von der Bildfläche verschwinden. Die Vermisstenmeldungen hielten sich zwar in Grenzen, aber sie waren unleugbar vorhanden. Aniram mochte sich nicht ausmalen, wie es wohl war, in einer fremden Zeit festzustecken, für immer, ohne Hoffnung auf Rückkehr. Niemand konnte vorher einschätzen, wo und vor allem wann er landete. Manchmal lagen zehn Jahre zwischen Start und Ziel, manchmal tausend.

Sie selbst hatte wohl vor zwei Monaten alle vorhandenen Rekorde gebrochen. Voller Stolz hatte sie ihren neuen Zauberstab entgegen genommen. Ein australischer Magier besaß in seinem Leben zwei Zauberstäbe - den ersten zu Übungszwecken bis zur vierten Klasse, den zweiten nach bestandener Prüfung. In sehr seltenen Fällen - und Aniram wusste, die Anzahl derer war nicht hoch - besaß man als drittes den seines Pendants. Wenn man eines hatte oder war. Durch eine solch intensive mentale Verbindung war man in der Lage, ungeheure Kräfte freizusetzen und mit ihnen zu arbeiten.

Der Kern eines Zauberstabes bestand aus mehreren Komponenten. Er enthielt grundsätzlich einen Splitter des Ayers Rock, umschlossen von einem Mitbringsel aus der Zeit, in der man gelandet war. Professor Adomoo-Dongkada, ihr Schulleiter, machte jedes Mal ein großes Geheimnis daraus, wenn er die Zauberstäbe verteilte. Immerhin war zu einem solchen Anlass alles, was einen sandfarbenen Umhang trug, anwesend. Es trieb ihr jetzt noch die Schamesröte ins Gesicht, weil er auf sie ganz besonders stolz gewesen war. Aber da schloss er sich nur dem Urteil der anderen Lehrer an. Sie war schließlich die erste und einzige, die es jemals geschafft hatte, die…

"Bist du Hawkwing?"

Durch diese Worte wurde sie sehr unsanft aus ihren Träumereien gerissen. Wie aus dem Boden gewachsen stand eine Gestalt vor ihr und bellte sie an wie der Höllenhund persönlich. Mit vor der Brust verschränkten Armen und das Mindestmaß an Höflichkeit aufbietend beließ es Aniram bei einem Ja.

"Na dann komm, hab nich den ganzen Tag Zeit."

Sie fühlte, wie ihre Wut greifbar wurde. Ihre Angst, ihre Neugier und ihre Ungeduld wichen dem letzten Gefühl, das sie beherrschte: Zorn. Da wurde sie stehengelassen und dann so heruntergeputzt? Oh nein. Die Gestalt am Boot drehte sich um, als sie keine Bewegung hinter sich ausmachte.

"Bist du festgefroren?"

Aniram schloss die Augen und zwang sich zur Beherrschung. Das sagte sich in dieser Situation einfacher als es ausgeführt werden konnte. Sie fragte sich, wer da vor ihr stand. So eine Art Fährmann vielleicht? Aber warum war er dann nicht früher aufgetaucht? Denn soweit sie ausmachen konnte, stand sie seit Stunden allein hier am Ufer. Definitiv war sie der einzige Fahrgast gewesen und dieser schrullige Typ brauchte gewiss nicht noch auf Nachzügler zu warten. Sie brachte ihre Kiefer kaum noch auseinander, als sie antwortete.

"Ja, könnte man sagen. Mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen?" Normalerweise stellte man sich einander vor, wenn schon kein Dritter anwesend war, um das zu übernehmen.

"Zweifelhaft?" geiferte die Person. "Du wirst nie an Argus Filch zweifeln, dass versprech ich dir. Genauso ein Lauser wie alle anderen, nichts als Ärger…", der Rest ging in einem Brummeln unter.

Immerhin hatte ihre Wut jetzt einen Namen: Filch. Bevor sie zur nächsten Frage ansetzen konnte, wurden ihre Grübeleien mit einem recht unsanften Knuff in die Seite unterbrochen.

"Was ist, steig endlich ein." Filch stieg ins Boot. "Oder willst du fliegen?"

Lachen konnte über diesen Witz nur einer der beiden Anwesenden. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Wie lange sie schon hier stand. Warum er sie Wurzeln schlagen ließ. Warum er sie beleidigte. Hatte das was mit ihrem Nachnamen zu tun? Egal. Es dürfte wohl kaum von Bedeutung sein, dass sie sich zum Animagus ausbilden lassen wollte. Im Moment war sie einfach nur wütend und vor allem müde.

Hatte sie vorhin etwas von Sturheit gedacht? Nun, jetzt war es soweit, sie kam zum Einsatz. Aniram nahm sich vor, diesem Gerippe vor ihr eine Lektion zu erteilen, die sie nie vergessen würde. Das wäre doch gelacht. Sie fragte sich überhaupt, warum sie so weit weg von ihrem Vater seine Anweisungen befolgte und NICHT teleportierte. Den Erdboden hatte sie noch nicht sondiert und das gestaltete ihr Vorhaben etwas unsicher, brachte sie jedoch keinesfalls davon ab. Dieses Versäumnis war nicht mehr aufzuholen. Sie wusste also nicht, welche Linie sie tragen würde und welche nicht. Aber Australier taten alles. Noch dazu, wenn sie der felsenfesten Überzeugung waren, sich etwas nicht bieten zu lassen. Aniram fasste ihren Umhang fester und zog sich mit der Kraft ihrer Gedanken vor das Schlossportal.

Das darauf folgende DONG erklang mit einem Widerhall, der der größten Glocke dieser Welt alle Ehre machte. Aniram fühlte sich wie auseinander genommen und falsch herum zusammengesetzt. Sie war abgeprallt wie… ja, wie was? Wie ein Tennisball vom Netz. Ihre Verwunderung stieg ins Grenzenlose, als sie feststellte, dass sie sich in der Horizontalen befand. Noch dazu am Boden. Wieso lag sie? Sie befahl der Glocke in ihrem Kopf Einhalt, aber die hatte eine andere Meinung und klang fröhlich weiter.

Sie grübelte. Dann hatte sie eine Erklärung parat. Durch den Abprall lag sie neben dem Eingang im Gebüsch. Sie ging davon aus, dass es in Europa Gebüsch gab. Froh, eine Antwort auf die selbst gestellte Frage zu haben, befahl sie sich ein Hochrappeln und erneutes Klopfen an die Eingangstür. Vor wenigen Sekunden hatte sie zwar einen lebenden Türklopfer in Perfektion demonstriert und der konnte unmöglich überhört worden sein. Aber was, wenn diese Europäer nicht nur dämlich, sondern halb taub waren?

Doch schon beim ersten Versuch sich aufzurappeln, stöhnte sie laut auf. Die Glocke im Kopf war präsenter denn je und jagte eine Schmerzwelle nach der anderen durch den Körper. Grauenvoll, so zerschlagen hatte sie sich noch nie gefühlt. Verdammt, was war passiert? Bevor sie diese Tatsache einer weiteren gründlichen Analyse unterziehen konnte, hörte sie ein wattiertes Gackern.

"Hey, Hawkwing, bist du das da hinten? Weiß nich, was du gemacht hast, aber scheinbar ging's schief. Meine Fresse, so ein Geschepper und Gerassel, das hab ich bis hierher gehört."

Das Gackern ging weiter.

Weniger ihr misslungener Versuch zu teleportieren trieb ihr eine Gänsehaut über den Körper, sondern eben dieses Geräusch. Die Laute einer Ziege klangen weitaus angenehmer und harmonischer. Aber das hier tat einfach nur in den Ohren weh. Die Glocke schien etwas Platz gemacht zu haben, allerdings im ungünstigsten Augenblick. Obwohl ihre Sinne noch nicht beieinander waren, hörte sie die Ziege näher kommen.

Mit beinahe brachialer Gewalt aus dem Busch gezerrt und landete mit einem Aufschrei auf der Erde. Sie schaute auf ihre Hände, auf die eine warme Flüssigkeit tropfte. Blut. So vieles stürmte gleichzeitig auf sie ein, dass sie nicht wusste, worauf sie zuerst reagieren sollte. Aber beim Herausziehen hörte sie ein Ratschen und das konnte nur bedeuten, dass sich ihr Umhang verabschiedet hatte.

Sie fuhr Filch an: "Du Dussel, genau damit kann man…", teleportieren sollte das nächste Wort sein, aber der Schmerz nahm ihr die Luft. Keuchend setzte sie sich auf. Sie hatte sich wohl mehr Verletzungen zugezogen als gedacht, denn sie sah fast nichts mehr. Alles war verschwommen. Ihre Umgebung nahm sie nur noch wie durch einen Schleier wahr.

Vordergründig beschäftigte sie die Frage, wogegen sie gedonnert war. Wenn es eine Abschirmung war, dann war das die stärkste, mit der sie es je zu tun bekommen hatte.

Viel schlimmer war die Frage - wie sollte sie einen solchen Umhang wieder bekommen? Noch nie hatte sie von reparierten Umhängen gehört. Dazu waren sie viel zu komplex und bildeten mit dem Träger eine Einheit. Sie waren mehr auf den Träger geeicht, als es jemals ein Zauberstab sein konnte.

Bevor ihr noch mehr Fragen durch den Kopf schossen, erreichte Filch seinen Sättigungsgrad an Säure: "Jetzt steig endlich ein, sonst verpasst du noch das Abendbrot und kriegst nich mal mehr ein Bett." Diesmal widerspruchslos und ihre Schmerzen ignorierend stieg Aniram ein.

Schaudernd sah sie diesen schwarzen Kasten an, der auf sie wie ein Gefängnis wirkte. Was würde sie wohl dort drüben erwarten?

xxxXXXxxx

Diese Frage wurde ihr leider schneller beantwortet als ihr lieb war. Sie befand sich in der Steinzeit. Das war jedenfalls ihre prompte Meinung über den Krankenflügel und die in Weiß gekleidete Schwester - eine Farbe, die sie als durchaus angenehm empfand - die hilflos an ihrem Bett stand. Außerdem waren da noch ein Mann mit einem weißen Bart und eine streng aussehende Frau mit Hut. Also Krankenstation. Scheinbar war dieser Filch doch nicht so ein Esel. Dennoch sprach sie ihm trotzig jedwede Form von Intelligenz ab. Basta.

Trotzdem hatte sie das Gefühl, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Nichts deutete darauf hin, ob sie schon untersucht worden war. Wie stand es um die inneren Organe, Knochenbrüche und den Blutverlust? Herrschaftszeiten, sie musste unbedingt wissen, wie schwer sie verletzt war. Warum war sie nur von Schweigen umgeben? Tot konnte sie nicht sein, ihre Augen und andere diverse Sinne arbeiteten noch. Dieses weiß-violett-grüne Trio starrte sie aber nur an. Das war schlimmer als auf einer Beerdigung.

Nun, wenn die anderen nicht daran dachte, den Mund zu öffnen, sollte sie das wohl tun. Zuerst stellte sie die Frage, die sie am meisten beschäftigte.

"Wie stark ist das Schulhaus abgeschirmt?"

Antwort erhielt sie in Form eines verwirrten Blickwechsels zwischen den beiden bunten Personen. Freundlich oder höflich schienen diese Europäer nicht zu sein. Erschöpft schloss sie die Augen und dachte, dass es auf eine dermaßen simple Frage doch eine Antwort geben müsste. Wenn irgendjemand diese Abschirmung errichtet hatte, sollte er folgerichtig in der Lage sein zu antworten. Selbst wenn die Abschirmung jahrhunderte, jahrtausende alt war, irgendwer musste dieses magische Konstrukt weitergegeben haben.

‚Große Mutter Kunapipi, wenn du mich schon zu Unfähigen geschickt hast, dann sorge wenigstens dafür, dass sie mich nicht ständig anschweigen. Ansonsten grenzt es ja an ein Wunder, dass ich überhaupt hier liege.'

Da sie immer noch keine Reaktion bekam, machte sie einfach den Anfang: "Sind Knochen gebrochen?"

Die Schwester zuckte leicht zusammen. "Ähm, ja, angebrochen, in zwei Stunden dürften sie geheilt sein. Solange müssen Sie noch ruhig liegen."

Wenn Aniram jetzt lachen könnte, würde sie es lauthals tun. "Mir ist nicht gerade nach Samba tanzen zumute. Innere Organe?"

Sie registrierte bei allen drei Personen ein unaufhaltsames Nach-oben-Wandern der Augenbrauen. Wenn nicht alles so schmerzen würde, würde sich zum Lachenwollen noch ein Augenverdrehen gesellen.

"Es ist nicht die erste Verletzung dieser Art, also sagen Sie mir gefälligst, wie schwer sie ist." Langsam verlor sie die Geduld.

"Nein, soweit ich feststellen konnte, hat es keine Organe erwischt. Die Rippen haben einen Bogen drum gemacht." Diese Antwort von der Schwester kam recht schnell.

Oh, das war kreuzgemein. Da lag sie hier, konnte nicht lachen und dann begegnete sie solch einem trockenen Humor. Sie verzog das Gesicht und grinste. Also doch ganz brauchbar. Vielleicht ließen die Europäer nur auf diese Art und Weise mit sich reden? Hm. Brauchbarer Gedanke, unbedingt festhalten.

"Helles oder dunkles Blut?"

"Dunkel. Kommt aus Nase, Mund und Ohren und ich an Ihrer Stelle würde jetzt die Klappe halten", wurde sie von der Lady in Grün angezischt. "Das heißt, Sie haben geblutet, dank des Blutstillungstrankes, den wir Ihnen aber nicht oral verabreichen konnten, bleibt uns dieser unerfreuliche Anblick jetzt erspart."

Professor McGonagall konnte sich nicht mehr beherrschen. Dass ausgerechnet ihr, der Stellvertretenden Direktorin von Hogwarts und Hauslehrerin von Gryffindor, das passierte, war ein absolutes Novum.

Dass dieses Mädchen dalag und sich selbst kaltblütig sezierte, raubte ihr den letzten Nerv und konnte einen wirklich die Beherrschung verlieren lassen. Mit solchen schweren Verletzungen konnte jemand unmöglich in der Lage sein, eine Beurteilung über seinen Gesundheitszustand abzugeben - ganz zu schweigen von der Tatsache, exakt beschränkte Fragen zu stellen. Fragen auf das Wesentliche. Normalerweise gefiel ihr ein solcher Charakter, aber nicht mit diesen Verletzungen.

Genau betrachtet, stellte das Mädchen die Fragen, die eigentlich aus ihrem oder Albus' Mund hätten kommen sollen. Nachdem sie sich gefangen hatte, konnte sie ein anerkennendes Aufblitzen ihrer Augen nicht verbergen.

"Ist gut, Minerva, ich schätze ein, dass das nicht das erste Mal ist und dass sich Miss Hawkwing unter anderen Umständen genauso gut zu helfen gewusst hätte."

Der Mann im violetten Umhang sprach leise und gütig, fast einschläfernd. Aber schlafen war das Letzte, das sie jetzt wollte. Aniram fühlte einen leichten Brechreiz in sich aufsteigen und wollte nur noch in ihr Bett, ihr richtiges Bett.

"Stimmt, hätte ich." Sie warf einen kritischen Blick auf die Krankenschwester. "Ich warte noch zwei Stunden, dann gehe ich. Meine Verletzungen sind nur oberflächlich."

Nachdem sie drei fassungslose Gesichter sah, meinte sie: "Na gut, für den Fall der Fälle, geben Sie mir noch was Schmerz stillendes mit. Oder jetzt gleich. Wird ja wieder oral gehen", murmelte sie.

Die Reaktionen waren interessant. Diese Minerva schnappte nach Luft, der Herr in Violett schmunzelte und von der Krankenschwester war von einem Moment auf den anderen nichts mehr zu sehen. Ob sie vielleicht auch teleportiert war? Ach, unmöglich.

"Nun, scheinbar kann man Ihrem Willen und Ihrem Durchsetzungsvermögen keine Grenzen setzen, junge Dame. Sie selbst wissen sicher am besten, was wann möglich ist. Wenn Sie also der Meinung sind, Sie können sich in Ihren Schlafsaal begeben, dann tun Sie das. Ich werde die Hauselfen informieren, so dass Ihr Gepäck schon vor Ihnen da ist."

Verständnislos schaute sie ihn an. "Haus… was?"

"Hauselfen. Sie werden sie kaum zu Gesicht bekommen, aber sie sind da. Ich bin übrigens Professor Dumbledore und das", mit einer eleganten Handbewegung zeigte er auf die grüne Frau, "ist Professor McGonagall, meine Stellvertreterin. Ich überlasse Sie jetzt wieder sich selbst, nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass es Ihnen bis auf einige Kleinigkeiten gut geht. Schlafen Sie gut."

Damit zog er Professor McGonagall wenig professionell und gar nicht wie ein Direktor am Umhang und verließ das Krankenzimmer.

Draußen machte sich Professor McGonagall so richtig Luft. "Albus, das ist doch wohl nicht Ihr Ernst? Dieses Mädchen sieht schlimm aus. Sie hat schlimmere Verletzungen als mir je in meinem Leben untergekommen sind, und Sie nennen das alles Kleinigkeiten?"

"Natürlich fällt es mir nicht leicht, sie einfach so", er schnipste mit den Fingern, "zu verlassen."

Nachdenklich blickte er auf die Eingangstür zum Krankenflügel. "Aber ich glaube, Miss Hawkwing kann selbst einschätzen, was ihr fehlt und was nicht. Ansonsten hätte sie trotz ihrer Verletzungen nicht so konkrete Fragen gestellt. Dazu gehört ein sehr disziplinierter Geist, meinen Sie nicht auch?"

Widerwillig musste sich Professor McGonagall eingestehen, dass Professor Dumbledore Recht hatte. Mit blitzenden Augen schaute sie ihn an.

"Ich bin gespannt, was sie in meinem Unterricht liefert."

"Ich bin gespannt auf JEDEN Unterricht, das dürfen Sie mir glauben", schloss er mit einem unergründlichen Lächeln.



Kapitel 2 - Konfrontation


Mit denkbar schlechter Laune und finsterem Blick, also im Dauerzustand, machte sich Professor Snape auf den Weg zum Kerker, wo ihn eine Bande ausgelassener und lärmender Schüler erwarten würde. Warum sollte es ausgerechnet in diesem Jahr einen Tag nach den Ferien anders sein? Solange er hier unterrichtete, es war immer dasselbe. Erst als er an ihnen vorbeischoss, ihnen das Gefühl gab, von einem eiskalten Hauch gestreift zu werden und sich dann umwandte, waren sie still. Endlich still. Diesen Moment genoss er außerordentlich.

Er katalogisierte die so genannten Schüler als Hirn amputierten und undisziplinierten Haufen. Schon längst hatte er die Feststellung getroffen, dass es ein Ding der Unmöglichkeit war, einem Haufen Jahr für Jahr die exakte Kunst der Zaubertrankbrauerei nahe zu bringen. Erfolglos. Absolut erfolglos. Niemand interessierte sich für Tränke, für deren Zutaten - ganz zu schweigen von der Wirkungsweise. Nicht nur die Tränke, sondern auch die Wirkungen waren so mannigfaltig, so vielschichtig… sie konnten heilen, sie konnten verletzen, desillusionieren, ja, sie konnten sogar töten.

Doch in keinem Augenpaar sah er Begeisterung aufblitzen. Nein, jeder wollte nur schweben und verwandeln und weiß der Teufel alles tun. Hauptsache, es hing mit Fuchteln zusammen. Dieser Haufen fühlte sich anscheinend nur wohl, wenn er einen Zauberstock zücken konnte. Und selbst auf diesem Gebiet waren ihre Versuche lediglich als lächerlich zu bezeichnen.

Zu diesem Unmut gesellte sich das Wissen, dass er dieses Jahr wieder nicht Verteidigung gegen die dunklen Künste unterrichten durfte. ‚Wieder nicht' bedeutete Dauerzustand Nummer Zwei. Dies war aber einer, gegen den er wenigstens Jahr für Jahr ankämpfen konnte. Es hatte all die Jahre nichts gebracht, obwohl er rebellierte und sich ob dieses Dauerzustandes seine Gedärme verknotet hatten.

Trotzdem würde er nächstes Jahr weiterkämpfen. Irgendwann, redete er sich ein, irgendwann würde Albus nachgeben. Er konnte sehr hartnäckig sein, wenn es um die Verwirklichung seiner Ziele ging. Lehrer der Verteidigung gegen die dunklen Künste zu sein - zu werden! - motivierte außerordentlich.

Vor seiner Tür holte er noch einmal tief Luft. Luft, die er gleich brauchen würde, weil er sie mit Maden teilen musste. Schadenfreude bemächtigte sich seiner, als er daran dachte, dass dort drin der Jahrgang der Fünftklässler wartete. Das bedeutete ZAG's. Also würde er dieser Bande noch ein klein wenig mehr einheizen als üblich. Ein sardonisches Grinsen zog über sein Gesicht. Mehr als üblich? Gab es für ihn kein Limit, hatte es für die Schüler auch keins zu geben.

Es würde Hausaufgaben hageln. Diese wiederum zogen schwitzende Schüler und schlechte Noten en masse nach sich. Wenn die Schüler schwitzten und er schlechte Noten verteilen konnte, stieg sein Zufriedenheitsfaktor enorm. Dies machte wenigstens die beiden Dauerzustände erträglich. Außerdem konnte er auf dieser Ebene Macht ausüben und die Geschicke und Ungeschicke nach seinem Dafürhalten lenken.

Er riss die Tür auf und stürmte mit langen Schritten und wehendem Umhang nach vorn. Die Tür fiel von allein zu - inzwischen hatte er den exakten Kraftaufwand herausbekommen, sie nur so weit und dennoch kräftig genug aufzureißen, dass sie nicht nur an die Wand, sondern umgehend und unheilvoll wieder ins Schloss knallte. Ein jahrelang in Szene gesetzter Auftritt, der immer wieder in allen Klassenstufen wirkte.

Abrupt drehte er sich um.

"Dieses Jahr wird kein Spaziergang. Ich hoffe - auch wenn ich die Hoffnung darüber, dass Sie denken können, aufgegeben habe - dass Sie sich im Klaren darüber sind, dass Ihre ZAG's vor der Tür stehen. Das bedeutet, Sie müssen noch ein klein wenig mehr arbeiten als sonst. Keine Zauberstäbe in meinem Unterricht, keine verrückten Sprüche, nur das, was vor Ihnen steht. Ob Sie es schaffen", er machte eine zynische Pause, "liegt allein bei Ihnen."

Stille. Ängstlich glotzende Gesichter. Es gab nichts Schöneres als verstummte Kinder. Ja, man konnte auch Fünftklässler noch einmal daran erinnern, wie klein sie noch waren.

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Ob sie die Arbeit für die Muggel wirklich erleichterte, wusste sie nicht, aber Dampfwalzen waren eine grausame Erfindung. Aniram fühlte sich immer noch wie von einer überfahren und entschloss sich, noch einmal diesen weiblichen Knochen- und Seelenklempner aufzusuchen. An ihre Ankunft, die überhaupt nicht so verlaufen war wie gedacht und die recht schmerzvolle Nacht mochte sie sich nicht erinnern.

Nachdem die beiden bunten Personen verschwunden waren, hatte sie den Weg aus diesem ulkigen Sanatorium in Weiß von allein gefunden. Voller Unverständnis darüber, weil niemand ihre Frage beantwortet hatte. Eventuell hatte sie sich doch nicht deutlich und klar genug ausgedrückt.

Ihre Frage nach der Abschirmung wurde gestern von niemandem mehr beantwortet. Dieses ‚niemand' schloss eigentlich alle ein. Wenn die Erwachsenen schon so maulfaul waren, dann durfte sie auch von den flatterhaften und aufgeregten Mädchen, die im Schlafsaal ihrer Ankunft harrten, nicht viel erwarten.

Entweder handelte es sich um ein Thema, das sie nicht interessierte oder aber sie wussten wirklich nichts. Sie seufzte. Das war keine gute Voraussetzung, gar keine gute.

Abgesehen von ihrer unbefriedigten Neugier war sie enttäuscht, dass Madam Pomfrey ihr nicht großartig weiterhelfen konnte. Wie denn auch. Dazu müsste man einige Wunder unter den Europäern bewirken, damit sie in der Lage waren, entsprechende Diagnosen zu stellen. Sie war eine bessere Schwester als das Trio von gestern Abend zusammengenommen. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie solche Verletzungen kannte. Das hatte mehr damit zu tun, dass sie schlimmstenfalls hätte tot sein können, bevor sich jemand bequemte, sie über den Zustand von Blutverlust, Knochen und inneren Organe aufzuklären. So etwas musste blitzschnell gehen. Die Antworten kamen viel zu lahm. Es war ein insgesamt lahmer und oberflächlicher Haufen.

Tief in ihrem Inneren wusste sie, sie tat der Schwester Unrecht. Aber immerhin sollte sie bis zu ihrem Schulabschluss hier leben. Mangels Erfahrung hatte sie nur einen simplen Schlaftrunk bekommen, damit sie die Nacht überstand. Im Klartext: ohne Schmerzen schlafen konnte. Die erhoffte Wirkung blieb jedoch aus. Aniram brauchte jetzt so etwas Ähnliches wie ein Aufputschmittel, denn sie torkelte durch die Kante wie ein leer gesaugter Windbeutel.

Hoffentlich, hoffentlich gab es so etwas hier und wurde auch an Schüler ausgeteilt, denn das brauchte sie unbedingt, um diesen Tag zu überstehen. Was plapperten die Mädchen gestern? Sie sollte nicht zu spät kommen zur ersten Stunde Zaubertränke. Oh nein, Aniram kam vielleicht ab und an, wenn es unumgänglich war, zu spät, aber nie zu Zaubertränke. Die Mädchen faselten auch etwas von Punktabzug.

Darunter konnte sie sich beim besten Willen nichts vorstellen. Wollte ihr der Lehrer welche wegnehmen? Schon allein bei dieser Vorstellung musste sie grinsen. Wenn ihr welche weggenommen würden, dann wäre es wohl besser, sie hätte einige in der Tasche, damit sie dem Lehrer die Punkte geben konnte. Offensichtlich war das ein Tauschgeschäft - der Lehrer nahm, der Schüler gab. Das hatte jedoch wenig mit Tauschen zu tun und warum hieß es Abzug? Egal wie sie es drehte, es machte alles keinen Sinn.

Was war noch? Aniram hatte Mühe und versuchte verzweifelt, die Informationsflut aufzuarbeiten und zwischen wichtig und unwichtig zu entscheiden. Gestern - noch dazu in ihrem ziemlich lädierten Zustand - war sie schlichtweg überrannt worden und konnte die Gedanken nicht mehr sortieren.

Zwei Namen hatte sie behalten. Josephine Reeves, die mit ihrem Vornamen nicht ganz einverstanden war und sich Josy nannte, und Cho Chang. Wenigstens das war greifbar. Die beiden wollten ihr einen Platz zwischen sich freihalten. Auch wenn sie partout nicht begreifen wollten, dass Aniram vor dem Unterricht noch einmal zur Schwester gehen wollte. Sie wurden bleich und waren entsetzt. Warum eigentlich?

Als nächstes versuchte sie sich noch daran zu erinnern, was es mit diesem ominösen Zaubertrankmeister auf sich hatte. Die eine hatte ja ziemlich von ihm geschwärmt. Aniram überlegte, ob dieser Professor hier an dieser Schule vielleicht den Status von Professor Yulin hatte.

Ihr Lehrer für Wahrsagen sah verteufelt gut aus und hatte die meisten Stalker. Aniram grinste sich einen ab, als sie an seine Schüchternheit dachte und die Tatsache, dass er mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerkes von fanatischen, frisch verliebten Teenagern Reißaus nahm. Mit Höchstgeschwindigkeit. Es würde schon seinen Grund haben, warum er sich nicht von seinem Teppich trennte. Wenn man über Yulin sprach, kam letztendlich nur ein Tuscheln heraus. Ein Tuscheln darüber, wie und wo zum Henker er seinen Teppich getunt hatte - denn einfache Turbofransen waren das nicht mehr, an denen er zupfen konnte - und wie er denn bei seinem nicht vorhandenen Draufgängertum jemals zu einer Frau kommen wollte. Sollte. Konnte. Müsste.

So glatt geleckte Typen waren ohnehin nicht ihr Fall. Denn hinter einer rauen Fassade verbarg sich oft ein viel interessanterer und vielschichtigerer Charakter. Ihr kam es nicht auf das Aussehen an, solange sie die Gewissheit hatte, dass INNEN alles in Ordnung war. Mehr als in Ordnung. Ein solcher Mann sollte außerdem noch über eine gehörige Portion Charisma verfügen und eine Herausforderung darstellen. Intelligent, brillant und witzig sein. Für sie gab es eigentlich nur einen Mann auf der Welt, der ihr alles bedeutete, zu dem sie gehörte - der aber leider unerreichbar war. Trotzdem hatte sie gewisse Vorstellungen, weil sie alles und jeden an ihm maß und messen würde.

Aber es lag noch viel Zeit vor ihr, um das Problem Mann weiter auszuwalzen. Sie war gerade mal sechzehn.

Der letzte Satz vor dem Einschlafen, der an ihr Ohr gedrungen war, kam von Cho.

"Morgen haben wir gleich als erstes mit den Slytherins, das kann heiter werden. Das sind ja seine Lieblinge."

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All diese ungeordneten Gedanken purzeln durch ihren Kopf, als sie bei der Krankenschwester ankam. Die ihr eine Begrüßung im wahrscheinlich besten Europastandard entgegendonnerte: "Himmel, Kindchen, müssten Sie nicht im Unterricht sein? Das gibt doch bestimmt Punktabzug."

Aniram verzog das Gesicht, als hätte sie Zahnschmerzen. Das war doch wirklich kaum noch zum Aushalten. Zu Hause stellte es kein Problem dar, da konnte man kommen und gehen wie man wollte, solange man das Ganze diszipliniert tat. Schließlich stand sie nicht hier, weil sie Freude daran fand oder gar unter Langeweile litt. Nicht einmal grüßen konnten die hier.

"Guten Morgen!", entgegnete sie demonstrativ und überlaut.

"Ich wollte eigentlich bloß sagen, dass der Trank gestern nicht so richtig geholfen hat. Nun ja, das ist gelogen. Er hat GAR nicht gewirkt. Ich fühle mich noch ziemlich daneben. Ungefähr dort."

Sie zeigte von sich aus bis zur fünf Meter entfernten Fensterbank. "Hätten Sie vielleicht etwas, das mich umgehend wieder auf die Beine bringt? Ich glaube, sonst stehe ich diesen Tag nicht durch."

Madam Pomfrey war entsetzt zu hören, dass ihr Trank nicht geholfen hatte. Er wirkte bei jedem! Wenn Severus erfahren würde, dass seine Spezialmischung wirkungslos geblieben war…

Als sie ihr ins Gesicht sah, wurde sie eines Besseren belehrt. Dieses Mädchen sah wirklich grauenvoll aus, wenn auch das Blut weg war. Regelrecht geschockt hatte sie diesen… Menschenbrei gestern entgegengenommen und stand hilflos davor. Auch der Schulleiter und seine Stellvertreterin waren ratlos gewesen. Noch geschockter war sie, als sie diese ungeduldigen Fragen nach den Verletzungen hörte. Sie klangen, als hätte sie sich lediglich das Knie aufgeschlagen.

Freundlich lächelnd nahm sie Aniram am Arm, führte sie zu einem Stuhl. "Warten Sie hier, ich bin gleich wieder da." Mit einem Augenzwinkern verschwand sie.

Wenigstens das ließ Aniram ein klein bisschen hoffen. Es dauerte gar nicht lange und die Schwester kam mit einem Glas zurück.

"Trinken Sie, das muntert auf und Sie werden sich nicht nur gleich besser fühlen, sondern auch besser aussehen. Und dann aber ab mit Ihnen, bei wem haben Sie denn heute die erste Stunde?"

Besorgnis schwang in ihrer Stimme mit und eigentlich hoffte sie auf den Namen Flitwick. Aber Aniram raubte ihr diese Illusion mit einem Wort: Zaubertränke.

Madam Pomfrey konnte nicht verhindern, dass ihr ein bedauerndes "Ach du liebes bisschen" herausrutschte. Sie seufzte. Um nichts in der Welt wollte sie jetzt in der Haut dieses Mädchens stecken. Selbst wenn Professor Snape ausnahmsweise gute Laune hatte, so wusste man doch nie, wo dieses "gut" einzustufen war. Wenn ihm danach war, zog er schon beim Frühstück Punkte für falsches Atmen ab.

Die Gelassenheit des "Opfers" gab ihr allerdings zu denken. Scheinbar gab es in der Ecke, aus der sie kam, keine Punkte. Sonst hätte sie vorhin das Gesicht nicht verzogen, als würde sie chinesisch rückwärts hören und konzentriert übersetzen müssen. Nun ja, sie musste ihre eigene Erfahrung mit Severus Snape machen. Mitleidig schaute sie Aniram hinterher.

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Leidlich wiederhergestellt machte sich Aniram auf den Weg. Krampfhaft versuchte sie, der Beschreibung zu folgen, die die Mädchen ihr gestern geliefert hatten. Aber irgendetwas störte sie. Irgendetwas war falsch. Denn sie konnte sich sonst immer auf ihren Orientierungssinn verlassen. Diesmal fühlte sie sich beengt und unwohl - ein Gefühl, das ihr vollkommen fremd war.

Missmut befiel sie. ‚Kann ja heiter werden, wenn ich noch später komme als ohnehin schon. Können die hier keine Hinweisschilder anbringen, wo was ist? Kerker, wenn ich das schon höre.'

Sie schüttelte sich bei dem Wort, als sie den Gang entlang lief. Viele Türen gab es nicht, dafür umso mehr grimmig aussehende Gemälde, die sie vorwurfsvoll und neugierig anstarrten.

"Was ist", blaffte sie, "noch nie einen Menschen gesehen? Oh Gott, ich dreh durch, jetzt red ich auch noch mit Bildern, die mir hinterher starren."

Dann packte sie kurz entschlossen eine Klinke und drückte sie herunter.

Sie blickte in Dunkelheit und quietschte laut. Vermutlich war das fehl am Platz, für sie aber absolut angebracht. Diese Urmenschen hielten scheinbar nicht einmal etwas von Kerzen. Wer fast vierundzwanzig Stunden am Tag Sonne in die Augen bekam, den erschreckte diese Dunkelheit.

Da sie die Sitten und Gebräuche nicht kannte und sich zudem die Worte der Krankenschwester in Erinnerung rief, blieb sie zurückhaltend an der Tür stehen. Erst als nichts geschah, begann sie in höflichem Ton zu sprechen.

"Guten Morgen, bitte entschuldigen Sie meine Verspätung, ich hatte noch etwas zu erledigen."

Normalerweise war das schon zu viel, denn in Australien entschuldigte sich niemand für Gänge, die notwendig waren. Man sagte Bescheid, aber entschuldigte sich nicht. Wie sollte man sonst als halber Mensch dem Unterricht folgen können? So jedoch dachte sie, dass sie auf Nummer Sicher ging. Dieses merkwürdige Punktegeschwafel ließ sie gegen ihren Willen nicht los. Es beunruhigte sie jedoch nicht, sondern sorgte allenfalls für große Neugier. Dann begab sie sich frohen Mutes nach vorn, wo sie Josys roten Lockenkopf entdeckte.

Sie hatte noch nicht einmal die Entfernung von zwei Schritten hinter sich gebracht, als etwas Schwarzes auf sie zukam, sich vor ihr aufbaute und sie gefährlich leise anzischte.

‚Fantastisch, wundervoll, prächtig! Hawkwing, wo bist du gelandet? Ein blöder Hausmeister, schweigende Direktoren, ahnungslose Mitschüler, inkompetente Krankenschwester UND jetzt auch noch ein Lehrer, der zischt. Fehlt nur noch, dass er dazu spuckt. Himmel, kann der nicht normal wie jeder Mensch reden?'

"Verspätung? Erledigen? Ich verlange Pünktlichkeit und Disziplin in meinem Unterricht. Name?"

Professor Snape war wütend, äußerst wütend. Wie konnte diese Göre es wagen, einfach so in seinen Unterricht zu platzen, noch dazu mit Worten, die nicht einmal entfernt nach einer devoten Entschuldigung klangen?! Gerade hatte er die Klasse ruhig bekommen, hatte den Schreck in den Augen der Schüler genossen, als er ankündigte, was dieses Jahr auf sie zukam, wollte soeben seine Anweisungen verlauten lassen und jetzt? Jetzt stand jemand vor ihm, der sich anscheinend einbildete, zu kommen und zu gehen wann es ihm passte.

Dann stutzte er kurz. Diese Schülerin hatte er in den vergangenen vier Schuljahren noch nie gesehen. Oh Merlin, dass wird doch wohl nicht die Neue sein, von der Albus gestern noch gesprochen hat? So kurz wie möglich natürlich, denn warum sollte er sein Kollegium umfassend informieren? Nur eines war in seinem Gedächtnis hängen geblieben: Australien. Verächtlich musterte er sie von oben bis unten und wartete immer noch auf eine Antwort - in der Pose eines schwarzen Racheengels.

Wenn er allerdings geglaubt hatte, sie mit seinem Auftritt eingeschüchtert zu haben, sah er sich maßlos enttäuscht. Denn sie sah ihm in die Augen, IN DIE AUGEN, bevor sie sich herabließ zu antworten.

"Mein Name ist Aniram Hawkwing, ich bin erst vor zwei Tagen aus Australien gekommen. Bei meiner Ankunft gab es ein unerwartetes Ereignis, das mir ziemlich zu schaffen gemacht hat. Deshalb war ich noch einmal bei der Krankenschwester. Sie hatte mir gestern Abend so eine stinkende, grünliche Flüssigkeit mitgegeben, wodurch ich angeblich schmerzfrei schlafen hätte schlafen können. Bäh, in einer kleinen zierlichen Phiole, als ob die Verpackung was ausmacht." Halb vorwurfsvoll, halb ungläubig schüttelte sie den Kopf. "Das Zeug hat überhaupt nicht gewirkt. Außerdem musste ich mir wie aus dem Nichts einen neuen Umhang besorgen, weil meiner von diesem Idioten Filch zerrissen wurde. Jetzt hab ich so ein Second-Hand-Teil in diesem grässlichen Schwarz, das hier üblich zu sein scheint. Scheußlich."

Unwillig zupfte sie an dem neuen Umhang herum und machte damit deutlich, dass schwarz absolut keine angemessene Farbe für einen Magier war. So rannten die Anhänger der dunklen Künste herum, ja, aber normale?

"Nun hoffe ich doch, ich bin wieder auf dem Dampfer. Vielleicht ist der Hersteller der Schmerzmittel in Sachen Aufputschmittel bewanderter. Elender Stümper, so was kann man doch nicht verabreichen."

Ihr Tonfall war mittlerweile patzig. Dann schob sie ihn beiseite und ging nach vorn.

"Wenigstens einen Platz könnten Sie mir anbieten, wissen Sie das? Sie benehmen sich wenig gentlemanlike, das muss ich sagen, wie die Axt im Walde." Damit saß sie.

Professor Snape hingegen starrte immer noch auf die Tür, auf den Fußboden vor ihm - wo niemand mehr stand. Das war einfach unfassbar. Nicht nur, dass sie die Stirn hatte, ihn in Grund und Boden zu reden und Vorträge über Sachen zu halten, die ihn nicht im Mindesten tangierten, nein, nun durfte er erfahren, dass SEIN Trank bei irgendeiner Person nicht anschlug. Stümper?! ER ein Stümper? Dass Filch ein Idiot war, wusste er selbst. Und was bitte gab es gegen die Farbe der Umhänge einzuwenden? Aber erst recht nicht ließ er sich von irgendwem aufzählen, wie er sich benahm. Er war schockiert und drehte sich nur langsam um - das Gesicht so starr wie noch nie. Gerade diese Langsamkeit sorgte in seinem Unterrichtsraum für die entsprechende Spannung. Nichts wäre fataler gewesen, als auch nur halb den Eindruck zu erwecken, er hätte sich nicht im Griff.

Trotzdem nahm die Geräuschkulisse für Kerkerverhältnisse ungewohnte Ausmaße an. Jeder beobachtete Snape: die Slytherins mit Vorfreude, die Ravenclaws mit einem unterdrückten Glucksen, so sehr unterdrückt, dass es schon einem Grunzen glich - wer hatte es jemals gewagt, Snape die Stirn zu bieten? - und doch ein bisschen Angst. Gespannt wartete jeder ab, was weiter geschah. Dieses Vorkommnis ließ sich hundertprozentig in die Kategorie der Einmaligkeiten einordnen.

Wütend und mit zusammengekniffenen Augen fixierte er sie. Er war kurz vor dem Explodieren. Sollte er sich aber dazu hinreißen lassen, seine ganze Energie schon in der ersten Stunde aufzubrauchen, dann würde er heute Abend die Strafarbeit, die es gleich hagelte, nicht entsprechend genießen können. Was waren das nur für Umgangsformen an dieser Schule? War es dort gang und gäbe, sich einfach vorbeizudrängeln und ohne Erlaubnis Platz zu nehmen?

Was ihn wirklich traf und zu schaffen machte, war die Tatsache, dass sie seinem Blick standgehalten hatte. Das brachten nicht einmal alle Kollegen fertig. Keiner schaute Severus Snape ungestraft in die Augen.

Die Klasse, die sicherlich jetzt das Übliche hören wollte, musste er gründlich enttäuschen. Einzig zu seinem Vergnügen. Er hatte andere Pläne. Gerade ausgearbeitet. Frisch aus der Maschine. Ein wahrhaft sardonisches Grinsen glitt über sein Gesicht. Federnden Schrittes begab er sich nach vorn an sein Pult und die Verkündung des Abzugs von hundert Punkten war wirklich nur eine Nebensächlichkeit.

Das unterdrückte Stöhnen bereitete ihm eine größere Wohltat, als wenn er jetzt laut herausgeschrieen hätte. Er wusste zwar, dass die Punkteuhren in der Eingangshalle diese Arbeit erledigten, aber er schlug trotzdem das Buch auf, tauchte die Feder ein und vermerkte diesen Punktabzug. Da er eine Vorliebe für exakte Gliederungen hatte und vor allem sehr klein schrieb, fanden alle vier Häuser auf einer Seite Platz und aus einem unerfindlichen Grund gab es Soll- und Haben-Spalten. Unnötig zu erwähnen, dass die Soll-Spalten überquollen, während die Haben-Spalten eine gähnende Leere aufwiesen.

Als er die 100 geschrieben hatte, wusste er, warum er das tat. Die Abnahme der Saphire in den Punkteuhren irgendwo in der Eingangshalle sorgte noch lange nicht dafür, dass seine schlechte Laune beim Anblick dieser gigantischen Zahl fast augenblicklich nach Schönwetter umschlug. Er fühlte sich wie neu geboren. Zufrieden mit seinem Werk lehnte er sich zurück und betrachtete die Neue mit einem äußerst unangenehmen Blick. Giftig. Stechend. Genervt. Deutlich verkündend - du bist überflüssig und eindeutig zu weit gegangen.

Übergangslos und sich ihrer Aufmerksamkeit sicher zischte er: "Ich stelle sehr hohe Ansprüche. Ich gehe davon aus, dass Ihr Zuspätkommen eine Einmaligkeit war. Denn aus Australien zu kommen rechtfertigt noch lange keine solche Disziplinlosigkeit. Es interessiert mich nicht im Mindesten, womit Sie sich herumzuschlagen hatten, Sie haben pünktlich in meinem Unterricht zu erscheinen. Eventuell hätten Sie sich zeitiger auf den Weg machen sollen. Mich beschleicht das dumpfe Gefühl, dass an dieser Schule der Hagel an merkwürdigen Berühmtheiten", er machte eine sarkastische Pause, "einfach nicht abreißen will."

Aniram saß einfach nur stumm da. Sie hörte Gewisper von beiden Seiten.

"Haben wir dir doch gestern gesagt, mit dem ist nicht gut Kirschen essen. Au weia, hundert Punkte, hast du ne Ahnung, wie wir die wieder rausholen sollen?"

Cho hielt sich nicht viel mit Worten auf, sondern rammte ihr den Ellbogen in die Seite.

Unterdrückt stöhnte sie auf. Verfluchte Schmerzen. Die sofortige Entschuldigung von Cho half auch nicht viel weiter. Sie fragte sich verzweifelt, warum die nur alle auf diesen dämlichen Punkten herumritten. Spielten die hier vielleicht doch eine Rolle? Und das Palaver von diesem Lehrer erst… Okay, Biss hatte er. Könnte glatt "Meckie Messer" singen und keinem fällt es auf, dass dort KEIN Hai singt. Josy erntete einen prüfenden Blick. Was sie nur an dem fand… Unwillig schüttelte sie den Kopf.

"Finden Sie meinen Vorschlag zu abwegig, als dass Sie ihn in Erwägung ziehen würden?"

"Häh?" Verschreckt ruckte Anirams Kopf nach oben.

"Weshalb schütteln Sie den Kopf?"

"Ach so!" Aniram ging ein Licht auf. "Hat nichts mit Ihnen zu tun."

Snape stand auf und ging unendlich langsam um sein Pult herum. Bevor er sein Lieblingsspielchen startete, fuhr er sie an.

"In meinem Unterricht hat alles mit mir zu tun, verstanden?"

Er war fassungslos. Da saß jemand vor ihm, der unendlich frech war. Aber diese Frechheit würde diesem Bündel schnell vergehen. In Australien konnte sie von ihm aus treiben was sie wollte, aber nicht in seinem Kerker.

"Dann wollen wir mal sehen, wie es mit Ihren Kenntnissen auf dem Gebiet der Zaubertränke aussieht."

Arrogant, überlegen und ganz Meister postierte er sich. Wer ihn nicht kannte, dachte sich nichts bei dieser seidigen und leisen Stimmlage. Im Gegenteil, der beschäftigte sich mit dem Gedanken, dass er schon wieder zischte und schob das Ganze auf einen Sprachfehler. Der Rest jedoch sah alarmiert auf.

Das Verhältnis dieser Personen stand eins zu neununddreißig.

Snape wäre nicht Snape, wenn er nicht beabsichtigte, noch ein paar Gifte und Gegengifte einzustreuen und abzuwarten, ob sie etwas damit anzufangen wusste. Spätestens nach der dritten Frage würde sie stolpern. Mit dieser Gewissheit legte er los.

"Wofür wird Cornus Circinata am häufigsten gebraucht?"

"Einsatz erfolgt bei Malaria, aber auch bei Leberentzündungen."

"Wo findet man Hypericum?"

"Johanniskraut wächst größtenteils hier in Europa, aber auch in Westasien und Nordafrika."

"Was gehört alles in den Perforatus-Trank?"

"Drachenmilch, Hundehaare, unbedingt weiß, ein paar Blätter Chelidonium, eine Unze von der Brechnuss und natürlich drei Tropfen vom Gift der Buschmeisterschlange. In genau dieser Reihenfolge."

Frage für Frage prasselte auf sie nieder und Aniram begriff nicht wieso. Waren hier alle so schlecht, dass sie vor Stundenbeginn ausgefragt werden mussten oder stellte das hier eine Art Warm-up für Zaubertränke dar? Es ergab für sie nicht den geringsten Sinn. Bis jetzt war sie in diesem Fach eine äußerst aufmerksame Schülerin gewesen und darum kamen ihre Antworten genauso schnell wie die Fragen. Es ging auch schon weiter.

"Was verwenden Sie für ein Conscius-Elixier?"

Aniram überlegte nun doch ein bisschen. "Ich nehme stark an, die Wirkung entspricht dem Tjukurrpa?"

Professor Snape hatte nicht die geringste Ahnung, was ein Tjukurrpa war, aber mit der Überlegenheit des Lehrers fauchte er nur: "Selbstverständlich."

"Gut, dazu gehören auf alle Fälle Pitjuri, Melaleuca alternifolia, Papaya-Konzentrat und der Binah-Nebel."

Jetzt verstand Snape nicht einmal mehr die Hälfte dessen, was diese Schülerin von sich gab. Also nickte er nur hoheitsvoll vor sich hin, als hätte er genau diese Antwort erwartet.

Schlappen irgendwelcher Art konnte er keinesfalls auf sich sitzen geschweige denn die Schüler spüren lassen, denn in Hogwarts im Allgemeinen und in seinem Kerker im Besonderen hatte er einen Ruf zu verteidigen. ER war unschlagbar und würde es immer sein. Also warf er zwei Worte als Fangfrage in den Raum, wohl wissend, dass dieser Trank nie und nimmer ins Stoffgebiet der vierten Klasse gehörte. Normalerweise.

"Mentitum Mortem?"

"Aber sicher."

Also gehörte das Wort NORMAL definitiv nicht nach Australien. Es war sicherlich nicht nur der Überraschung zuzuschreiben, dass irgendetwas eiskalt seine Wirbelsäule hinauf kroch. Er ließ sich nicht das Geringste anmerken und spöttelte von oben herab: "So? Sicher? Was gehört dazu?"

"Das Basisgemisch besteht jeweils zur Hälfte aus Kamillensud und Milch. Darin aufgekocht werden Convallaria majalis, Delpininium, Lupinus polyphyllus und Aconitum napellus. Dann kommt es natürlich darauf an, wie lange er wirken soll, nicht?"

Dann zählte Aniram an den Fingern die Zusätze samt ihrer Wirkungsweise auf.

"Die Essenz von Maiglöckchen setzt den Takt der Herzfrequenz herab. Es schlägt kaum merklich weiter. Die getrockneten Samen von Rittersporn führen zur Verlangsamung der Atemfrequenz und in höheren Dosierungen bei Tieren sogar zur Lähmung der Gliedmaßen. Die Samen der Vielblättrigen Lupine sorgen für eine an den Beinen beginnende Lähmung der Gliedmaßen, bis der ganze Körper schlaff ist. Sonst glaubt doch keiner, dass derjenige tot ist. Der Blaue Eisenhut würde eigentlich für diesen Trank allein schon genügen, denn er vereinigt alle Wirkungen der vorher genannten Pflanzen in sich. Aber, und das ist das wichtigste", ihr Zeigefinger erhob sich, um deutlich zu machen, dass jetzt etwas sehr, sehr wichtiges kam, "er sorgt für Unterkühlung und Schmerzunempfindlichkeit. Diese Dosierung muss sehr genau vorgenommen werden."

Damit war sie eigentlich fertig, aber sie wäre nicht sie, wenn ihr nicht noch ein Zusatz einfallen würde.

"Wem dieser Trank immer noch nicht ruhig stellend genug ist, der kann noch Lavendel dazugeben. Gegen den ekelhaften Geschmack kann man sich mit Honig helfen. Auf- oder abrunden, je nachdem, was für ein Zuckermäulchen derjenige ist, der ihn schlucken darf."

Er war drauf und dran, wütend mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Er spürte, wie ihm das Ruder entglitt. Beinahe verzweifelt suchte er nach einem Ausweg, wollte er nicht physisch blaue Flecken davontragen. Mit diesem Trank hatte er geglaubt, ihrem Wissen und ihrer - im Vergleich zu Hogwartsschülern - Überlegenheit in Sachen Zaubertränke eine Grenze zu setzen.

Jetzt aber konnte und wollte er sich einer gewissen Faszination nicht entziehen. Auf dem Weg zum Unterricht hatte er sich über die tumben Gestalten geärgert, die er unterrichten sollte und jetzt saß jemand vor ihm, der mit leuchtenden Augen deklamierte und mit Giften jonglierte, als wäre es Spielzeug. Sie saß einfach hier und redete, als würde sie nicht nur an einem Seminar des Internationalen Zaubertrank-Kongresses teilnehmen, sondern es leiten. Die Selbstverständlichkeit, die Leichtigkeit, mit der sie antwortete, zogen ihn in ihren Bann.

Er musste unbedingt mehr darüber herausfinden. Sei es über sie, ihren Professor, über Australien… Vorübergehend trat alles andere in den Hintergrund.

Snape schürzte die Lippen. "Ich gehe davon aus, Ihre Kenntnis sind theoretischer Natur, denn…"

Weiter kam er nicht, er wurde von einem Lachen unterbrochen. "Du meine Güte, Theorie? Was ist denn das?"

Zornesrot im Gesicht starrte er sie an. "Sie wollen mir doch nicht ernsthaft weismachen, dass Sie diesen Trank gebraut haben? Wenn jemand über einen Trank spricht und alles, was dazu gehört, an den Fingern aufzählt, kann es durchaus Theorie sein. Ich bin mir sicher, wenn ich Sie frage, wie oft sie ihn gebraut haben, bekomme ich keine andere Antwort als von jedem anderen Schüler hier. Und sie lautet: Nie!"

Beinahe siegessicher stand er vor ihrer Bank. "Also, wie oft, wie lange wirkte er und wo getestet?"

In seinem Hinterhirn arbeitete sich eine Antwort hervor, die er hören wollte. Nämlich wirklich entweder nie oder an Ratten. Zu seiner Enttäuschung hörte er etwas vollkommen anderes. Etwas, das ihn an ihr und ihrem Kontinent und überhaupt an der ganzen Welt zweifeln ließ.

"Oh, gebraut haben wir den oft. Sehr oft sogar. Das längste, was wir zustande gebracht haben, war eine Woche. Und getestet? An einem Mitschüler selbstverständlich."

"An einem Mitschüler?" fuhr Snape entsetzt auf. "DAS tut man in Australien?" Nur ganz kurz schoss das Fragment durch seinen Kopf, dass er sich wohl um eine Versetzung bemühen sollte.

"Selbstverständlich." Aniram tat dies mit einem Schulterzucken ab und konnte es gar nicht fassen, dass der Zaubertrankmeister deshalb so entsetzt war.

"Okuna würde nie einen Trank verabreichen, wenn er sich nicht sicher wäre, dass er hundertprozentig in Ordnung ist. Da können Sie Gift drauf nehmen."

"Gift. Eine absolut passende und kongruente Ausdrucksweise. Wie ging es denn dem Mitschüler hinterher?"

"Das ist ja das Gemeine, dem ging es besser als uns allen. Der war wie neu geboren."

Er gestattete sich lediglich ein kurzes Hochzucken der Augenbraue. "Erklären Sie sich deutlicher."

Aniram lehnte sich zurück und lachte.

"Er hat doch die ganze Zeit gepennt. Wir standen um ihn herum und haben uns bis zu seinem Aufwachen eine Woche lang nicht getraut, die Augen zuzumachen, weil wir dachten, er wacht aus dem Scheintod nicht mehr auf. Natürlich ist das unmöglich, wenn Okuna dafür bürgt, dann kann man das beruhigt trinken, aber trotzdem, wir mussten auch noch Protokolle anfertigen. Stress."

Jetzt grinste sie ihn offen an. "Sie kriegen Brief und Siegel, den Mentitum Mortem würfel ich im Schlaf zusammen. Schließlich wollte jeder von uns mal dran sein, also haben wir ihn gebraut bis zum Abwinken. Eine Woche Schlaf ist was Herrliches."

Obwohl sich jeder in der Klasse zusammenriss, um ihn nicht noch mehr zu reizen, hörte er an der einen oder anderen Stelle doch ziemlich unterdrücktes Glucksen. Wütend fuhr er herum.

"Ich finde daran nichts Erheiterndes, Herrschaften. Ich weiß nicht einmal, ob Sie sich alle dessen bewusst sind, dass man in Australien einen ganzen Schritt weiter zu sein scheint. Mehrere Schritte sogar - denn der Mentitum Mortem ist Stoff der siebenten Klasse. Nun frage ich mich ernsthaft, an wem ich das Niveau messen soll. An Schülern wie Ihnen oder mir. Aber seien Sie versichert, ICH beherrsche diesen Trank. Demzufolge liegt es offensichtlich an Ihrer nicht vorhandenen Intelligenz."

Ein Stöhnen aus einer einzelnen Kehle aus den Reihen der Ravenclaws ließ ihn herumfahren.

"Willkommen in der Steinzeit, wusst ich's doch."

Noch während Professor Snape seine Ansprache gehalten hatte, wurde Aniram bewusst, dass dieser eigenartige Krankenflügel samt kompetentem Personal keine Ausnahme darstellte.

Er schlich auf sie zu und fragte lauernd: "Steinzeit, Miss Hawkwing? Ich glaube, in Australien gibt es mehr Steine als hier."

"Das mag sein, aber mir wird schlecht, wenn ich daran denke, dass ich mich auf dem Gebiet der Zaubertränke und wenn ich eine vorsichtige Diagnose stelle, wahrscheinlich nicht nur in Ihrem Fach, um zwei Klassenstufen zurück bewegen muss." Es klang traurig, beinahe depressiv.

Seine Augen verengten sich noch mehr. Gab es überhaupt eine Situation, in der sie nicht das letzte Wort hatte? Also fügte er seinem vorhin gefassten Plan eine weitere Facette hinzu.

"Wenn Sie sich hier… in Europa…", er ließ bedächtig jedes Wort einzeln tröpfeln, "dermaßen degeneriert fühlen, erlaube ich Ihnen eine zusätzliche Arbeit unter meiner Aufsicht. Abends."

Ungeachtet der Schmerzen hieb Aniram mit der Faust auf den Tisch. "Tatsache? Geil! Danke."

Er beugte sich über den Tisch und quetschte aus einem Mundwinkel hervor: "Geil? Was soll daran geil sein?"

Die Antwort bekam er aus einer anderen Richtung.

"I… ich glaube, das ist eine etwas andere Art, um Begeisterung auszudrücken, Sir."

Josy heftete bei ihren gehauchten Worten stur ihre Augen auf seinen Umhang und wandte danach umgehend ihr Interesse der Tischplatte zu, feuerrot bis unter die Haarspitzen.

Snapes Mundwinkel zuckte spöttisch. "Sie sind begeistert von dieser Aussicht?"

"Na klar, ich erhoffe eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit. Und wehe, sie endet furchtbar." Scherzhaft drohend erhob sie ihren Zeigefinger.

Das war unfair, absolut unfair. Er fragte sich, in welches Wasser Albus ihn da geschmissen hatte. Noch nie, noch nie, noch nie stand er vor einer Situation wie dieser. Und ihre eigene Definition respektive Erwartung ihrer "Zusammenarbeit"… dann dieser Zeigefinger und der Schalk in ihren Augen.

‚Aber ich schaffe das', dachte er mit glitzernden Augen, ‚ich schaffe alle, also auch sie.'

Teils wütend, teils amüsiert, weil so fremd und unerwartet, registrierte er die Bemühungen ihrer Nachbarin, sie endlich zum Schweigen zu bringen. Sein Blick wanderte vollkommen desinteressiert zur Wand.

"Miss Chang, wenn Sie so weitermachen, hat Miss Hawkwing Plattfüße. Wollen Sie das?"

Seine Augen glitten blitzschnell zur Vertrauensschülerin der Ravenclaws - die urplötzlich genauso wie Josy den Tisch anstarrte.

Aniram runzelte die Augenbrauen, schaute ebenfalls dorthin und fuhr mit dem Finger über die Tischplatte. Dann zuckte sie hilflos mit den Schultern. Sie konnte beim besten Willen nichts Außergewöhnliches daran entdecken.

Weil es ihr zu lahm voran ging und sie die abschließende Meinung getroffen hatte, dass er mit seinem merkwürdigen Frage-Antwort-Spiel wohl fertig war, hob sie den Kopf und sprach erneut, ohne gefragt zu werden.

"Haben wir heute eigentlich Theorie oder Praxis?"



Kapitel 3 - Im Rausch der Geschwindigkeit


Was! Sollte! Diese! Frage!!!!! Theorie oder Praxis!

Gefährlich leise zischte er: "Wie soll ich das verstehen?"

Aniram verstand diese Frage überhaupt nicht. Wie brachte man es nur fertig, einfach nur hierzusitzen und zu reden statt das zu machen, wonach der Unterricht hieß? Nämlich Zaubertränke. Zu Hause wäre das unvorstellbar, zu Hause wurde keine Zeit mit Frage-Antwort-Spielchen vergeudet. Dementsprechend fiel ihre Antwort aus.

"Na ja, wir sitzen nur hier rum und palavern, inzwischen könnte doch die erste Suppe fertig sein, oder?" Sie unterbrach sich nur kurz, indem sie sich am Kopf kratzte.

"Professor Okuna wäre jedenfalls nicht zufrieden. Aber was will man von der Steinzeit mehr erwarten…".

Den Rest dieser kleinen, aber offenen Provokation ließ sie in der Luft hängen. Er würde diesen Satz schon selbst zu Ende führen, wenn er intelligent war.

Die unsichtbare Grenze war überschritten. Er konnte nicht mehr anders, als seinen lange unterdrückten Wutausbruch zu manifestieren. Zornesrot im Gesicht hielt er sich an ihrem Tisch fest. Das anfängliche Grollen steigerte sich unaufhaltsam.

"Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Wenn hier jemand in meinem Kerker das letzte Wort hat, dann bin ich das. Wagen Sie es nie wieder, irgendetwas besser wissen zu wollen als ich. Wenn ich rede, haben Sie bis zu den Kniekehlen im Fußboden zu versinken. Ihre unorthodoxe Ausdrucksweise sollten Sie sich schleunigst abgewöhnen, sie sitzen im Fach Zaubertränke und nicht Zaubersuppen. Noch eine solche unqualifizierte Bemerkung und ich trage mich ernsthaft mit dem Gedanken, Ihnen in meinem Unterricht den Mund zu verbieten. Außerdem", er schnappte nach Luft, "hätten wir längst begonnen, wenn Sie nicht zu spät gekommen wären."

Sein Gesicht zitterte. All seine Kraft, seinen Unglauben, seine Weigerung zu akzeptieren, was da vor ihm saß, legte er in diesen Ausbruch, der gewiss mehr unter sich begraben hatte als Pompeji.

Davon vollkommen unberührt schielte Aniram vorsichtig nach unten, um zu prüfen, ob ein Einsinken möglich wäre. Es erweckte den Eindruck, als ob sie ein laues Lüftchen genießen würde statt sich einem tobenden Orkan gegenüberzusehen. Dann schüttelte sie den Kopf - eine Tätigkeit, die ihn noch mehr aufbrachte.

"Und jeder Satz, den Sie an mich richten, hat mit einem respektvollen SIR zu enden, verstanden?! Sollte das in Ihr sonnenverdampftes Hirn vorgedrungen sein, fände ich es ergötzlich, wenn Sie still wären!!"

Wurden Wutausbrüche dieser Art in der Regel vom höhnischen Gekicher der Slytherins begleitet, blieb es diesmal aus. Das wollte einiges heißen, wenn sie sogar vor dem Hauslehrer, der sie sonst mit Samthandschuhen anfasste und seine gebündelte Wut am Rest von Hogwarts ausließ, kuschten.

Die Ravenclaws hingegen bebten und erwarteten ergeben den nächsten Punktabzug. Keiner wollte Snape noch mehr reizen als es innerhalb weniger Minuten diese einzige Person geschafft hatte.

Mit anderen Worten: es war totenstill.

‚Was für ein Feuer, meine Güte, ich dachte, der Vesuv ist erkaltet.' Das tobende Raubtier schüchterte Aniram keinesfalls ein. Sie legte den Kopf schief.

"Wenn Sie darauf bestehen. Sir!" flötete sie hinterher.

Ihre kleine Konversationsfreudigkeit inklusive ihres Vorschlages, dass er doch etwas umgänglicher sein könnte, wurde eingedämmt. Es lag ihr auf der Zunge, aber etwas ließ sie schweigen.

Äußerlich ähnelte er Okuna etwas, aber nur äußerlich. Sein Wesen, sein Inneres musste sie erst ergründen, bevor sie sich weiter vorwagte. Reizte sie schon der Satzbau, war sie bei dem Befehl, ihn mit Sir anzureden, einem öffentlichen Grinsen sehr nahe. Krampfhaft versuchte sie, sich einen einzigen ihrer Lehrer einschließlich des Direktors mit diesem eigenartigen Satzbau vorzustellen. Es gelang ihr beim besten Willen nicht.

Snape war innerlich inzwischen an der 270-Grad-Grenze angelangt und es fehlte nicht mehr viel, bis er vollends in die Luft ging. Das war sicherlich der Grund dafür, dass er nicht mehr so eiskalt, gelassen und überlegen reagierte.

Etwas in seinem Kopf hatte *klick* gemacht. Die Sicherung war draußen und in diesem Moment dachte er nicht im Traum daran, sie wieder in die vorgesehene Fassung zu drehen. Zum Teufel mit den Fassungen! Es ging nicht an, dass in seinem Kerker jemand die Dominanz an sich riss.

Dementsprechend ungeduldig und barsch prasselten seine nächsten Worte auf die Klasse nieder. Es war vollkommen sekundär, was und wie viel sie beherrschte.

"Ich dulde nicht, von einer Bande unwissender Trottel umgeben zu sein. Jetzt, heute und hier beweisen Sie mir auf der Stelle, dass Sie genauso viel können wie auf einem anderen Kontinent. Der Mentitum Mortem wird gebraut. Ich gehe davon aus, Sie haben sich Notizen gemacht", bellte er.

Dann schoss er nach vorn und als er in die vielen ungläubigen Gesichter schaute, brüllte er: "Anfangen!"

Ein kleines Stimmchen piepste. "Notizen? Wie soll denn das aussehen, Professor Snape? Die redet ja wie… wie… was weiß ich, viel zu schnell. Da kann man nicht mitschreiben."

"Miss Parkinson", begann er mühsam beherrscht, "es gibt magische Federn zu kaufen, wie Sie eine besitzen. Allerdings nutzt diese Geldausgabe wenig, wenn man nicht damit umgehen kann. Das sollten Sie sich unbedingt zeigen lassen. Denn", er hatte sich wieder unter Kontrolle und ließ sein gefährliches Zischen hören, "irgendetwas von dem, was ich sage, KÖNNTE wichtig sein. Meinen Sie nicht auch?"

Pansy Parkinson nickte mehr als heftig, auch wenn sie nur die Hälfte verstand. Wenn er was sagte, okay, aber sie würde doch nicht mitschreiben, wenn eine Schülerin, noch dazu keine Slytherin, den Mund auftat.

"Falls Sie die Zutaten vergessen haben sollten, was ich durchaus vermute", wiederum ein heftiges Nicken, "gibt es schließlich noch Ihr Zaubertrankbuch. Vorausgesetzt, Sie haben sich den Namen dieses Trankes gemerkt."

Es tourte weiter in ihm. Allesamt mit Dummheit und Blindheit geschlagen. Warum nur wurde dieser eigenartige Neuzugang nicht seinem Haus zugeteilt? Verflixt, da hätte er endlich ein helles Köpfchen, das würde eine Menge Punkte für sein Haus bringen, die er höchstpersönlich in der Haben-Spalte seines Büchleins vermerken könnte und nicht zuletzt wäre er endlich einmal in der Lage, es den hochnäsigen Gryffindors zu zeigen. Denn Minerva trug ihre Nase inzwischen genauso hoch wie ihre Schüler es taten. Es war unerträglich.

Aniram hörte nur das Wort Buch und schluckte. Nicht gerade leise wandte sie sich an Josy.

"Sag mir jetzt ja nicht, ihr arbeitet mit Büchern." Diese Worte wurden von einem stummen Flehen aus ihren Augen begleitet.

Josy, die genau wie alle anderen fassungslos war, dass es jemand wagte, so mit Snape zu sprechen, schaute ihre neue Klassenkameradin perplex an. Wie konnte man nur eine solche Frage stellen?

"Klar braucht man Bücher. Hast du etwa keine?" Mehr als ein Wispern ließ sie nicht hören.

Aniram nahm es mit der Lautstärke nicht so genau. "Nö, wozu denn. Was ich weiß und wissen muss, hab ich im Kopf. Aber na ja, euer Griesgram kann mir bestimmt weiterhelfen."

Sie zwinkerte verschmitzt und rief durch den Raum Snapes Namen.

Josy wollte sie noch warnen und betete inständig, dass die Ravenclaws nicht noch mehr Punkte verloren. Denn das würde unweigerlich passieren, wenn Snape erfuhr, dass jemand unvorbereitet in seinen Unterricht kam. Und Bücher gehörten definitiv zur Vorbereitung.

Langsam, fast in Zeitlupentempo, drehte er sich um. Seine Frage wurde von einer leicht nach oben gezogenen Augenbraue begleitet.

"Miss Hawkwing, haben etwa sogar Sie Ihre gerade aufgezählten Zutaten vergessen?"

"Nein, natürlich nicht." Sie wedelte durch die Luft. "Aber ich habe kein Zaubertrankbuch. Könnten Sie mir vielleicht so ein Teil aufreißen, Sir?"

Seine grimmige Mine machte ihr klar, dass sie nicht vor Okuna stand. Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Aber es war nun mal heraus. Jetzt half vielleicht nur noch ein schüchterner Dackelblick von unten. Dabei hatte sie doch diesmal an den Sir gedacht. Das war eine komplizierte Angelegenheit. Sie modellierte den Filmtitel "Leichen pflastern seinen Weg" kurzerhand in "Sirs pflastern ihren Weg" um.

"Kein Buch? Arbeitet man in Australien nicht mit Lehrbüchern? Hoffentlich können Sie lesen."

Er knallte ihr ein Exemplar auf den Tisch. "Wie ich Ihnen bereits vorhin nahe legte, arbeiten Sie an Ihrem Sprachschatz. Ich kann Ihnen lediglich ein Buch aus-LEIHEN."

Mit einem süffisanten Grinsen vermerkte er noch einen Punkt auf seiner abendlichen Liste.

"Aber nicht doch, vorhin sagte Sie, ich sollte mir meine unorthodoxe Ausdrucksweise abgewöhnen. Das ist etwas ganz anderes als am Sprachschatz arbeiten. Glauben Sie mir. Und äh ja, danke."

Voller Irritation fiel ihr Blick auf diesen unheimlich fetten Wälzer. "Äh, Sir."

Er holte Luft und wollte sie maßregeln. So! Sprach! Einfach! Kein! Schüler! Dann jedoch sah er fassungslos zu, wie sie mit spitzen den Deckel anfasste und sich bis zum Inhaltsverzeichnis vor grub. Neugierig, was weiter folgte, musterte er sie wie ein seltenes Tier. Es ermunterte ihn nicht gerade, dass sie entrüstet die Backen aufplusterte und die Luft geräuschvoll entweichen ließ. Vollkommen ungeachtet der Tatsache, dass er vor ihr stand.

Aniram hatte genug gesehen. Das war alles ein Klacks und wurde im Vorbeigehen erledigt. Jeden Trank beherrschte sie. Wenn die das aber hier so wollten - und dieser Lehrer ganz besonders - dann würde sie eben so tun, als ob sie ein Buch zur Hand nähme. Sie sah sich um.

"Wo ist denn das Basisgemisch?"

Alle anderen Zutaten hatte er mit einem kurzen Wink seines Zauberstabes fein säuberlich auf einem seitlich angeordneten Arbeitstisch platziert. Aber die Flüssigkeiten?

Snape beschäftigte sich immer noch mit dieser interessanten Unterbrechung seines Unterrichts. Die ihm gar nicht mal schlecht gefiel, wenn sie etwas anders verlaufen wäre. Etwas mehr nach seinem Coleur. Er war sich darüber im Klaren, dass er keinesfalls so reagiert hatte, wie es sonst seine Art war. Aber welcher Schüler wagte es schon, ihm einen offenen Affront hinzulegen?

Er hatte erwartet, dass sie auf die Knie sank, um Gnade winselte, weil hundert Punkte unheimlich viel waren und überdies noch rückwärts auf den Knien rutschend die Kerkerfliesen vor ihm ableckte, damit er gefahrlos darauf treten konnte und sich die Schuhe nicht schmutzig machte. Was tat dieses Energiebündel stattdessen? Grinste ihn an, sprach, wenn sie nicht aufgefordert war, bediente sich unbeschreiblicher Worte und hatte genau damit dafür gesorgt, dass er für sich selbst auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit plädierte.

Jetzt scheuchte sie schon wieder seine Gedanken auf - mit einer Frage wie aus dem Nichts. Jeder andere Schüler hätte sich erst einmal dezent geräuspert, wenn überhaupt; Räuspern war in seinen Augen unangebracht, ungenehm und hoffnungslos überflüssig - im Optimalfall hätte der Schüler die ganze Stunde seinen Arm in der Luft hängen lassen.

Wütend schaute er sie an.

"Ach, Sie sind ja noch da. Oh, Sir."

Ein Wink seines Zauberstabs genügte, dass das Arbeitsmaterial vorhanden war. Sprechen, Zusammenstauchen oder sie nach allen Regeln der Kunst des Origami zusammenfalten konnte er nicht. Noch nicht. Dazu musste er erst noch ein bisschen Anlauf nehmen.

Aniram war heilfroh, dass es endlich etwas zu tun gab. Mit blitzenden Augen und einem fast schon geschrieenen Danke sprang sie auf, wirbelte um den Tisch herum und bewaffnete sich mit allem, was sie brauchte. Kessel, Schneidbrett, Messer, Mörser, Stößel, Spatel und Waage.

Snape hatte sich inzwischen zu seinem Pult begeben. Im Augenblick war es wohl besser zu sitzen, sonst rannte sie ihn noch um.

Nachdem sich Aniram mit den Arbeitsmitteln versorgt hatte, rannte sie umgehend zum Regal, zerrte ein geeignetes Gefäß heraus, maß zu gleichen Teilen Milch und Kamillensud ab, verrührte alles mit einem Glasstäbchen und ging zurück zum Tisch. Was dann folgte, war für niemanden mehr nachvollziehbar.

Aniram legte ihren Umhang ab, ließ ihn auf ihren Stuhl gleiten, warf mit einem verächtlichen Schnauben das Buch hinterher und begann, nachdem sie das Basisgemisch in den Kessel gegeben und Feuer darunter angezündet hatte, mit der Kleinarbeit.

Schon längst hatte sie vergessen, wo sie war. Sie arbeitete so schnell, dass man glaubte, einer optischen Täuschung zu unterliegen. Sie entwickelte beim Zerhäckseln, Zerschneiden und Zermahlen eine so hohe Geschwindigkeit, dass niemand mehr ihren Händen folgen konnte. Die perplex aufgerissenen Münder um sich herum bemerkte sie ebenfalls nicht.

‚Faszinierend, ich glaube, ich könnte ihr die Augen verbinden und sie trifft trotzdem noch alles. Dieses Im-Schlaf-Zusammenwürfeln sollte ich ihr wohl abkaufen.'

Was sich seiner bemächtigte, war jedoch nur Neid. Neid auf diesen australischen Professor, bei dem die Schüler Schlange standen, um einmal dran zu sein. Neben dem Neid arbeitete sich ein gewisses Maß an Zorn empor, weil niemand so arbeitete wie sie. Niemand in gleichem Maß für sein Fach zu begeistern war. Snape fragte sich, ob sie eine Ausnahme in Australien war. Dann fiel sein Blick auf den Rest der Schüler.

Er schnauzte: "Vom Zusehen wird Ihr eigener Trank nicht fertig."

Als hätte man sie aus ihrem schockgefrosteten Zustand aufgetaut, kam Bewegung in die Schüler. Sie begannen, sich ihre Zutaten unter Zuhilfenahme des Buches zusammenzusuchen. Ohne Buch ging gar nichts, das musste immer mit. Nicht nur für den Fall, dass etwas vergessen wurde zu holen, sondern weil ihnen dieser Trank nicht nur unbekannt, sondern auch unheimlich war.

Er war ihnen genauso unheimlich wie das, was sich in der ersten Bankreihe auf Ravenclaw-Territorium abspielte. Mit Zutaten und Arbeitsmitteln schlichen sowohl Slytherins als auch Ravenclaws an dieser Bank vorbei, um mit eigenen Augen Zeuge dieses Wahnsinns zu werden.

Mit teilweise dezentem, teilweise überdeutlichem Kopfschütteln schlichen sie wieder zurück. Sie legten großen Wert darauf, das Ganze ohne Kopf und ohne Hals zu tun, nur um der Aufmerksamkeit Snapes zu entgehen.

Diese Sorge war jedoch unbegründet, denn der war mit seinen Gedanken weit weg, wenn er auch jedem Schüler im Kerker vermittelte, ihn genau in diesem Augenblick im Visier zu haben.

Während die flinksten die Nase abwechselnd ins Buch und in den Kessel steckten, reckte sich Aniram. Ihre schwitzenden Hände wischte sie am Rock ab. Mit einem letzten Blick in den Kessel vergewisserte sie sich, dass sie durchaus zufrieden sein konnte. Mit geschlossenen Augen fächelte sie sich das Aroma zu. Immer wieder, denn ihre Nase hatte in diesem Moment das Sagen.

Er warf einen zufälligen - wirklich zufälligen? - Blick in ihre Richtung. Wäre sein Haar nicht so lang und schwer, würde es wohl augenblicklich in die Höhe schnellen und für eine Weile dort verharren. Es lähmte ihn regelrecht, was er sah. Noch nie, bis auf eine einzige Ausnahme, nämlich sich selbst, hatte er jemanden erlebt, der einen Trank roch. Aber diese Hawkwing hielt definitiv die Augen geschlossen und sog den Dampf ein. Das nächste, was er hörte, traf ihn nicht minder.

"Und welcher als nächstes?"

"Ähm, Sir", legte sie noch nach. Schon wieder hatte sie diese hochherrschaftliche Anrede vergessen.

Lauernd, wie ein Raubtier, das sich seiner Beute näherte, ging er auf ihren Tisch zu.

"Als nächstes?"

Ihn beschlich ein dumpfes Gefühl der Vorahnung und wollte die Antwort, die jetzt kam, lieber nicht hören. Definitiv nicht, weil sie einfach im Bereich des Unmachbaren lag.

"Na, ich bin fertig. Bin ich im Altersheim oder wie? Wollen Sie kosten? Äh, Sir, Sir." Sie riss den Deckel vom Kessel und verkündete strahlend: "Drei Tage und fünf Stunden, SIR!"

"Fertig, Miss Hawkwing?"

Fassungslos schaute er in den Kessel. Diese Fassungslosigkeit versuchte er mit einem lediglich neugierigen Blick zu kaschieren. Unvorstellbar. Nein, es war wirklich nicht möglich, diesen Trank in nicht einmal einer halben Stunde fertigzustellen. Es gab weitaus einfachere, an denen er mit diesen Stümpern manchmal drei Tage herumwerkelte. Wie machte sie das?

"Nu ja, glauben Sie es endlich", zappelte sie herum, "Sir. Also, Sir, das bringt mich echt ins Schwitzen, Sir."

Damit knallte sie den Deckel wieder auf den Kessel und schloss die Augen.

Er quetschte aus dem Mundwinkel hervor: "Sie können Ihren Nachbarn zur Hand gehen, das machen Sie als nächstes. Und nach der Stunde melden Sie sich bei mir."

Freudestrahlend riss sie die Augen auf. Aniram konnte das Ende der Stunde kaum abwarten. Vielleicht bekam sie Sonderarbeiten? Ansonsten war es ja langweilig. Wo war sie nur hingeraten? Seufzend schaute sie auf ihre Nachbarn, denen sie helfen sollte.

Weniger wegen der Tatsache, dass Josy und Cho Blut zu Wasser schwitzten, sondern weil sie sich jetzt in dieser komischen Sprache versuchen wollte, unterdrückte sie ein kleines Kichern. Mit einer übertriebenen Verbeugung verneigte sie sich vor Josy.

"Darf ich Euer Unvergleichlichkeit zur Hand gehen?"

Die Angesprochene wimmerte und suchte irgendein klitzekleines Mauseloch, in das sie jeden Augenblick schlüpfen konnte. Egal, wie groß es war, es bot ein ideales Versteck.

War Aniram denn nie ruhig? Wenn Snape sie so angebrüllt hätte, sie wäre wahrlich bis zu den Kniekehlen versunken. Darüber hinaus noch freiwillig bis zu den Hüften. Egal wie weit, egal wie tief, aber sie wäre gesunken. Schon allein deshalb, damit man seinem Zorn nicht mehr ausgeliefert war. Jetzt alberte sie auch noch herum. Eigentlich wäre es etwas zum Lachen, aber schon allein der Gedanke, in Snapes Gegenwart laut aufzulachen, ließ sie nicht einmal daran denken.

"Wenn du nicht gleich ruhig bist, tret ich dir in den…", Cho ließ den Ort, an den sie zu treten wünschte, unerwähnt.

Aniram sah die Gesichter um sich herum und fühlte sich wie im Leichenschauhaus. Sie erfüllte Chos Wunsch - oder auch Befehl - und war still. Danach erklärte sie mit unglaublicher Sachkenntnis und Konzentration ihren Nachbarn, was wann zu tun war. Schließlich kam es auch auf die Reihenfolge der Zutaten an.

Snape ließ seinen Blick durch die Klasse schweifen. Ihm wurde das eigenartige Gefühl vermittelt, nur eine Person würde arbeiten. Es ließ ihn nicht los, als er sich vergegenwärtigte, wie sie ihm immer wieder unaufhörlich über den Mund fuhr. Oh nein, dafür, dass sie ihn von einer Fassungslosigkeit in die nächste ritt, musste sie bezahlen. Fertig.

‚Als nächstes.' Was kam noch alles? Hatte sie einen Trank schon fertig, bevor er gesagt hatte, welcher gebraut werden sollte? Grimmig fuhr sein Blick über die gebeugten Häupter, irgendein Grund zum Punktabzug musste sich doch finden lassen. Dass es nicht sein Haus betreffen würde, verstand sich von selbst. Also richtete er seine volle Konzentration auf die Ravenclaws. Zu seinem Leidwesen arbeiteten sie immer schneller und wilder.

Diese Hawkwing war mal hier, mal dort, erklärte, braute mit. Nicht nur, dass ihre Präsenz an so vielen Tischen unnatürlich und unwirklich erschien, darüber hinaus wirkte sie auf ihre Mitschüler wie eine Droge. Schneller, höher, weiter. Und noch schneller. Ihr Elan schien die anderen anzustecken und nicht selten sah er ein Ravenclaw-Gesicht schadenfroh zu seinen Slytherins wandern. Es schien, als würde sie an allen Orten zugleich sein.

Dort, wo sie auftauchte, nahm der Trank seinen Fortgang und die Stunde ebenfalls. Leise erklärte sie, wie er auszusehen und zu riechen hatte. Bekümmert seufzte sie, als ihr Unverständnis entgegenschlug.

"Ihr lernt das schon noch."

Verspürte sie anfangs noch ein Hochgefühl, so brauen zu können wie zu Hause, wurde sie im Laufe der Zeit von beinahe grenzenloser Resignation heimgesucht. Zu einem ausführlicheren Satz konnte sie sich nicht aufraffen. Ihre Mitschüler hatten sich mehrfach vergewissert, ob das, was da vor ihnen blubberte, wirklich Scheintod bewirkte. Nach der zehnten Frage ging sie in die Luft.

"Nein, ihr seid dann in der Lage, Sprünge von fünf Metern aus dem Stand hinzulegen."

"Wirklich?"

Ihr war nach Weinen zumute. WAS brauten sie hier eigentlich? Hatte sich jemand die Mühe gemacht, nicht nur Rezeptur, sondern auch Wirkungsweise durchzulesen? Hatte jemand zugehört? Wohl kaum, denn sonst würde sie nicht vor solch geistreichen Fragen stehen.

Glücklicherweise hatte sie genügend Haare, die sie sich raufen konnte. Fassungslos ob einer solchen Dämlichkeit wollte sie zu einer geharnischten Antwort ansetzen, als für Lehrer und Schüler der Gong die Erlösung verkündete.

Pause. Endlich raus hier.

xxxXXXxxx

Fluchtartig leerte sich der Kerker und Aniram blieb verdutzt mitten im Gang stehen. Niemand, wirklich niemand, hatte dafür gesorgt, seinen Arbeitsplatz aufzuräumen. Im Gegenteil, unter vielen Kesseln brannten sogar noch die Feuer.

Eine kurze Sprachlosigkeit bemächtigte sich ihrer, was wirklich sehr selten vorkam, und die Tatsache, dass sie sich nach der Stunde bei ihm melden sollte, hatte sie kurzfristig ins Reich der Nebensächlichkeiten verbannt. Als sie sich wieder gefangen hatte, polterte sie los.

"Elende Sauerei."

Snape fuhr entsetzt auf. Wenn jemand in seinem Kerker fluchte dermaßen ungeniert fluchte, dann war er das. Noch nie hatte sich das eine andere Person erlaubt geschweige denn erdreistet - nicht einmal ein Erwachsener. Er hatte viel zu viel durchgehen lassen und die Liste seiner abendlichen Punkte erweiterte sich. Sie würde lange Zeit damit verbringen, diese Liste abzuarbeiten.

Schon jetzt bereitete es ihm diebische Freude, Punkt für Punkt abhaken zu können.

Ein Wink des Zauberstabs brachte die Feuer zum Erlöschen. War das jemals vorgekommen, dass die Schüler davon stürzten, ohne alles ordentlich zu hinterlassen? Entsetzen kroch in seine Eingeweide. Eigentlich hätte er das nie und nimmer dulden dürfen. Und wer war schuld an diesem Dilemma, dass ihn diese Rasselbande anscheinend nicht mehr für voll nahm? Diese Person, die ihm jetzt ein freundliches Dankeschön entgegen schmetterte.

Mit in die Seiten gestemmten Händen blieb sie stehen. Ihr fiel doch noch etwas Entscheidendes ein.

"Äh, Sir. Das macht mich wirklich wahnsinnig, wissen Sie das? Seit wann seid ihr denn Sirs? Von der Queen zum Ritter zerschlagen oder wie? Oh nein, ich glaube, ich fertige mir Kärtchen mit diesem Wort an und damit ich es ja nicht vergesse, halte ich so ein Kärtchen während meiner gesamten Rede hoch. Ein fantastischer Einfall, Miss Hawkwing."

Australisches Eigenlob stank nie und deshalb hatte sie auch keine Probleme, sich selbst zu loben. Jemand anders tat es ja nicht.

"Herkommen!", befahl Snape.

"Warum?" Etwas Geistreicheres fiel ihr beim besten Willen nicht ein.

"WARUM?!? SIR?!?"

Ihm war danach, sie in der Luft zu zerpflücken.

Aniram beschlich das Gefühl, wenn sie ihm jetzt diese beiden Worte genauso entgegenbrüllte, würde sie das nicht überleben.

Gelassen, äußerlich sehr gelassen, ließ sich Snape hinter seinem Pult nieder. Ihn beschäftigte immer noch ihr "fertig".

"Ich gehe davon aus, dass in Australien eine Zaubertrankstunde den ganzen Tag dauert."

Etwas Gönnerhaftes und Nachsichtiges schwang in seiner Stimme mit.

"Wie viele Tränke brauen Sie in einer solchen Stunde?"

Ihr Blick war schlichtweg entsetzt. Dann fuchtelte sie aufgeregt mit den Händen.

"Nicht doch, genauso wie hier. Eben eine Stunde. Schaffen?" Aniram zuckte die Schultern. "Och, kommt drauf an. Im Durchschnitt zehn. Das ist abhängig davon, wie Okuna drauf ist, dann werden es eben nur sechs oder sieben. Wenn er anfängt, einen Schwank aus seiner Jugend zu erzählen, ist der Gute nicht zu bremsen." Sie kicherte.

Zehn? Hatte sie eben zehn gesagt? Seine Finger krallten sich um seine Armlehne.

"So, zehn. Schön", ließ er sarkastisch fallen, "sind Sie zu Hause genauso frech?"

Aniram überließ es ihren Augen, die entsprechende Frage zu stellen.

Ein bleiches Gesicht hing auf einmal vor ihr und zischte sie an. "Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass ein solcher Tonfall von Ihren Lehrern geduldet wird."

Antwort bekam er keine, dafür ein Lachen ins Gesicht. "Uiuiui. Wissen Sie, unsere Lehrer waren auch mal Schüler."

Er bebte vor Wut und ihm fiel nur noch eins ein, nämlich, weshalb er sie überhaupt hierher bestellt hatte.

"Diese Bloßstellung vor der gesamten Klasse werden Sie mir büßen."

Ihre Reaktion fiel keinesfalls aus wie erhofft. Im Gegenteil, sie strahlte ihn erfreut an.

"Oh klasse, ich könnte Ihnen glatt den Orden der Barmherzigen Samariter an die Brust klatschen. Gehe ich Recht in der Annahme, dass ich schon mal damit beginnen kann, mir eine andere Kutte zu besorgen? Büßer laufen in grau rum, richtig? Ähm, ja, dann muss ich wenigstens nicht mehr diesen ekelhaften schwarzen Fetzen tragen."

Sie spitzte ihre Lippen und sah ihm in die Augen, die Unheil verkündeten. Oh nein, schon wieder… Wie viele Sätze waren das jetzt gewesen?

Sie rasselte einfach am Stück mehrere Sirs herunter und gestattete sich die Bemerkung, dass es wohl drei Sätze gewesen waren.

Unendlich leise fauchte er: "Sie büßen in Schwarz, Abend für Abend."

"Och, Sie sind aber auch mit nischt aufzuheitern", maulte sie.

"RAUS!" Sein zitternder Finger wies auf die Kerkertür. "Heute Abend um sieben."

Das war deutlich.

"Aye, aye, Sir!"

Damit drehte sie sich um und verschwand. Die Art und Weise ihres Verschwindens ließ ihn jedoch ernsthaft daran zweifeln, ob sie eben richtig zugehört hatte. Denn sie hüpfte fröhlich den Gang entlang statt wie eine Amöbe zu schleichen. Schon das allein empfand er als pure Provokation. Immer und immer wieder gab sie ihm Widerpart. Seine Kiefer mahlten. Sie mahlten so stark, dass er das Gefühl hatte, seine Zähne zu zerkleinern.

Nachdem dieses unbeschreibliche Wesen endlich, endlich durch die Tür war, versiegelte er sie. Anschließend rannte er in ein kleines privates Nebengelass, schlug die Tür hinter sich zu und brüllte das Fenster an. Als er damit fertig war, zog er zischend die Luft durch die Zähne ein und war wieder Snape. Diesen Snape konnte er heute Abend gebrauchen.

xxxXXXxxx

Zum Leidwesen aller nachfolgenden Klassen war der mahagonifarbene Wirbelwind gleich zu Beginn hereingeschneit. Dass sich andere Klassen nicht im Geringsten von der ersten unterschieden, was Enthusiasmus und Mitarbeit anging, war weder seiner Laune noch seiner Gesundheit zuträglich. Im Gegenteil, dieser Fakt ließ Snapes Stimmung unaufhaltsam dem Nullpunkt entgegensacken.

Den geplanten Besuch der Bibliothek musste er wohl auf die Nachtstunden verschieben. Notgedrungen dann, wenn er mit ihr fertig war. Gegen künftige Überraschungen wollte er gewappnet sein.

Die Bibliothek war groß, also musste sie auch ein Buch über Australier und ihre Eigenarten enthalten. Mindestens eins. Gegen seinen Willen kehrten seine Gedanken immer wieder in die erste Stunde zurück und er wurde immer unzufriedener und mürrischer. In der vierten Stunde war sein Nervenkostüm bereits dermaßen zerrüttet, dass er sogar Slytherin zehn Punkte abzog.

Was er auch anpackte oder befahl, alles vereinigte sich irgendwann in zwei bernsteinfarbenen Augen. Augen, die begeistert aufblitzten, die ihn frech anlachten. Die ihm deutlich machten, dass sie es nicht erwarten konnte, endlich, endlich einen Trank herzustellen. Augen, in denen er deutlich erkennen konnte, dass sie mit Tränken und sämtlichem Zubehör etwas anzufangen wusste, dass es unnötig war, ihr die einheimischen Namen von Kräutern oder Giften mühsam beizubringen, weil sie aus dem Stand das Lateinische übersetzte.

Ihm war danach, Gringotts zu überfallen, auszurauben und dieses alte Leder von Hut zu bestechen, nur damit er seine Entscheidung rückgängig machte und sie nach Slytherin sortierte.

Die Anzahl der abgezogenen Punkte stieg direkt proportional zur fortschreitenden Tageszeit.



Kapitel 4 - Edelsteine


Mit einem Fauchen, in dem noch längst nicht die allerletzte Kraft lag, entließ Snape die letzte Klasse. Wenn er jetzt auch noch Abendbrot ausfallen ließ, würde er besonders unleidlich sein. Ein gewisses Gefühl der Zufriedenheit überkam ihn. Kurz schaute er an die Decke. Schräg über sich wusste er die Große Halle. Albus würde ihn vielleicht vermissen, aber der Rest? Nein, wohl eher nicht.

Also verzichtete er auf diesen unnötigen Weg. Seine Entscheidung fiel zugunsten der vor ihm liegenden Arbeiten. Er nahm am Schreibtisch Platz.

Nach seinem Verständnis waren es weder Niedertracht noch Überfall, gleich am ersten Schultag Arbeiten zu schreiben. Es war normal. Außerdem war es wunderschön zu beobachten, wie sie erschraken. Keiner konnte sagen, nein Professor Snape, ich will nicht. Obwohl er es sich bei einer Person vorstellen konnte.

Diese Person wiederum war so neu, so ungewöhnlich und entsprach in ihrem Verhalten keineswegs europäischem Standard. Ihre psychische Schmerzgrenze musste erst ausgelotet werden. Wagte sie es, ihn während des Unterrichts in den physischen Ruin zu treiben, dann durfte er sich wohl einen entsprechenden Konter leisten - ebenfalls im Unterricht, sobald er herausgefunden hatte, wodurch sie zu bändigen war.

Äußerst befriedigt von diesem Gedanken zupfte er kurz die Ärmel seines Umhangs hoch und griff nach der Feder.

Vertieft in seine Korrekturen hätte er beinahe vergessen, einen Blick an die magische Uhr zu werfen. Es klopfte. Seine Lippen kräuselten sich maliziös.

"Herein!"

Sein Blick war nur kurz, genügte aber vollkommen, um sich dieses Bild einzuprägen. Er würde es benötigen für die Analyse zwischen Vorher und Nachher. Diese Nervensäge namens Hawkwing schlenkerte fröhlich mit den Armen den Gang entlang.

"Melde mich gehorsam zur Stelle, Sir!"

"Auf die Knie", befahl er.

"Ich soll… was?"

Diese Worte hatten wohl ihr Ohr erreicht, veranlassten aber ihr Gehirn noch lange nicht, den entsprechenden Befehl zum Körper zu senden. Nein, da lieber redete sie sich ein, dass ihr Hörvermögen vorübergehend außer Betrieb sei.

Nach diesem Dilemma in der ersten Stunde hatten es ihre Klassenkameraden endlich für nötig erachtet, ihr die Königsdisziplin in der Denksportart ‚zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden' abgenommen und sie darüber aufgeklärt, was und wie Snape war. Die einhellige Meinung wurde vertreten, dass sie irgendwann Ravenclaw in den Ruin trieb.

Snape jedenfalls sollte kreuzgefährlich sein, gemein, hinterhältig, fies, unfair und noch vieles mehr. Obendrein wurde genuschelt, er sei ein Todesser. Die letzte Behauptung war etwas, die sich mit einer simplen Frage aus der Welt schaffen ließ. Alle anderen ihm zugesprochenen Adjektive musste sie wohl selbst und ohne Fragen herausfinden.

Aber jetzt und hier auf die Knie? Niemals. Sie blieb stehen.

"Nun, Miss Hawkwing, wenn Sie an jemanden denken, der Buße tut, wie tut er das?"

Ein gefährliches Glitzern trat in seine Augen.

Scheel blickte sie ihn an. Sollte sie lieber doch auf die anderen hören?

"Er steht rum und büßt", murrte sie.

Snape steckte die Feder ins Tintenfass, erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und glitt wie ein Schatten auf sie zu.

"In Europa", er unterbrach den Satz mit einer zynischen Kunstpause, "büßt man auf Knien. Also runter." Jetzt war nur noch ein Zischen übrig.

Vorsichtig lugte sie von unten hervor. Oh, diese Augen, die sahen aus, als wollten sie zum Zauberstab greifen und den letzten der drei Unverzeihlichen Flüche aussprechen. Sicherheitshalber ging sie auf die Knie und studierte das Leder seiner Schuhe. Als sich selbige von ihrem Stand… nein, Knieort entfernten, redete sie sich ein, es wäre nur von kurzer Dauer.

Zufrieden mit seinem Werk wandte sich Snape wieder dem Schreibtisch zu. Die Feder kratzte erneut über das Pergament.

Nach einer Weile europäischen Büßens registrierte Aniram einen zunehmenden Schmerz an ihren Knien, also setzte sie sich auf ihre Fersen. Froh darüber, einen Ausweg gefunden zu haben.

"Auf die Knie", kam es vom Schreibtisch gefaucht.

"Mehr als jetzt kann ich nicht auf die Knie gehen, ich bin ja schon unten." Ihre Stimme klang trotzig. Sie klang wie die eines kleinen Kindes, das zum Spielen allein gelassen wurde.

"Ich sagte Knie, von Hinsetzen war nicht die Rede."

Oh Mann, der Typ war wirklich verrückt. Irgendwo. Wem so viele Adjektive zugeschrieben wurden, der durfte auch noch Verrücktheit für sich beanspruchen. Mühsam kämpfte sie sich wieder hoch. Dann fiel ihr ein anderer Ausweg ein. Aber bevor er wieder anfing zu meckern, wollte sie sich lieber seines Einverständnisses versichern.

"Sagen Sie mal, kann ich vielleicht auch im Schneidersitz büßen?"

Snape bemerkte, dass jedem ihrer Sätze die entsprechende Endung fehlte. Er nahm sich vor, sie so lange knien zu lassen, bis sie diese drei Buchstaben locker über die Lippen brachte.

"Mich deucht, nein."

Ihrer Kehle entrang sich ein Wimmern. Mich deucht… Zaghaft setzte sie an: "M… mi… mich deucht? Wer redet denn heute noch so?"

Voller Amüsement kam es vom Schreibtisch: "Ich vielleicht?"

Aniram brummte etwas vor sich hin. Dann war sie für eine Weile ruhig und wälzte ihre Gedanken von der rechten in die linke Hirnhälfte und wieder zurück. Ihre Überlegungen beendete sie mit einem Seufzen, aus dem rasch ein Stöhnen wurde.

‚Verrückt, einfach nur verrückt. Severus, Australier sind verrückt, lass dich nicht aus der Ruhe bringen.'

Das Stöhnen ging trotz dieses Gedankengangs weiter und wenn er alles Mögliche wollte - die Tatsache, dass es vielleicht draußen zu hören war, gehörte nicht dazu. Obwohl er sich schwerlich vorstellen konnte, dass um diese Zeit freiwillig jemand die Kerkergänge aufsuchte. Selbst wenn - wer war hier der Herr? In seinen Räumen konnte er veranstalten, was er wollte. Niemand riss sich freiwillig um Präsenz jenseits des Unterrichtsgeschehens. Doch schon bald reichte es und er fuhr sie an.

"Was soll das? Mir ist nicht bekannt, dass Büßer solche unartikulierten Geräusche von sich geben. Also büßen Sie still vor sich hin, damit ich die Arbeiten zu Ende korrigieren kann."

Aniram wurde neugierig. "Arbeiten?"

Sein knappes Nicken ermunterte sie, auf Knien zum Schreibtisch zu rutschen. Sie hielt sich an der Schreibtischkante fest, zog sich hoch und Zentimeter um Zentimeter wuchs ihr Kopf dahinter hervor. Staunend blickte sie auf die vielen Pergamentrollen, die sich da türmten. Wahnsinn, und das am ersten Schultag? Ungeniert blätterte sie den Stapel durch und grabschte dann nach einer Rolle, um sich mit ihrem Inhalt zu beschäftigen.

Sofort wurde sie ihr wieder aus der Hand gerissen. "Was fällt Ihnen ein?"

"Zeile vier ist falsch. Mir ist langweilig. Können Sie nicht runterkommen und ne Runde mitbüßen? Bitte." Sie versuchte, einen Dackelblick aufzusetzen.

Snapes Mundwinkel zuckten verächtlich, als er das sah. "Halten Sie jetzt endlich Ihren Mund!"

Unmittelbar nach diesen Worten flog ihre Hand zu ihrem Mund. Hinter der Hand kamen glucksende, gurgelnde und fiepende Geräusche hervor.

Sie schaffte es immer wieder, ihn aus der Bahn zu werfen, kaum dass er glaubte, seinen ruhenden Pol gefunden zu haben. Ungläubig schaute er in diese Feuerwerk sprühenden Augen und fragte sich, wen oder was diese Laute imitieren sollten.

"Sind Sie Fisch, Vogel oder Mensch? Was tun Sie da?"

Aniram nahm die Hand weg, sagte schnell "Ich halte meinen Mund" und schlug die Hand wieder davor. Dann packte sie das große Lachen. Ihren Kopf legte sie einfach auf ihre Hände, die wiederum Platz auf seinem Schreibtisch fanden und feixte.

"Um mich zum Schweigen zu bringen, müssten Sie mich schon fesseln oder so."

Ein gelassener Blick traf ihre Augen, sein Mundwinkel zuckte wiederum, diesmal vor Erleichterung, und er quetschte hervor: "Ich staune über Ihren Einfallsreichtum. Fast bin ich geneigt, mich zu bedanken."

Er zog seinen Zauberstab, richtete ihn auf sie, zischte etwas Undefinierbares und ehe sie es sich versah, saß sie gefesselt auf einem Stuhl. Damit er wirklich die entsprechende Konzentration zum Korrigieren hatte, selbstverständlich mit einem Knebel im Mund.

Aniram war sprachlos. Wie hätte sie auch mit einem Knebel im Mund reden können?

Ob er doch so gefährlich war, wie die anderen sagten? Selbstverständlich hatte sie ihren Satz als Witz verstanden, von Anfang bis Ende, weil KEIN Lehrer daraus Ernst machen würde. Nun ja, kein bisher bekannter Lehrer.

Ein wütendes Knurren verließ ihren Mund. Leider nicht laut genug, denn durch diesen albernen, dämmenden Knebel klang sie mehr wie ein Werwolf auf Entzug.

Angst hatte sie keine, noch lange nicht, denn was sollte er ihr schon tun? Um die Ecke bringen? Oh, das würde auffallen, wenn sie nicht mehr auftauchte. Unwillkürlich verglich sie den tobenden Snape von heute Morgen mit diesem gelassenen, eiskalten Teufel. Sie hmpfte und legte den Kopf schief. In der zweiten Variante behagte er ihr wesentlich weniger. Da sollte er lieber toben. Eine unkontrollierte Person konnte man viel besser und schneller in den Griff bekommen.

Jetzt sah sie, dass er den Zauberstab wegsteckte, was wohl bedeutete, dass ihr momentaner Aggregatzustand eine Weile andauern würde. Er wandte sich gemächlich den Arbeiten zu. Blödmann! Sie ruckelte mit dem Stuhl herum, was aber bald ihre Kraft erlahmen ließ. Irgendwann gab sie auf und ihre Schultern sackten nach unten.

‚Depp, elender, das wirst du mir büßen', schoss es ihr durch den Kopf. Urplötzlich rannen Tränen über ihr Gesicht und sie brachte halberstickte Laute hervor. Sie weinte, weil sie so sehr lachen musste.

Denn genau deshalb saß sie hier: zum Büßen.

Snape warf einen unwilligen Blick auf diese eigenartige Schülerin. Unheimlich-heimliche Schadenfreude durchflutete ihn. Hatte er sie doch schneller weich bekommen als gedacht. Sie weinte schon beim ersten Mal. Wunderbar. Fantastisch. Herrlich. Mit wachsender Begeisterung verteilte er Sechsen und Fünfen auf den vor ihm liegenden Arbeiten. Unterbrochen von nur einer einzigen Vier. Nach einer Stunde konzentrierten Arbeitens war er fertig und erlöste sie von ihren Fesseln.

"Sie können gehen. Ich hoffe, diese Lektion arbeiten Sie bis morgen auf. Um sieben."

"Khr… khr…", Aniram fehlte schlichtweg der Speichel, um reden zu können. Also verließ nur ein Krächzen ihre Kehle.

Hilflos und entschuldigend zuckte sie mit den Schultern, um anzudeuten, dass sie ohnehin nicht sprechen könne und stapfte nach vorn. Mit den Umhangärmeln wischte sie sich die Tränen vom Gesicht, welche von Snape vollkommen falsch interpretiert worden waren.

An der Tür angekommen, drehte sie sich um und öffnete den Mund. Da ihr die Stimme immer noch den Dienst versagte, nahm sie kurzerhand ihren Zauberstab zur Hand und wischte einen Strich in die Luft. Dann war sie verschwunden.

Glücklicherweise war Snape allein, denn sonst hätte er jedem und allem Gelegenheit gegeben, eine mindestens tausendseitige Abhandlung über entgleiste Gesichtszüge zu verfassen. Der Strich, den der frisch ernannte Staatsfeind Nummer Eins hinterlassen hatte, formte sich zu zwei Worten.

Gute Nacht.

xxxXXXxxx

Mit Macht gab sich Snape der Illusion hin, am gestrigen Abend irgendeinen Erfolg erzielt zu haben, sah sich allerdings einer vollkommen anderen Realität gegenüber.

Diese Person kam mit demselben Elan, mit derselben losen Klappe in den Unterricht. Was ihn davon abhielt, sie ungespitzt in den Boden zu rammen, war ihre Sachkenntnis. Sie überraschte ihn mit einer Beschlagenheit, die durchaus dem Wissensstand von Siebtklässlern gleichkam oder gar überstieg.

Sie gehörte in vielerlei Hinsicht zu den Exoten und einzig und allein seine Neugier - Snape verfluchte sich dafür - ließ ihn auch diese Stunde überstehen. Jawohl, auch ein Snape durfte neugierig sein, wenn jemand aus Australien kam und womöglich noch unbekannte Tränke oder Rezepturen in der Tasche hatte. Er ging jedenfalls davon aus, dass dem so war.

Nach diesem lässigen Gute Nacht von gestern fragte er sich, was sie noch alles auf Lager hatte. Sie schien nicht im Geringsten eingeschüchtert zu sein. Leider.

xxxXXXxxx

Abends. Abendbrotzeit. Fast sieben Uhr. Aniram verschlang, was nur möglich war und ein heranwachsender Teenager so brauchte. Da sie nicht wusste, was sie heute Abend erwarten würde, deckte sie sich mit mindestens zwei Litern Wasser ein. Nur für den Fall, dass es wieder so eine trockene Angelegenheit wie gestern werden würde.

Auf dem Weg zum Kerker überlegte sie, welche Kreation er wohl heute auf Lager hatte. Zu ihrem Glück hatte er ihre Belustigung und die damit verbundenen Tränen vollkommen falsch interpretiert. Davon ging sie jedenfalls aus, denn sein Gesicht war noch immer das eines Siegers gewesen, als sie mit wehenden Fahnen dieses grässliche finstere Gewölbe, das mehr einer Krypta glich, verlassen hatte.

Sie klopfte an und im Sturmschritt, als hätte ihr ein Kapitän den Befehl zum Entern gegeben, bewegte sie sich nach vorn. Ein breites Grinsen sparte sie sich lieber, denn dann hätte sie sich die Wasserprophylaxe sparen können. Ihre Lust, sich die Kehle ausdörren zu lassen, tendierte gegen Null.

Stumm wartete sie vor seinem Tisch. Erstens wusste sie nicht, was sie sagen sollte und zweitens ging ihr dieses Sir-Geaffe auf den Geist. Sich dort einzureihen, wo alle standen, dagegen weigerte sie sich entschieden. Sie wollte abwarten, auf welcher Ebene er heute zu arbeiten gedachte.

Snape lehnte sich zurück und fixierte sie. Nanu, kein einziges Wort? Was sie konnte, brachte er schon lange zustande. Er hob die rechte Augenbraue und zog spöttisch den linken Mundwinkel nach unten. Dann tippte er mit dem Zeigefinger auf den Fußboden.

Mit ihrer Beherrschung war es vorbei. Als sie in die Knie ging, konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. "Ihr Gesicht ist ein wunderbares Koordinatensystem. Sir."

Sein Blut kam umgehend zum Kochen. "Inwiefern, Miss Hawkwing?" Im Gegensatz zur Temperatur seines Blutes klirrte seine Stimme wie Eis.

Vollkommen unbeeindruckt von dieser Tatsache - sie nahm sich vor, ihm demnächst ein Feuer im vorhandenen Kamin zu empfehlen - kniete sich Aniram hin und wedelte mit den Händen in der Luft herum. Dann brachte sie endlich so etwas wie ein Kreuz zustande, dessen Schnittpunkt von ihr aus gesehen seine Nase war.

"Nun gucken Sie mal, wenn ich mir Ihre elegant geschwungene Augenbraue hier und Ihren zynisch verkniffenen Mundwinkel dort ansehe, dann erblicke ich eine formvollendete Tangente."

"Ich nehme an, Sie wissen, was eine formvollendete Statue ist. Geschaffen von einem Meister." Blitzartig zog er seinen Zauberstab und verdonnerte sie wieder zu Unbeweglichkeit und Stummheit.

Ihr Lieblingsstuhl bekam wieder Besuch von ihr. Sie saß darauf und rollte mit den Augen. Sie rollte damit, um wenigstens einem Körperteil die Möglichkeit zur Bewegung zu geben. Wenn er sich nicht bald etwas Sportlicheres einfallen lassen würde, dann würde sich Grünspan auf ihr breit machen. Herrgott, verfügte er denn wirklich über so wenig Kreativität? Gestern sitzen, heute sitzen… Sie rollte weiter.

Aus unerfindlichen Gründen begann er mit einem kleinen Exkurs in die europäische Geschichte.

"Es heißt, von der Queen zum Ritter GEschlagen und nicht ZERschlagen." Er wusste nicht warum, aber ausgerechnet dieser Satz war ihm gehörig in die Nase gefahren, welche bekanntermaßen beträchtliche Ausmaße hatte.

Koordinatensystem. Seine psychische Erschütterung nahm Ausmaße an, deren Ausläufer das Seeufer erreichten. Nicht einen Millimeter kleiner war sie hier hereingekommen. Er fragte sich, wie er das nennen sollte, was sie ihm lieferte. Frechheit? Nein, das wäre zu einfach. Mut? Auch nicht. Eher schon Wagemut, gefährlich dicht an der Grenze zum Wahnsinn. Denn wer ihm solche Wortgefechte lieferte, musste zwangsläufig wahnsinnig sein. Etwas Derartiges war ihm noch nie über den Weg gelaufen, noch nie.

Die Nase im Buch vergraben dachte er, dass sie durchaus ein hochkarätiger Edelstein sein könnte, wenn er einmal geschliffen war.

An den folgenden Abenden war es immer dasselbe. Das Büßen lief nach einem festen Schema ab, beinahe rituell. Sie kam, sah - und siegte.

An irgendeiner Stelle seines Unterfangens sah Snape eine unwirkliche Grenze wabern. Eine, die nicht da sein dürfte. Die selbstverständlich auch bis jetzt kein Schüler wie eine Wellenfront vor sich hergetragen hatte.

Pünktlich um sieben stand sie vor ihm, kniete sich hin und plapperte so lange, bis er sie auf den Stuhl verbannte. Erst dann konnte er sich ungestört dem Gedanken widmen, warum sie immer noch ungebrochen war und nicht leer zu werden schien. Seine Methoden, schon allein seine Aura hatten bis jetzt immer gewirkt. Hier jedoch sah er sich verletzt und wollte, dass sie brach. Jeder ließ sich irgendwann brechen. So aber musste er nur die ernüchternde Feststellung treffen, dass sich dieser Wunsch hundertfach vervielfältigte, je länger er kämpfte.

Mit dem Namen Hawkwing verband er nur die Vorstellung von einem geschmeidigen Getreidehalm, robust, lebensbejahend, sich selbst nach dem größten Sturm wieder aufrichtend. Absolut stark und überlebensfähig. Stärke und Überlebensfähigkeit duldete er jedoch nicht in seiner Nähe. Hatte er am Anfang dieses Spielchen noch amüsant gefunden, begann es ihn zu langweilen. Eben weil keine Änderung eintrat.

Seine Frustration konnte im Unterricht nicht größer sein. Das gestand er sich schonungslos ein. Weil es die Wahrheit war. Es nagte an ihm, dass sie NUR ruhig zu stellen war, wenn er sie mit simplen Stricken fesselte oder ihre Stimmbänder mit einem Zauber lahm legte. Herausoperieren war wohl keine gute Idee, denn er war sicher, am nächsten Tag hatte sie neue.

Er war nicht der einzige, der sich Gedanken um sein Gegenüber machte. Aniram versuchte zwar unbeteiligt auszusehen, wenn er wieder mal "Manöver Stuhl" durchführte, war sich aber nicht sicher, ob das funktionierte.

Aufmerksam studierte sie seine Mimik und sah, dass ihn etwas äußerst intensiv beschäftigte. Oh, es war noch lange nicht so, dass sie lediglich eine steinerne Miene vor sich sah. Nein, nein, hinter dieser Maske war mehr Bewegung als im ganzen Schloss. Sie fand es bewundernswert, wenn sich jemand so im Griff hatte, dass er seine Umwelt Glauben machte, er hätte keine Seele.

Und was wusste er denn schon? Ihm würde wohl übel werden, wenn er wüsste, dass für jemanden, der nicht nur einmal in das ausdruckslose, wie in Stein gemeißelte Gesicht eines Aborigines geblickt hatte, Snapes Mimik die beste Belletristik war. Sie fragte sich, ob sie auf einen Rohdiamanten gestoßen war und wie lange es dauern würde, die ersten Kanten abzuschleifen. Noch war er für ihre Begriffe eine Runde zu eckig.

Australiern wurde wohl ein beinahe unerschöpfliches Maß an Ideenreichtum in die Wiege gelegt, denn kein Abend verlief gleich. Monotonie schien für sie ein Fremdwort zu sein. Seine Planung, wie ein solcher Abend verlaufen zu hatte, stürzte sie kräftig um.

Sie brachte es fertig, hereinzustürmen und bevor er etwas sagen konnte, sich mit einem lautstarken "ho-ho" den Umhang abzureißen, ihn zusammenzuknüllen und sich darauf zu knien. Ihre Augen strahlten dabei und demonstrierten auf diese Art und Weise, dass sie ein Hausmittel gegen schmerzende Knie gefunden hatte. Am nächsten Abend trabte sie mit ihren Hausaufgaben an. Er glaubte, sich verhört zu haben. Fassungslos schaute er über den Rand seines Schreibtisches und sah sie gebeugt dort unten hocken.

"Von Hausaufgaben war nicht die Rede", bellte er heiser.

"Ja, ich weiß schon, mir ist aber langweilig und ich kann unmöglich alle Hausaufgaben gegen Mitternacht machen. Da kommt nur Murks raus. Außerdem", mit dem unschuldigsten Blick der Welt schaute sie auf, "ist es für Professor Snape."

Er sog durch die Zähne die Luft ein. "Ohne Nachschlagwerke?" Widerwillig stellte er diese Frage, obwohl er sich die Antwort denken konnte. Dennoch - die Hausaufgabe war nicht gerade einfach.

"Ja."

Diese Nachschlagewerke-Frage fand nun auch ihren Weg ins Sparprogramm.

Von ohnmächtiger Wut begleitet landete sie wieder auf ihrem Lieblingsstuhl und knurrte durch den Knebel. Sie empfand es als unfair, dass sie neben dem Büßen nicht gleichzeitig ihre Hausaufgaben machen durfte. Das war einfach gemein.

Er nahm die Pergamentrolle auf, studierte sie aufmerksam und fand nichts daran auszusetzen. Aber ein Dämpfer musste sein. Seine Nase zuckte.

"Sie sind zum Büßen hier und nicht zum Arbeiten, also haben Sie Ihre Hausaufgaben… gegen Mitternacht zu erledigen."

Mit einem dämonischen Grinsen beförderte er die Rolle in den Kamin, wo sie in Nullkommanichts pulverisierte.

Aniram riss und zerrte am Stuhl. Wenn sie jetzt reden könnte, oh… Also musste sie sich auf den möglichst grimmigsten Ausdruck in ihren Augen verlegen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

"Erregt, Miss Hawkwing?"

Betont gelangweilt stellte er diese Frage, ohne ernsthaft eine Antwort darauf zu erwarten. Ihre Augen sagten ihm klipp und klar, wenn sie jetzt ein Messer in der Hand hätte, würde sie ihn mit Begeisterung zu Kotelett verarbeiten. Trotzdem - sie fand immer noch die Zeit, heftig zu nicken.

So sehr er sich bemühte, er brachte ihr Feuer nicht zum Erlöschen. Nach einer Woche "Strafsitzen" hatte er erwartet, nur noch Glut vorzufinden. Die Sonne schien aber ununterbrochen. In gewisser Weise schien es sie nun zu amüsieren, denn ansonsten würde sie ihn nicht allabendlich erneut herausfordern. Sie brachte es in der darauf folgenden Woche fertig, zu gähnen und zu sagen - ABER WIE ZU SAGEN!!! - dass sie heute nicht auf den Stuhl wollte, der sei ihr zu hart. In logischer Konsequenz landete sie natürlich erst recht darauf.

Am nächsten Tag stand sie mucksmäuschenstill vor seinem Schreibtisch und wartete darauf, dass er den Kopf hob. Er tat es, weil er sich über die ungewohnte Stille wunderte. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, musste die Feder dran glauben. Es knackte leicht, aber er schenkte dem keine Beachtung. Ungefähr in Brusthöhe schrie ihm ein überdimensionales SIR-Schild entgegen. Sein Blick ging auf Wanderschaft, unendlich langsam, bis er auf ihrem Gesicht haften blieb. Ihre Ohren hatten von den Mundwinkeln Besuch bekommen. Zähnefletschend beförderte er sie auf die Sitzmöglichkeit, die langsam hawkwingsche Dellen haben musste.

Sollte er doch aufgeben, vorübergehend zumindest? Wirklich nur vorübergehend, bis ihm etwas Angemessenes eingefallen war? Etwas, womit sie nicht rechnete und postwendend pervertierte. Denn was sie hier abzog, erschien ihm langsam wie ein Unterhaltungsprogramm, bei dem allerdings SIE der Regisseur war. Das durfte sich in seinem Kerker niemand herausnehmen.

Aniram hing schlaff herum und fragte sich, wann ihre Zeit um war. Noch einmal Hausaufgaben mitzubringen, davon hatte sie Abstand genommen. Plötzlich flatterten ihre Nasenflügel und ihr Kopf kam ruckartig hoch. Kaffee! Sie schnüffelte begeistert.

Snape schoss einen warnenden Blick in ihre Richtung. Mit schief gelegtem Kopf schielte er erst auf seine Kaffeetasse, dann auf ihr Gesicht. Er hatte das Gefühl, dass er sie zum ersten Mal in der Hand hatte. Es tat unendlich gut zu wissen, dass sie von seiner Gnade abhängig war. Seine Stimme troff vor Sarkasmus.

"Ihnen ist doch wohl um diese Tageszeit nicht nach Kaffee?" Genüsslich nahm er einen Schluck und lehnte sich entspannt zurück.

Ihre Augen wurden noch größer, hefteten sich sehnsuchtsvoll an den Kaffeebecher und bettelten. Geknebelt, wie sie immer noch war, konnte sie nur nicken.

"Aber nur, wenn Sie still sind", mahnte er, bevor er per Zauberstab den Knebel entfernte.

Ihr sehnsuchtsvolles Seufzen steckte er hocherfreut in die Schublade seiner persönlichen Satisfaktion. Diese ließ er sich aber nicht anmerken und warf stattdessen ein hämisches Grinsen auf seinen Kaffeebecher. Scheinbar hatte sie es aufgegeben, ständig zu plappern, denn sie war verdächtig ruhig. Kurz schoss ihm die Überlegung durch den Kopf, ob es sich vielleicht um eine neue Show handeln könnte, die sie abzog. Ihre Augen hatten aber wirklich nur den Kaffee im Blick. Gönnerhaft und unendlich langsam erhob er sich, schwebte fast in ihre Richtung und setzte vorsichtig den Becher an ihre Lippen.

"Dann trinken Sie."

Wie ein Feuerspucker riss sie den Mund auf. "Ha… heiß", krächzte sie hervor.

"Ich glaube, kalter Kaffee schmeckt halb so gut."

"Oh, krieg ich noch was?"

Ihre Augen flehten. Sie musste eben auf eine andere Art und Weise dafür sorgen, dass Wärme in ihren Körper kam, wenn dieser Holzklotz vor ihr schon nicht auf die Idee kam, den Stuhl, an den sie gefesselt war, an den Kamin zu befördern und ihr ein kleines Feuerchen zu machen. Die Kälte in diesem Gemäuer kroch langsam unter die Haut. Dann hörte sie ein bestimmtes "Nein". Ihren bettelnden Blick stufte er kurzerhand als Unterwürfigkeit ein.

"Sadist", stieß sie krächzend hervor.

Er beugte sich unendlich langsam nach vorn, befühlte mit den Fingerspitzen die Schnur um ihr Handgelenk und ging langsam um sie herum.

'Verdammt, kann der Kerl nicht mal still stehen? Ich wette, der lacht sich hinter mir krumm und schief.'

"Miss Hawkwing, verstehe ich das richtig, Sie empfinden die Verweigerung des Koffeingenusses als eine weitaus schlimmere Form des Sadismus als Ihre... Unbeweglichkeit?"

Aniram nickte.

Er war endlich wieder vor ihr angekommen und hob ihr Kinn an. Sie hatte die Augen geschlossen, also konnte er nicht sehen, was in ihr vorging. Aber er versorgte sie mit einem weiteren Schluck Kaffee.

"Mir scheint, ich bin auf eine sehr merkwürdige Form des Masochismus gestoßen", spöttelte er von oben herab.

"Sie vergessen, wo ich herkomme."

Um Gleichgültigkeit bemüht konnte sie trotzdem einen bissigen Unterton nicht verhindern. Denn in Wirklichkeit war ihr nach ein bisschen Mord zumute. Plötzlich spürte sie ein Nachlassen ihrer Fesseln und sie holte tief Luft.

"Verschwinden Sie."

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen, sprang auf und wollte zur Tür sausen.

Snape, der sich umgedreht hatte, hörte hinter sich einen dumpfen Schlag. Sie lag am Boden. Seine Augen verengten sich. Theoretisch könnte er sie liegenlassen und darauf warten, bis sie sich von allein erhob. Diesmal war er sich allerdings nicht ganz sicher, ob sie sich eine Verletzung zugezogen hatte. Alles konnte er gebrauchen - alles tat er für die Aufrechterhaltung seines Images, aber dass sie mit solchen Sachen hausieren ging, das gehörte nicht dazu. Schnell eilte er auf dieses schlotternde Bündel zu und ging neben ihr in die Hocke. Ungefragt nahm er ihren Arm und wollte sie hochziehen. Dann kam etwas, womit er nicht gerechnet hatte.

Sie stieß seine Hand grob beiseite und zischte: "Ich komme allein hoch."

Dieser Satz wurde begleitet von einem Blick, der ihn fast zur Verzweiflung brachte. Wo war diese Unterwürfigkeit hin? Sie waren wieder da, die hell lodernden Flammen in ihren Augen, dieses Feuer, das ewig zu brennen schien. Es machte ihn rasend.

Aniram rappelte sich wieder hoch und schwankte etwas. Trotzdem blieb Snape in ihrer Nähe stehen und wartete, dass sie nun endlich seinen Kerker verließ.

Aniram wurde nur von einem Gedanken beherrscht: Wärme. Zielstrebig setzte sie sich in Richtung seines Schreibtisches in Bewegung und vergaß vorübergehend alles um sich herum. Sie fasste nach dem Kaffeebecher, inhalierte dieses herrliche Aroma und trank in sorgsamen, kleinen Schlucken. Das Leben hatte sie wieder, denn langsam wichen Kälte und Erstarrung aus ihrem Körper.

"Gut, das Zeug", murmelte sie, "und so stark, damit könnte man glatt ne Piste durchs Outback schießen, die Jahrhunderte hält."

Sie drehte sich langsam um und ging auf ihn zu. Er rührte sich keinen Millimeter von der Stelle und sie dachte nicht im Traum daran, eher zu stoppen, als bis sich ihre Umhänge fast berührten. Den linken Arm um ihre Taille, den rechten Arm auf diese Hand gestützt, den Kaffeebecher mit der unersetzlichen Wärme darin geborgen, schaute sie ihn an. Dieses Unbeschreibliche wollte sie begreifen und hoffte, irgendwann eine logische Erklärung gefunden zu haben.

Bevor sie sprach, fiel ihr Blick missmutig auf ihr Handgelenk. Ihr Kopf neigte sich.

"Das nächste Mal nicht ganz so straff, denn selbst der armseligste Einzeller benötigt eine gewisse Blutzufuhr zum Gehirn. Wobei", sie deutete vage in den Klassenraum hinein und ihr Blick wanderte zum Stuhl, "ich mir beinahe sicher bin, dass bis jetzt jeder Schüler dort gesessen hat. Das ist es doch, was Sie wollen, oder? Individuen, die vor Ihnen im Staub kriechen, die den Kopf so weit, kräftig und tief zwischen ihre Schultern ziehen, bis sie schon selber nicht mehr an seine Existenz glauben. Sie machen irgendwann aus jedem ein NICHTS. Und wissen Sie was? Ich beschäftige mich ernsthaft mit der Frage, was Ihnen eine größere Befriedigung bereitet: gebrochener Stolz oder gebrochene Intelligenz. Ihrem Verhalten im Unterricht nach zu urteilen tendiere ich dazu, die Frage mit der ersten Möglichkeit zu beantworten. Denn Sie sind unzufrieden, ärgern sich, weil es Ihnen nicht schnell genug geht, stöhnen über das Unvermögen der Schüler, die Ihrer Unterrichtsführung nicht folgen können."

Er stand da. Sprachlos. Fassungslos. Regelrecht hilflos. In ihren Worten wie in einem Netz gefangen.

Sie umschlich ihn wie eine Raubkatze. Er spürte ihren Zeigefinger in seinem Rücken.

"Die letzte Instanz sind dann wohl Punktabzug und Strafarbeit. Äußerst einfallslos, wenn Sie mich fragen, bei uns gibt es stattdessen Ausgleichssport. Dabei kommt man wenigstens nicht ins Frieren."

Sie war wieder vor ihm angekommen.

"Allerdings frage ich mich mit derselben Vehemenz, ob Sie den Schülern nicht ein bisschen von sich geben wollen. Denn um ehrlich zu sein, noch nie war es eintöniger und langatmiger als hier. Erinnern Sie sich an meine Worte? Lang-wei-lig. Kein Esprit, kein Pepp, nein, doofes Rumsitzen. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass der Lehrer immer nur so viel an die Schüler weitergeben kann, wie er selbst auf der Kirsche hat."

Das alles wurde begleitet von einem verächtlichen Schnauben.

"Wenn das, was Sie hier Abend für Abend praktiziert haben, ein Versuch war, den Aufzeichnungen eines Marquis de Sade zu folgen respektive folgen zu wollen", es kam Bewegung in sie, er spürte, wie sie mit eiskalten Fingern nach seiner linken Hand griff und den halb geleerten Kaffeebecher hineinknallte, "attestiere ich Ihnen an dieser Stelle jämmerliches Versagen." Ihre Lippen kräuselten sich maliziös. "Das schreit doch geradezu nach Punktabzug, finden Sie nicht auch? Sagen wir - zehn? Sollten Sie meinen Ausführungen überhaupt noch folgen können, will ich morgen da sitzen, mit einem anständigen Feuer, das mich wärmt." Sie wies mit dem Finger auf den Kamin. "Denn diese Hütte ist saukalt."

Die Konsequenzen für das, was sie eben gesagt hatte, waren ihr schnuppe. Gab es denn welche? Wütend stampfte sie zur Tür.

"Oh, hab ich ganz vergessen, wegen de Sade." Sie lachte. "Sie sollten auf Seite eins mit dem Lesen beginnen, er hat Auspeitschen bevorzugt, die Fesseln kamen später. Aber seien Sie vorsichtig, dass das nicht in Selbstgeißelung ausartet, denn Australier sind die Geißel der Menschheit. Sie können sich darin üben, eine Geißel auszupeitschen. Erst wenn Ihnen das gelingt, werde ich entscheiden, ob sie ein Gott sind, den man anbetet, oder ein Teufel, den man fürchten sollte. Aber Sie müssten schon ein Genie sein, um das hinzubekommen. Ein Meister eben, nicht wahr?"

Ihre beißende Ironie, für die es eventuell auch wieder Punktabzug hageln könnte, gehörte einfach zu diesen Sätzen.

Um ihn herum schien alles zu wabern und nur noch dumpf drangen an sein Ohr solche Begriffe wie lahmer Haufen, Einfaltspinsel, Saustall.

Als sich die Tür hinter ihr schloss, stand er immer noch da wie ein begossener Pudel. Nur langsam begann sein Gehirn wieder zu arbeiten, versuchte zu verarbeiten, was er eben gehört hatte. Dazu gehörte nicht nur, dass sie sich irgendwann in naher oder ferner Zukunft herablassen würde, ihn als Gott oder Teufel einzustufen, nein, ausnahmslos alles war schlichtweg ungeheuerlich. Er umklammerte den Kaffeebecher so stark, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Es wühlte, es brodelte und er fühlte, wie seine Hand zu zittern begann.

Dann erst, als würde ein starker Wind die Nebelfetzen beiseite zerren, die sich über sein Denken gelegt hatten, war er in der Lage, rational zu reagieren. Langsam hob er seine Hand, um Kaffee zu trinken. Unbedingt. Entsetzt blickte er auf die zitternden, kleinen Wellen in dem Becher. Nein, einfach nur nein. Sie war an ihm vorbeigelaufen, hatte sich eben diesen Becher geschnappt, sich vor ihm aufgebaut und mit Worten eingedeckt. Sein herablassendes innerliches Lächeln war verschwunden, je länger ihre Rede wurde.

Viel hatte sie gesagt, zu viel.

Ein einziger jedoch Satz bahnte sich mit beinahe chirurgischer Präzision seinen Weg ins Gehirn und hinterließ dort eine klaffende Wunde: Sie war noch nicht einmal zwei Wochen an dieser Schule und hatte glasklar erkannt, dass er ihren Stolz brechen wollte. Aber damit nicht genug. All diese Fakten, die er ins Gesicht geschleudert bekam, schlossen weiterhin ein, dass sie ihn auf dieselbe Stufe stellte wie die Schüler. Verbissen kaute er an diesem ‚ob Sie den Schülern nicht ein bisschen von sich selbst geben wollen'. Und den Kaffee hatte sie getrunken, als hätte er ihn extra für sie gemacht. Mit einem unartikulierten Aufschrei warf er den Becher gegen die Wand.

Mit fast tränenden Augen und ohnmächtiger Wut verfolgte Snape die Spur, die sein Lieblingsgetränk an der Kerkerwand hinterließ. Nur ganz langsam dämmerte ihm - und er brauchte lange, um das zu begreifen - dass sie das Wort Strafarbeit nicht kannte. Sie schien das Ganze als einen Jux anzusehen. Wollte man ihr Verhalten begründen, gab es keine andere logische Erklärung dafür.

Mit geschlossenen Augen murmelte er vor sich hin: "Ich reiß dich nieder, Hawkwing, bis auf die Grundmauern. Egal, wie lange es dauert."

Er schaute auf die Stelle vor dem Kamin, auf die sie gedeutet hatte.

"Feuer brauchst du? Das kannst du bekommen!"

Er hob knurrend die Oberlippe und ließ ein wahrhaft diabolisches Grinsen sehen. Mit diesem Gesichtsausdruck machte er einem Wolf Konkurrenz. Einem Wolf, der seine Beute erlegen wollte.



Kapitel 5 - Explosionen


Die Beute saß am nächsten Tag wieder in seinem Unterricht, als wäre überhaupt nichts passiert. Diese Lebendigkeit war einfach unerträglich. Krampfhaft bemühte er sich um Ignoranz, die jedoch schon aufgrund ihrer äußerlichen Erscheinung und ihrer nicht gerade leisen Worte im Sande verlief. Sie reagierte, als würde es die Abende nie geben, benahm sich wie an ihrem ersten Tag. Erklärte geduldig, wie und wann etwas zu tun war. Sein halbes Leben hätte er für ausziehbare Ohren gegeben, um permanent mitzuhören, was sie erklärte. Es verbot sich von selbst, dass er ständig und immer in der Nähe der Ravenclaws herumschlich.

Aber warum war er eigentlich so schüchtern? Es war SEIN Unterricht. Nur zufällig ließ er sie reden und erklären, weil sie diesen Trank schon gebraut hatte. Nicht nur diesen. Selbst für andere benötigte sie nie mehr als eine halbe Stunde. Dennoch - er ließ sich unterstützen von einer Schülerin. Mit der Formulierung ‚unterstützen' stellte er sich über die Dinge und redete sich ein, er hätte ihr ein solches Auftreten erlaubt. Die Geschwindigkeit ihrer Handlungen, die mit unglaublicher Präzision gepaart war, gab ihm immer noch zu denken. Bis heute war noch kein Zauberspruch an seine Ohren gedrungen, der einen Trank dazu veranlasste, sich selbst fertig zu stellen.

Begierig wartete er auf eine Situation, in der er ihr einen Fehler nachweisen konnte, dass sie hoffnungslos falsch lag. Seine Neugier sollte nicht allzu offensichtlich sein, also stellte er sich in Positur, wenn sie zu dozieren begann - ständig einen zynischen Spruch auf den Lippen.

Er stand da wie fest gemauert in der Hoffnung, a) für etwas Falsches Punkte abziehen zu können und b) dennoch fasziniert ihren Ausführungen zu lauschen. Manchmal war er sich mit sich selbst uneins, welcher Drang in ihm gerade überwog.

Das Hochzucken seiner Augenbraue signalisierte eine Frage. Laut sprach er sie nie aus, das war unter seiner Würde. Trotzdem erschien es wie eingespielt, dass sie ihn daraufhin grundsätzlich direkt ins Gesicht schaute, um zu antworten. Sparsam an Gestik und Mimik erklärte sie, wie dieser und jener Trank in Australien gebraut wurde - Zutaten, von deren Existenz er noch nicht einmal ahnte, inklusive.

Schnell hatte er festgestellt, in welcher Höhe ihr Intellekt einzustufen war. Gekonnt umschiffte sie dieses "Sir", sie dachte nicht einmal im Traum daran, es an irgendeiner Stelle zu verwenden. Ihre Antworten klangen immer respektvoll, beinahe nachgiebig. Aber nur beinahe.

Denn an einem Tag hatte sie sich verraten. Zu viel Leben, zu viel Gefühl spiegelte sich in ihren Augen und sie gab sich keine Mühe, diesen kaskadenartigen Feuersturm zu verhüllen. Ein kurzes Aufblitzen sagte ihm ‚Wart ab, womit ich heut Abend komme'. Wie er bis heute gemerkt hatte, kannte ihr Einfallsreichtum keine Grenzen. Dieses Aufleuchten hatte ein unwillkürliches Anspannen seiner Wangenmuskulatur zur Folge.

Diese Hochspannung in seinem Gesicht sagte ihr, wann es soweit war. So neigte sie meist den Kopf und beendete ihren Satz.

"Nicht wahr? Also, so geht's bei uns."

Damit nahm sie diesem "nicht wahr" schon wieder die Spitze und sorgte dafür, dass sie ihn NICHT bloßstellte.

Meist antwortete er mit einem knurrigen: "In Europa geht es nun mal anders, also sollten Sie vielleicht wirklich das Zaubertrankbuch zur Hand nehmen und mit dem Lesen anfangen."

"Auf der ersten Seite?"

Schlagartig blieb ihm die Luft weg, denn das war mehr als ein Hieb auf ihren Abgang gestern Abend.

‚Biest!' dachte er. ‚Bist du einfach nur frech oder dumm?'

Zu seinem Bedauern konnte er das nicht sofort kommentieren, wie er wollte. Dies ließ sich nur während der heutigen Strafsitzung nachholen. Seine Nase zuckte verdächtig und alles in fünf Metern Entfernung um sie herum wurde einen halben Meter kleiner.

"Natürlich auf der ersten, wo sonst?"

"Oh, ich kenne Leute, die fangen mittendrin an."

Wütend fuhr er herum, nur um festzustellen, dass ihre Locken fast im Kessel hingen. Zynisch hob er eine Augenbraue. "So?"

Ein leichtes Nicken kam als Antwort und er wollte sich befriedigt umdrehen, als er noch ein gequetschtes "Tatsächlich" hörte.

In diesem Moment wusste er nicht, sollte er sie bewundern - oder schlicht und einfach Angst vor ihr haben. Denn sie schien vor nichts zurückzuschrecken. Aber es sollte noch besser kommen. Noch viel besser.

xxxXXXxxx

Als es abends an seiner Tür klopfte, war er drauf und dran, sie wegen dieser Bemerkung im Unterricht gar nicht erst hereinzulassen. Denn jedes Mal, wenn sie ging, kochte sein Blut. Es waren unterschiedliche Temperaturen, aber es kochte.

Schon wollte er den Mund öffnen, als es ihm wie so oft die Sprache verschlug. Nein, nicht verschlug, sie wurde sogar schon im Keim erstickt. Sie huschte an ihm vorbei, schnappte sich den Stuhl und schleppte ihn vor den Kamin.

Seine Bluttemperatur legte schon jetzt zehn Grad zu und sein Adrenalinspiegel blubberte nach oben.

"Sonst müssen Sie das Ding noch schweben lassen und EIN Zauber genügt für einen Abend, nicht wahr?"

Das Gefühl, wie mit kleinen Nadeln gestochen zu werden, wollte ihn einfach nicht verlassen. Dieses aufreizende "nicht wahr?" Langsam, wie in Zeitlupe, drehte er sich um, spitzte die Lippen und sah ihr stumm in die Augen. Dann wanderte sein Blick zum Kamin.

Fröhlich schmetterte sie: "Genau, da brennt noch kein Feuer." Sie stützte den Ellbogen auf der Lehne auf und legte ihr Kinn auf ihre Faust.

"Tatsächlich?"

Ungläubig und mit großen Augen brachte er dieses eine Wort hervor. Ein Wink mit seinem Zauberstab genügte. Dann brach ein Feuer aus dem Kamin, das verdächtig nach einem Vulkanausbruch aussah.

Mit einem Kreischen sprang Aniram auf. Ihr Umhang brannte.

"Scheiße, verdammte!"

Sie riss ihn sich von den Schultern und trampelte wie eine Wilde darauf herum. Erst als sie sicher war, dass das letzte Flämmchen getilgt war, sah sie sich außer Atem um. Heute, zum ersten Mal, traf sie wirklich fast der Schlag. Vor ihr saß ein äußerst selbstzufriedener Professor Snape, der seinen Zauberstab wie eine Tausend-Dollar-Zigarre unter seiner Nase entlang führte und daran roch. Seine Augenbraue zuckte leicht.

"Wollten Sie nicht ein kleines Feuer?"

Es kam selten über sie, aber wenn, dann richtig. Genau definieren konnte sie es nicht und sie wusste auch nicht, ob es lediglich Verwirrung war, die sie da überfiel. Fest stand jedoch eines, Snape schoss mit derselben Munition zurück, die sie in den vergangenen Tagen hier hinterlassen hatte.

"Richtig, ein kleines. Ich habe ja nicht vermutet, dass Sie gleich so maßlos übertreiben, wenn Sie mal was anderes zaubern."

"Tja, ich heize eben zu wenig."

Sein Zauberstab hing immer noch unter seiner Nase. Das Bild wollte er für immer gefangen halten. Wie ein wirbelnder Derwisch…

"Ich frage mich nur, weshalb sie Ihren Umhang unsinnigerweise malträtiert haben."

"Weil er gebrannt hat, Sie…", sie schnappte vor Empörung nach Luft

Skeptisch beäugte er das misshandelte Teil und schüttelte in vollkommenem Unverständnis den Kopf.

"Gebrannt?"

Irgendetwas war in seiner Stimme, das sie aufhorchen ließ. Es war der übliche spöttische Tonfall, aber diesmal klang es wie "reingelegt". Sie schielte auf den Fußboden, auf den zerfetzten Umhang, der nur noch lose herum liegen durfte.

Nein, unmöglich! Er war vollkommen intakt, nicht mal angeschmaucht. Mit spitzen Fingern las sie diese angebliche Magierbekleidung vom Boden auf und warf ihn sich mit so viel Stolz und Würde wie möglich wieder auf die Schultern. Sie fragte sich, wie das möglich war. Er hatte gebrannt.

Snape amüsierte sich königlich. Das Gesicht, das sie zog, die skeptischen Blicke… DAS war die Entschädigung für die letzten Tage. Endlich hatte er ein Mittel gefunden, sie mundtot zu machen. Seine Frage klang schon regelrecht heiter.

"Erliegen Sie so schnell dem Illusionszauber, Miss Hawkwing?"

Sie ging nicht in die Luft!! Maßlose Enttäuschung machte sich in ihm breit. Nie tat sie das, worauf er eigentlich hoffte. Nein, womit überfiel sie ihn stattdessen?

Nach einem kurzen Stutzen riss sie die Augen auf und blitzte ihn dann begeistert an. Ja, es schien sie regelrecht zu freuen. Erst grinste sie, aber dieser Zustand hielt nicht lange an. Ein schallendes Gelächter erfüllte seinen Kerker.

‚Wieder mal in die selbst geschaufelte Grube gefallen, Sev. Warum nur, warum? Ich hab ja gedacht, sie sinkt vor Scham in den Boden, weil sie den Zauber nicht gehört hat, wo sie doch sonst immer perfekt sein will. Und was tut sie? Lachen. Unerträglich laut.'

Seine Gedanken wurden von einem Schnaufen unterbrochen.

"Oh Mann, dass ich das noch erleben darf. Das war wirklich gut. Ich könnt Sie zu Boden knuddeln."

Mit einem erneuten Heiterkeitsausbruch stiefelte sie zum Stuhl, nicht, ohne ihm anerkennend auf die Schulter zu klopfen, und ließ sich darauf nieder.

"Ich stelle fest, in Sachen Humor entwickeln Sie doch eine leichte Ähnlichkeit mit Okuna. Man muss ihn nur aus Ihnen herauskitzeln."

Knuddeln? Sagte sie eben knuddeln? Humor herauskitzeln? ER verfügte über Humor? Das war eine Eigenschaft, von der er bis heute selbst nichts wusste. Seine Irritation ließ er sich nicht anmerken, als er sich kurz zu ihr umdrehte und eine Augenbraue hob.

Wenn Aniram inzwischen eins gelernt hatte, dann das: Augenbraue oben = Frage. Deren Wortlaut sie auch noch selbst herausfinden sollte.

"Ah ja, wo soll ich anfangen… hm, er ist mein Zaubertrankprofessor, wie sich wohl inzwischen herumgesprochen haben dürfte. Sie sehen ihm etwas ähnlich, aber nur etwas. Noch dazu äußerlich. Wie Sie innerlich beschaffen sind, davon habe ich bis heute lediglich einen Hauch mitbekommen."

‚So, so, nach zwei Wochen hast du einen Hauch von mir mitbekommen, erzähl mal weiter.' In seinem Kopf kreiselte es.

"Okuna ist sehr streng, fordert sehr viel, um nicht zu sagen alles von seinen Schülern. Sie wissen ja, wie schnell ich arbeite. Wenn ich also sage, in einer Stunde zehn Tränke, dann ist das keine wilde Behauptung, sondern Tatsache. Jeder von uns arbeitet mit fünf Kesseln gleichzeitig. Wir haben", an dieser Stelle trat ein leichtes Stocken ein, "mit einem Trick unsere Geschwindigkeit im Tränkebrauen etwas aufgepeppt. Aber selbst Okuna ging es manchmal zu langsam. So einige Male war er der Meinung, er müsste jemanden von uns so richtig auf Trab bringen, damit er im Unterricht nicht einschläft. Dann fing das große Scheuchen um den Ayers Rock an. Das wäre gut für die Durchblutung, meinte er. Hat er einmal auch mit mir gemacht."

An dieser Stelle unterbrach sie sich kurz und begann zu kichern. Mit der Unbeschwertheit eines jungen Menschen fuhr sie mit ihrer Erzählung fort.

"Natürlich bin ich schneller, schließlich bin ich jünger. Manchmal ist es auch von Vorteil, wenn man so lange Beine hat wie ich. Jedenfalls hör ich's hinter mir nur keuchen. Also leg ich noch einen Zahn zu, damit ich vor ihm da bin. Hehe, vielleicht sollte ich noch erwähnen, er ist immer mit gerannt. Meistens. Deshalb wirkt er wohl auch noch so jung und gut durchblutet."

Aus ihrem Kichern war mittlerweile ein ausgewachsenes Grinsen geworden. Was er leider nicht sah. Fasziniert hörte er zu, die Nase in einem Buch über seltene Naturvölker vergraben. Von einem Wettrennen um Riesensteine stand dort nichts. Der Wasserfall hinter ihm plätscherte munter weiter.

"Jedenfalls war ich mal der Meinung, das Rennen gewonnen zu haben. Ha, wer steht vor mir? Okuna. Ich hab ihn bald umgerissen, so unverhofft stand er da. Grinst von einem Ohr zum anderen und amüsiert sich über meine Lahmheit. Ich hätte dem Hund den Hals umdrehen können, ehrlich. Wissen Sie, was der gemacht hat?"

Jetzt saß er aufrecht, weil sie ihm den Zeigefinger in den Rücken stach.

"Hat irgendwas Keuchendes hinter mir her geschickt, ist über den Rock teleportiert und stand dann frisch und fröhlich da. Mistkerl, elender. Als Krönung, und jetzt halten Sie sich fest", sie piekste nun ununterbrochen, "sagt er: ‚Mich deucht, wir sind etwas erregt, Aniram?' Da hab ich auch zum ersten Mal dieses komische mich deucht gehört. Ist wohl ne Krankheit unter euch Zaubertrankprofessoren. Aber ansonsten ein Pfundskerl, ich hab unheimlich viel gelernt und er ist einfach ein Typ, mit dem man Pferde klauen kann."

Professor Snape hatte mit gemischten Gefühlen ihrer Schilderung zugehört. Er fixierte die Schulbänke.

"Ich wüsste nicht, inwiefern ich ein Pferd benötigte. Ganz zu schweigen von mehreren."

"EIN Pferd könnten Sie brauchen, um zu reiten. Mehrere Pferde könnten Sie brauchen, wenn Sie tagelang unterwegs sind."

Sie feixte vor sich hin und wackelte mit dem Kopf zu einer imaginären Melodie.

Eigentlich hätte er wissen müssen, dass auf die Pferdefrage eine Antwort kam. Egal wie rational oder irrational es klingen würde. Er sprach mit seinem Buch.

"Ihre Lehrer benutzen Ihre Vornamen?"

Neben dieser Tatsache arbeitete sich noch etwas anderes empor, nämlich dass sie ihren Professor als Mistkerl und Hund bezeichnet hatte. Kein Wunder, dass sie hier so auftrat, absolut kein Wunder.

"Na klar, wie denn sonst? Sie nennen uns alle beim Vornamen."

"Hmhm, und umgedreht? Sagen Sie mir jetzt ja nicht, dass Sie Ihre Lehrer auch mit dem Vornamen ansprechen."

"Aber sicher."

Aniram brauchte nicht erst zu überlegen, selbst der Direktor war von dieser "Familie" nicht ausgenommen. Dann biss sie sich heftig auf die Zunge, damit ihr ja nichts entflutschte.

Entsetzt hatte er ihr den Kopf zugewandt, weil er das schlichtweg für abwegig und vollkommen abenteuerlich hielt. Misstrauen lag in seinem Blick, als er sie etwas kauen sah.

"Haben Sie etwas im Mund?"

Nicken.

"Sie sind doch sonst so schwatzhaft, also was?"

Kopfschütteln.

Er beugte sich vor, nahm ihren Unterkiefer zwischen Daumen und Zeigefinger. "WAS?"

Unter Stocken, er erkannte genau, dass es unterdrücktes Lachen war, nuschelte sie hervor:

"Scheverusch."

Offenbar war sein Gesichtsausdruck schuld daran, dass dieses Lachen die Ausmaße eines Orkans annahmen.

"Oh Mann, seid ihr hier verkrampft!"

Sich umdrehen und wieder dem Buch widmen war alles eins. Er reagierte so schnell wie nie. Entgegen seinem Willen zuckte sein Mundwinkel. Merlin, wann war das das letzte Mal vorgekommen? Er strich sich mit der Hand über das Gesicht, wütend auf das mittlerweile vierzehnte Buch über seltene Völker, aber immer noch kein Australien dabei.

Vielleicht sollte er doch kapitulieren. Zugunsten seiner Nerven, zugunsten seiner Zeit. Bis ihm etwas Besseres für sie eingefallen war. Nämlich dann, wenn er sie etwas länger kannte, wenn er abschätzen konnte, worauf sie einmal keine Antwort hatte. Im Augenblick bereitete es ihm Mühe, diesen Gordischen Knoten zu zerschlagen.

"Sie sind entlassen, Miss Hawkwing. Sie brauchen ab morgen nicht wiederzukommen."

"Das ist nicht Ihr Ernst, oder?"

Das blanke Entsetzen lag in ihrer Stimme. Dann maulte sie: "Jetzt, wo es endlich warm und gemütlich wird, ehrlich mal, da schicken Sie mich weg."

Er schaute geradeaus und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als er eine Bewegung neben sich ausmachte.

Sie war aufgestanden, hatte sich mit beiden Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, so dass sie wirklich in Augenhöhe mit ihm war und schmunzelte.

"Ich hab mich schon gefragt, wann… äh, egal. Aber ist langweilig, jeden Abend derselbe Zauber, stimmt's?"

Verschwörerisch zwinkerte sie ihm zu, als wüsste sie, wovon sie sprach.

Hatte sie überhaupt gemerkt, dass keine Reaktion auf seinen Vornamen kam? Er knallte spielerisch seinen Zauberstab in seine Hand, so in etwa, wie sie das gestern Abend mit seinem Kaffeebecher getan hatte.

"Richtig. Ich werde noch ein paar kreative Zauber ausarbeiten, die hoffentlich genügend Pepp haben, um Sie zufrieden zu stellen", knurrte er bissig.

Vergnüglich schnalzte sie mit der Zunge. "Dann lass ich mich mal überraschen. Gute Nacht!"

Sie erhob sich und ging nach vorn. Fast an der Tür angekommen schaute sie über die Schulter zurück und erblickte einen grübelnden Snape. Sie freute sich über die Tatsache, dass er schon am Ausarbeiten einiger Zauber war. Dann fiel ihr noch etwas ein, etwas, das sie unbedingt fragen wollte, aber aufgrund des Knebels nie über die Lippen gebracht hatte. Mitten in seine Gedanken hinein platzte sie:

"Sagen Sie, Professor, stimmt es, dass Sie ein Todesser waren?"

Das Nächste geschah innerhalb eines Lidschlags. So schnell und drohend hatte sie noch niemanden auf sich zukommen sehen. Doch, an ihrem ersten Tag auf der Krankenstation. Nur war er noch schneller als die Schwester. Wenn man der Tatsache Beachtung schenkte, dass man hier in Europa der Teleportation unfähig war, dann war es wohl an der Zeit, den Hut zu ziehen.

Snape kam so dicht heran, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um in sein Gesicht zu blicken. Mit weißen Knöcheln hatte er sie am Umhang gepackt. Seine Gesichtsfarbe durchlief blitzschnell alle Schattierungen von kalkweiß bis feuerrot. Die Haut über seinen Wangen zitterte und der Blick aus seinen Augen war unergründlich. Er war gefährlich und verletzt, soviel erkannte sie auch als Laie.

Ihre Anwesenheit hatte Snape schon beinahe vergessen und er wollte sich tatsächlich mit dieser selbst gestellten Aufgabe befassen, als ihn diese Frage wie aus dem Nichts erreichte. Erreichte und überrollte. Er war zornig, so zornig wie er noch nie auf einen Menschen gewesen war. Gerade hatte er sich noch amüsiert und jetzt? Seine Worte waren kaum hörbar.

"Wagen Sie es nie wieder, hören Sie mir genau zu, nie wieder, schon allein dieses Wort in meiner Gegenwart zu denken. Fünfzig Punkte Abzug für Ravenclaw wegen Nichtachtung einer Lehrerpersönlichkeit. Fünfzig Punkte Abzug für Ravenclaw wegen persönlicher Beleidigung."

Ohne sie zu Wort kommen zu lassen, brüllte er in der höchsten Oktave: "RAUS!"

Aniram war so verdattert, dass sie mit offenem Mund dastand. Hundert Punkte? Wofür? Stumm und ungläubig schaute sie ihn an. Es war doch grade so witzig gewesen…

Er wollte sie aber schneller aus dem Kerker haben, als sie dachte. Höchstpersönlich beförderte er sie zur Tür, stieß sie in den Gang und schlug die Tür hinter ihr zu. Er brachte noch soviel Selbstkontrolle auf, um die Schutzzauber zu errichten. Der Schalldämmungszauber spielte diesmal eine ganz besonders große Rolle. Mehr als alle anderen.

Dann begann er zu toben. Die geballte Energie, die er nicht an einer Schülerin auslassen durfte, bekam jetzt die Einrichtung ab. Diese ungeheuerliche Frage musste auf seine Art und Weise abgearbeitet werden.

Der gesamte Missmut und die Erfolglosigkeit, die sich innerhalb der letzten beiden Wochen angestaut hatten, gesellten sich dazu und ließen ihn nicht weniger wütend zurück.

xxxXXXxxx

Aufgeregtes Plappern herrschte im Ravenclaw-Turm. Aniram konnte keine einzige Stimme unterscheiden.

"Was ist denn los?"

Ein Siebtklässler klärte sie auf: "O'Donnell ist grade an den Punkte-Uhren vorbeigekommen. Wir sind hundert Punkte los."

"Oh… so schnell geht das?"

Aniram fragte sich, wie das hier funktionierte; wie ihre Mitschüler das schon wissen konnten. Es würde wohl eine halbe Ewigkeit dauern, bis sie Europa begriff. Sie sah es kommen, wenn sie es begriffen hatte, ging es wieder ab nach Hause.

Mit einem Schlag herrschte Totenstille im Raum.

"Wieso, was soll das heißen - so schnell geht das? Irgendwie erinnert mich die hundert an dich."

Sie begriff mit einem Mal, dass man sie verdächtigte, womit natürlich alle Recht hatten - und dass sie eine Antwort von ihr erwarteten. Die vielen Augenpaare machten sie unsicher. Sie war unsicher, sie war neu hier und vor allem - sie kannte niemanden. Sie stand allein auf weiter Flur, egal was sie sagte. Sie setzte zu einer Erklärung an.

"Na ja, ich war heute bei Snape…", schon diese Eröffnung wurde von einem Stöhnen unterbrochen, "und der hat mir hundert Punkte abgezogen!"

Ihre Worte sorgten für hellen Aufruhr.

"HUNDERT Punkte? Das ist Wahnsinn, da muss jemand schon ein Verbrechen begangen haben. Selbst Snape zieht pro Person nur zehn Punkte ab, wenn er schlecht drauf ist, werden es zwanzig. Aber hundert? Was hast du gesagt?"

"Eigentlich nichts weiter, ich… ich… hab ihn gefragt, ob er ein Todesser war."

Von allen Seiten wurde sie angebrüllt. Rindvieh und Ziege waren noch die harmlosesten Titel. Nicht einer war ruhig. Oh nein, diese Stunden bei Snape, ob nun tagsüber oder abends, waren ihr da wesentlich angenehmer.

Von ihren eigenen Klassenkameraden voll gebrüllt zu werden tat entsetzlich weh. So etwas kannte sie nicht. Selbst wenn zu Hause mal jemand in die Luft ging, irgendwann war es wieder gut. Hier dachte niemand ans Aufhören. Viel würde wohl nicht mehr fehlen und sie sah sich einer erstklassigen Lynchjustiz gegenüber.

Verzweifelt schrie sie zurück: "Wenn ihr euch mal um eure Mitmenschen kümmern würdet, wäre alles viel einfacher. Hier tuschelt nur jeder hinter vorgehaltener Hand und das kenne ich nicht. Ich frage, mit allen Konsequenzen. Auch Snape ist nur ein Mensch und kein Gott!"

Damit fetzte sie an allen vorbei in den Schlafraum. Viel zu schnell, um in der eingetretenen Stille einen einzigen Satz zu hören.

"Da weißt du nicht, wie Snape über sich denkt."

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Als wären Ungeheuer hinter ihr her, rannte Aniram in den Schlafsaal. Nein, sie weigerte sich, das zu begreifen, was eben geschehen war. Auf dem Weg zum Turm hatte sie noch Mühe, Snapes Wutausbruch zu verarbeiten. Obwohl, was hatte sie eigentlich erwartet? Ein klares ja oder nein? Genau, so etwas in der Art. Warum war er dermaßen in die Luft gegangen? Sie hatte ihm doch nur eine simple Frage gestellt. Und jetzt noch ihre Mitschüler. Wirklich klasse, was sie hier in Europa erlebte. Tiefstes Mittelalter. Diese Idioten folterten auch noch sich selbst.

Sie trat ans Fenster, mit einem riesengroßen Schniefen. Übergangslos trat das ein, worauf Snape seit zwei Wochen umsonst hoffte: Sie ging in die Knie, sank regelrecht zusammen und schluchzte sich die Seele aus dem Leib.

Wie lange sie so da hing, wusste sie nicht. Irgendwann bemerkte sie Bewegung hinter sich.

Zu den Eigenschaften dieser Europäer - sie benutzte es als Schimpfwort und legte damit eine Klassifizierung fest - gehörte wohl definitiv nicht, sich um Mitmenschen zu kümmern. Nach dem Wohlergehen zu fragen. Oh nein, weit gefehlt.

Leises Gemurmel drang an ihr Ohr, was sich alles wie "Unmöglichkeit" oder "Aufholen" anhörte, dann war Ruhe. Sie wischte sich mit ihrem Rock die Tränen aus dem Gesicht und schaute hoch. Tatsächlich, es war stockfinster.

Mit bitter verkniffenen Lippen, die denen Snapes gar nicht so unähnlich waren, stand sie leise auf und setzte sich auf das Fensterbrett.

‚Warum kann ich nicht zu Hause sein? Warum?'

Verzweifelt hielt sie Zwiesprache mit den Sternen, suchte ihren Stern, obwohl sie wusste, dass er erst am Winterhimmel auftauchte. Der Himmel verschwamm. Stumme Tränen der Verzweiflung bahnten sich ihren Weg durch ihr Gesicht.

"Willst du dich denn nicht hinlegen und schlafen?"

Dieses Wispern hatte sie so erschreckt, dass sie beinahe heruntergefallen wäre. Josy stand vor ihr und streichelte ihren Arm. Obwohl Besorgnis in ihrer Stimme mitschwang, konnte sich Aniram nicht zu einer freundlichen Antwort aufraffen.

Unwirsch wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und antwortete mit normaler Lautstärke.

"Warum? Ich benehme mich ohnehin nicht wie die breite Masse, also sehe ich nicht im Geringsten ein, mich ins Bett zu legen, wenn andere es tun."

Damit drehte sie sich wieder weg, obwohl in ihrem Gedärm das Wissen wütete, die letzte Tür zugeschlagen zu haben.

Josy seufzte nur leise.

"Ich kann das ja verstehen. Aber ich glaube, so was wie du war noch nie an dieser Schule. Vielleicht sind deshalb alle aus der Bahn. Du holst doch mit deinem Wissen diese Punkte mit links wieder rein, selbst bei Snape. Vor allem bei Snape", schloss sie mit Nachdruck.

"Ich weiß", brummte Aniram.

Es war keine maßlose Selbstüberschätzung und Josy wusste das auch. Aber statt wieder ins Bett zu schleichen, legte sie ihre Arme um Aniram und hielt sie fest.

Diese Geste vermittelte Aniram ein warmes Gefühl und sie hielt sich an Josy fest.

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Unterdessen tobte und brüllte Snape weiter. Verständlich waren seine Worte nicht mehr, denn seine Stimme hatte ein unangenehmes Kreischen angenommen. Er benahm sich wie ein waidwundes Tier, das sich nach dem Todesstoß sehnte. Weil es wusste, dass es nie mehr aufrecht gehen konnte. Wusste, dass es zeit seines Lebens verkrüppelt sein würde. Er wollte tot sein, tot…

Er war angeschossen - SIE hatte ihn angeschossen und nun wartete auf den Gnadenstoß. Der beim besten Willen nicht kommen wollte.

Irgendwann sank er erschöpft und schwer atmend gegen die Wand. Er wollte jetzt nur noch vergessen, alles ausmerzen - wenn ihm schon der Tod verwehrt wurde.

Hatte er wirklich geglaubt, diese von einer unbekannten Energie angetriebene Maschine aufhalten oder eindämmen zu können?

Er folgte einer Eingebung und unwillkürlich verglich er sie mit der Sonne. Heute Abend war er im Glauben gewesen, diese Sonne mit einem einzigen Eimer Wasser zum Verlöschen bringen zu können.

Selbst das Bild des tanzenden Derwischs konnte ihn nicht aufheitern. Noch lange nicht. Mit einem tiefen Durchatmen massierte er sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.

Als Freund schneller Entschlüsse zog er sich in seine Privaträume zurück. Zum Glück befanden sie sich in der Nähe seiner Unterrichtsräume.

Rasch durchquerte er sein Wohnzimmer und ließ im Laufen Stück für Stück seiner Kleidung fallen. Er rannte regelrecht ins Bad. Mit einem Sprung war er unter der Dusche und drehte das eiskalte Wasser bis zum Anschlag auf.

Unter dem harten, kalten Strahl zuckte er zusammen, blieb aber mindestens zehn Minuten mit geschlossenen Augen darunter stehen. Als er sie wieder öffnete, fiel sein Blick auf seine Arme, mit denen er sich an der Wand abgestützt hatte. Sie zitterten nicht mehr. Sein Gesicht wandte er nach oben, dem kalten Brausestrahl zu. Erst als er das Gefühl hatte, nicht nur seinen Körper, sondern vor allem sein Innerstes wieder kontrollieren zu können, drehte er den Hahn zu.

Langsam verließ er die Dusche und griff fast traumwandlerisch nach einem Badetuch. Genauso langsam frottierte er sich ab, bevor er sich wieder ankleidete.

Ein Blick in den Spiegel war unnötig. Als er den letzten Knopf seiner Kleidung geschlossen hatte, wusste er, dass seine Maske, die leicht verrutscht war, wieder perfekt saß.

Er ging zurück in den Kerker und besah sich mit verkniffenem Mundwinkel das Ausmaß seines Tobsuchtsanfalls. Beachtlich. Ein Erdbeben hätte nicht mehr anrichten können.

Obwohl im jegliche Fuchtelei zuwider war, griff er zum Zauberstab und sorgte dafür, dass wieder alles an Ort und Stelle stand, hing, saß oder klemmte.

Normalerweise, wirklich nur normalerweise, hätte er sich jetzt auf den Weg in die Bibliothek gemacht, um vielleicht doch noch einmal die Verbotene Abteilung umzuwälzen. Um Madam Pince erneut mit unauffälligen Fragen nach Büchern über seltene Völker, Riten und Steine zu befragen. Irgendwo musste etwas über Australier zu finden sein.

Er entschied sich dagegen. Er würde nicht mehr Abend für Abend diesem Mythos hinterher jagen.

Es war vorbei.