Wieder kein Beweis...


2004 n. Chr., Tiahuanaco


"Ich gehe durch, keine Frage." Peter stand in der Höhle, in der auf einmal eine Mauer transparent wurde. Sehen konnte man nichts. Es erweckte den Anschein von Milchglas, hinter dem es waberte.

"Du bist wahnsinnig", war der einzige Kommentar von Geraldine.

"Nenn mich von mir aus wahnsinnig. Aber bin ich bis hier her gekommen, gehe ich auch noch weiter. Glaubst du im Ernst, ich kehre jetzt um? Jetzt, wo wir drauf und dran sind, das Rätsel zu lösen? Wir sind durch solche merkwürdigen Tore rund um die Welt gerast, und jetzt aufgeben? Nein."

Geraldine wusste, sie konnte ihn nicht aufhalten. "Also gut, aber mach dir wenigstens ein Nylonseil um die Taille, damit ich dich auf der anderen Seite nicht verliere. Ich weiß nicht, ob es klappt, aber dadurch kann ich dich vielleicht wieder zurückholen."

"Okay." Ein siegessicheres Grinsen á la Indiana Jones, der immer und überall heil aus den haarsträubendsten Abenteuern herauskam, trat Peter durch die Wand, als wäre sie ein Vorhang. Geraldine blieb kopfschüttelnd und mit bangendem Herzen zurück.


3148 v Chr., Lemuria


"Schnell", rief Galadan, "gegen den Kenauten kann uns nur die Stimme helfen."

"Stimme? Welche Stimme?" Peter machte nicht gerade einen intelligenten Eindruck. Sein Begleiter erwartete wohl, dass er mit "Stimme" etwas anfangen konnte.

Galadan war verwirrt. Er hatte Peter für den Erlöser gehalten. Den Erlöser, der ihn nach mehrtausendjähriger Wacht aus seinem Kerker befreite, dem er sein Wissen übergeben konnte und der seinen Platz einnehmen sollte. Erfreut hatte er ihn in Empfang genommen, als er durch den Verbindungskanal getreten war. Erfreut darüber, dass er wieder unter Menschen durfte. Galadan nahm an, die Gefahr wäre gebannt und das von ihm gehütete riesengroße Archiv stünde der Menschheit wieder zur Verfügung. Aber nun konnte der Erlöser nicht einmal etwas mit der Stimme anfangen. Das Gebäude bebte inzwischen.

Peter krümmte sich. Ihm wurde hundeübel. Verwirrt fragte er: "Warum wird mir schlecht? Was ist hier los?"

"Das ist die Kraft des Kenauten. Lange Zeit kam keiner gegen ihn an. Er bringt nicht nur die Mauern zum Einstürzen, sondern lähmt seine Gegner mit seinem Gebrüll. Hörst du?"

Peter stand still. Er musste nicht erst hören, so wie Galadan ihn aufforderte. Kein Raubtier dieser Welt gab solche Laute von sich. Er bezweifelte sogar stark, dass Dinosaurier etwas Ähnliches hervor brachten.

Das Gebrüll war unheimlich und ging durch Mark und Bein. Galadan sagte soeben, dass es mit dem Näherkommen des Kenauten immer schlimmer werden würde. Die Bewohner der Insel hatten diese verlassen, nachdem sie den Kenauten gebändigt hatten. Sie ließen Galadan als Wächter zurück und verhießen ihm eines Tages, eines sehr fernen Tages, die Ankunft eines Erlösers. Wenn wieder Friede herrschte.

Galadan und Peter jagten durch die Gänge. "Er ist nicht mehr fern. Ich habe es noch nie erlebt, aber ich weiß aus den Überlieferungen, dass es um uns geschehen sein wird, sobald wir ihn sehen. Und je mehr Mauern er einreißt, umso wahrscheinlicher ist das."

Keuchend hielten sie an. "Wir sind da." Zielstrebig ging er auf einen kleinen Tisch zu, auf dem eine Kiste stand.

Neugierig öffnete Peter den Deckel. Was er sah, jagte ihm mehrere Schauer über den Rücken. Abwechselnd heiß und kalt. ‚Ich träume', dachte er. In Ehrfurcht erstarrt blieb er stehen. Dort lagen sie, in einer anderen Zeit unter einem anderen Namen bekannt. In Wirklichkeit von Atlantern gefertigt, um damit ein zerstörerisches Wesen zu bändigen. Keiner wusste, ob sie je existiert hatten. Unwillkürlich begannen seine Hände zu zittern. Gesellten sich gnadenlos zur Gänsehaut, die über seinen Körper jagte.

Historiker, Archäologen, Paläontologen und Anthropologen redeten sich auf Kongressen die Köpfe heiß, was damals wirklich passiert war. Denn mehr als eine biblische Überlieferung existierte nicht. Sie zu interpretieren und sich darum zu streiten war seit Jahrhunderten der Lebensinhalt der Wissenschaftler. Nun lagen sie vor ihm, viel zu filigran gearbeitet, um eine solche Kraft dahinter zu vermuten. Und es waren zwei.

Er hörte Galadan neben sich brüllen. "Warum tust du nichts?" Aber Peter war viel zu gelähmt, um entsprechend handeln zu können.

Inzwischen rieselte um ihn herum der Putz und mächtige Säulen stürzten ein. Zweifelnd griff Peter nach dem, was vor ihm lag. Genauso zweifelnd sah er Galadan an. Was für ein sensationeller Fund. Er wusste, in seiner Zeit würden alle, aber auch alle, die nach der archäologischen Wahrheit hinter den Bibeltexten suchten, ihr Leben für diesen Moment geben, den er gerade durchlebte.

Er öffnete den Mund, um Galadan zu antworten. Warum er einfach nichts tun konnte. Da traf ihn die nächste Schallwelle des Kenauten und warf ihn zu Boden. Entschlossen kappte er das Nylonseil. Hoffentlich rannten in der Gegenwart alle weg. Denn dieses Tor offen und den Kenauten in die Gegenwart zu lassen wäre mehr als unverantwortlich. Was wog an dieser Stelle schwerer? Das Leben eines einzelnen oder das Leben von etlichen Milliarden Menschen? Gelächelt hatte er über diesen Satz von Mr. Spock. Ein Film, mehr nicht. Aber wie viel Weisheit und Mut darin lag, wenn man selbst abwägen musste, seine eigene Breitseite an die Wand zu bringen oder aber über Leichen zu gehen, konnte man erst erahnen und wissen, wenn man sich entscheiden musste. Eins zu sechs Milliarden.

Wie mit einem Skalpell ritzte sich das Wissen in seine Hirnrinde, dass er hier sterben würde. Nie würde jemand sehen, was er in den Händen hielt. Nie würde er einen wissenschaftlichen Beweis antreten können. Alle dort drüben würden sich nach wie vor streiten. Keiner würde je erfahren, dass es sie wirklich gab.

Die Posaunen von Jericho.


2004 n Chr., Tiahuanaco


Die Höhle bebte und drohte einzustürzen. Professor Anderson brüllte: "Raus hier, sonst werden wir lebendig begraben."

Geraldine setzte mit einem "Aber…" an, wurde aber rigoros unterbrochen.

"Geraldine, Peter ist wahrscheinlich tot, du merkst, du hast keine Spannung mehr auf der Leine, also sei vernünftig und komm mit."

Widerwillig drehte sie sich um und verließ die Höhle, um draußen in Tränen auszubrechen. Zu viel schoss ihr durch den Kopf. Neid, dass Peter immer und überall der erste sein musste, keiner wusste, was er dort, wo auch immer das war, erlebt hatte.

Diesen zähen Gedanken konnte sie nicht weiterverfolgen, denn mit einem lauten Krachen stürzte die Höhle ein und binnen Sekunden wand sich die gesamte Crew am Boden.