Kapitel 31 - Die Zeremonie und das Ultimatum


"Hast du eine Wesensverwandtschaft festgestellt?"

Eine rein rhetorische Frage. Denn ohne die Antwort zu kennen wäre es vollkommen sinnlos, alles und jeden für eine Zeremonie zu mobilisieren.

Aniram biss sich auf die Lippe, saugte ihren Blick an Joaquin fest und nickte. "Ja."

"Worauf bist du gewandelt?"

"Es war der Pfad des Schlangenclans."

Ein Raunen ging durch die Menge, nur kurz.

"Die Schamanen des Schlangenclans und Ameisenclans mit ihren Zeremoniendolchen mögen vortreten."

Die Angesprochenen näherten sich ihnen und stellten sich neben sie. Aniram war aufgeregt wie noch nie. Um ihre kleine Unsicherheit zu verbergen starrte sie geradeaus, als sie den linken Arm ausstreckte.

Aus ihrem Hinterhirn arbeitete sich hervor, dass sie in den letzten Tagen Schlimmeres durchlitten hatte. Jede noch so winzige Kleinigkeit hatte sich in ihrem Kopf festgefressen und saß dort wie ein Parasit. Ein Parasit ohne Nahrung, denn sie hatte sie ihm entzogen. Sie hatte ES mit dem letzten Schlag hinter sich gelassen und stand über den Dingen.

"Tauscht die Plätze und bringt sie an."

Die Schamanen nickten unbewegten Gesichts, zückten ihre Dolche und tauschten die Plätze. Den Platz "ihres" Schamanen nahm nun der des Ameisenclans ein.

Ihr Zwang wegschauen zu wollen wurde von ihrer Neugier übertroffen. Unwillkürlich, wie von einem Magneten angezogen, wurde ihr Blick auf das Geschehen gelenkt.

Gelassen sah sie zu, wie der Schamane den Dolch unterhalb der Ellenbeuge ansetzte und einen kleinen Schnitt ausführte. Nicht tief, aber es brannte höllisch und Aniram wusste, dass das erst der zaghafte Anfang war. Der Anfang dessen, das sie für immer mit Joaquin verbinden würde.

Die Stille lastete über Land und Menschen wie ein schweres Tuch. Sie wirkte beinahe greifbar, so drückend und schwer erschien sie ihr. Kein einziger Mucks war zu hören, nicht einmal ein Atmen.

Aniram schaute weiterhin zu. Aus dem kleinen Schnitt wurde eine nicht tief liegende, durchgehende Spirale. Die Abstände zwischen den Schnitten mussten überall dieselben sein. Exakt dieselben. Fünf Zentimeter. Fünf und nicht mehr und nicht weniger. Keine Abweichung durfte auf Ober-, Unter-, Außen- oder Innenfläche auftreten. Das kaum sichtbare Schnittmuster verlief bis zum Handgelenk.

Kurz schaute sie auf Joaquin und überlegte, ob dieser Schamane eine wohl noch größere Kunstfertigkeit aufbrachte. Schließlich musste er die Spirale exakt neben der schon vorhandenen und vernarbten platzieren. Oder hatte er es dadurch leichter?

Den Aborigines sagte man unendliche Geduld nach. Ausdauer. Kunstfertigkeit. Trotzdem oder gerade deshalb war Aniram keineswegs davon begeistert, wie langsam der Schamane zu Werke ging.

Während der Zeremonie allerdings das Gesicht zu verziehen oder gar die Faust zu ballen würde bedeuten, sämtliche Würde, sämtlichen Stolz, ja sogar ihre Kraft einzubüßen. Nie wieder würde sie so angesehen werden, wie es augenblicklich der Fall war. Vom Höhepunkt, ein Pendant zu werden - und die wenigen, die eines waren, wussten, was das bedeutete - würde sie in bodenlose Schwärze fallen. Sie wäre dann ein Nichts, ein Niemand - unwürdig, Teil der magischen Gesellschaft zu sein. Nein, dann hätte sie auch dort bleiben können.

Er musste sie erhört haben, denn er war fertig. Erleichterung befiel sie. Auch wenn sie sich dessen bewusst war, dass es mit dem Anbringen der magischen Schnittstelle noch lange nicht getan war. Die Schamanen traten zurück.

"Eure Zauberstäbe."

Nachdem sie ihre Zauberstäbe Mikele übergeben hatten, knieten sie sich nieder. Kurz darauf erfüllte ein Rauschen und Rascheln die Luft, das fast störend in der bisher herrschenden Stille wirkte. Ohne den Kopf zu wenden wusste Aniram, jetzt knieten alle um sie herum.

Mikele nahm die Zauberstäbe und hob sie hoch über seinen Kopf. Ihre Spitzen berührten sich und die Enden zeigten auseinander. Verlängerte man die Zauberstäbe, so würden die Linien hinter ihren Rücken verlaufen und auf den Fußboden treffen. Selbst mit wenig Fantasie erkannte man so etwas wie ein kleines Zelt. Er murmelte etwas und plötzlich schossen aus den Enden bronzefarbene Strahlen, an denen sich das Sonnenlicht brach und ein ungewöhnliches Spektrum hervorrief.

Snape war wie vor den Kopf geschlagen. Seit wann gab es so etwas? Den Zauberstab aus der Hand zu geben war schon ungewöhnlich genug, aber dass ein anderer damit auch noch zauberte? Normalerweise waren sie doch geeicht. Kaum hatte er das Wort normalerweise gedacht, wurde ihm wieder bewusst, dass weder das Gesehene noch Australier für sein Verständnis normal waren.

"Vor Kunapipi verkünde ich feierlich, dass Aniram und Joaquin von heute an Pendants sind. Schwört, dass ihr immer füreinander da sein werdet. In Zeiten der Freude sollt ihr dem anderen die Hälfte davon abgeben. In Zeiten des Schmerzes ist der andere bereit, die Hälfte davon auf sich zu nehmen."

"Ich schwöre es", Aniram als erwähltes Pendant musste den Anfang machen und sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte.

"Ich schwöre es."

Die tiefe, sonore Stimme ihres Gegenstücks erklang.

"Schlangen und Ameisen mögen diese Verbindung segnen. Legt eure Arme aneinander."

Aniram fasste Joaquins linken Arm und umgedreht, so dass die magischen Schnittstellen aufeinander lagen, die jetzt begonnen hatten, stärker zu bluten.

Mikele drehte die Zauberstäbe so, dass die Spitzen nach unten deuteten. Aniram konnte nur ansatzweise erahnen, wie viel Kraft und Konzentration es ihn kostete, den Winkel exakt beizubehalten.

Das stilisierte bronzefarbene Zelt ragte nun über beiden wie ein Trichter auf und die Schamanen der beiden Clans hielten ihre Dolche hinein. In diesem Augenblick begann der Trichter zu rotieren, verschwand und jagte schließlich als Strahl zwischen ihre Arme.

Aniram machte sich auf einen unsäglichen Schmerz gefasst. Der kam auch. Es kostete sie einige Mühe, nicht zu schreien. Das war schwierig, wenn man das Gefühl hatte, als würden die Wunden mit flüssigem Erz ausgegossen und verätzt. Es roch… merkwürdig. Aber nicht Ekel erregend. Sie kämpfte ihren Instinkt nieder und versuchte sich vorzustellen, dass die erhitzten Wunden von kühlendem Wasser umschmeichelt wurden. Mit dieser Illusion entfloh sie der Wirklichkeit.

Ein Blick auf ihre Arme belehrte sie eines Besseren, doch in ihrer Vorstellung floss dort immer noch Wasser. Dort, wo sich die Bronze träge entlang schlängelte und sie für immer verband. Als die Schlange an den Handgelenken ankam, waren die Arme unlösbar voneinander verbunden.

Mikele sagte nur: "Teilt."

Seit Jahrhunderten war der Modus dieser Zeremonie bekannt, die so selten stattfand. Aniram wusste nun auch, warum. Er hatte es ihr erzählt. Das Wissen, zu einer angesehenen Minorität zu gehören, ließ sie beinahe euphorisch werden. So kam es auch, dass sie trotz des immer noch vorherrschenden Schmerzes eifrige, springlebendige Freude durchflutete. Eine Freude, die als Rinnsal irgendwo in ihrem Innern begonnen hatte zu sprudeln und nun mit brachialer Naturgewalt ihren Weg nach draußen suchte.

Sie schaute Joaquin an, der lächelte. "Die Hälfte, Aniram, von allem."

"Die Hälfte, Joaquin."

Die Hälfte der Freude, die Hälfte des Schmerzes.

Urplötzlich schoss aus ihren Armen eine silbrigweiße Wand, die sich schnell ausweitete und beide umschloss. Sie war so dicht, dass man kaum durchschauen konnte.

Snape, der das Überstülpen einer Glocke erwartet hatte, wunderte sich. Scheinbar sah das Ding, wenn zwei Leute etwas teilten, immer anders aus. Allerdings konnte er nur von Vermutungen ausgehen. Denn bis jetzt hatte er nur zwei "Dinger" gesehen. Wie sehr jedoch seine Überlegungen zutrafen, registrierte er am Raunen der Menge. Also war ein solches Gebilde doch nicht alltäglich. Sicherlich waren einige - wenigstens ein paar - unter den Anwesenden, die Zeuge einer solchen Zeremonie geworden waren.

Aniram wunderte sich über das Raunen. Geräusche bei noch nicht abgeschlossener Zeremonie waren sehr ungewöhnlich und sie fragte sich, weshalb unter den Anwesenden eine solche Disziplinlosigkeit herrschte.

Dann sah sie es selbst. Die sie umschließende Hülle wurde keine Glocke, keine Blase, hing nicht einfach bewegungslos in der Luft wie ein überdimensionaler Regenschirm und wurde auch nicht durchlässiger. Sie setzte sich träge in Bewegung und legte schnell an Geschwindigkeit zu. Aus der Hülle wurde ein Wirbel, der um beide herum Schlieren bildete und an Höhe zunahm. Bildlich gesprochen knieten Aniram und Joaquin im Auge eines Hurrikans.

Während dieser Sturm an Plastizität, Wucht und trotzdem Eleganz zunahm, verspürte sie ein Nachlassen des Schmerzes und wurde zeitgleich von neuem überflutet, der ihren eigenen um Längen schlug. Etwas von ihrer perlenden Freude verließ sie und diese Lücke wurde ersetzt von Stolz, Achtung, Respekt und - Freude.

Als das vorbei war, hörte sie in ihren Gedanken: ‚Teile mit mir. Teile Frankreich.'

Mit großen Augen schaute sie Joaquin an. Ihre Arme lösten sich noch nicht voneinander, also fehlte noch das ultimative Offenlegen, die fünfzigprozentige Abgabe allen Kummers und Schmerzes, aller Angst und Demütigung, jeglicher Scham. Nie mehr allein diese Bürde tragen. Sie schluckte, nickte und öffnete sich.

Dies war etwas vollkommen anderes als das Erzählen. Hatte sie dort schon gedacht, alles von sich preiszugeben, fühlte sie sich jetzt wie ohne Haut. Sie teilte alles - und fühlte sich anschließend tonnenweise erleichtert.

Sie sank nach hinten und setzte sich auf ihre Fersen, ohne darüber nachzudenken, ob sie ihren Arm wieder bewegen konnte. Doch sie waren nicht mehr verbunden. Der Wirbel war ebenfalls verschwunden. Ihre Augen glitten über alle Versammelten, fixierten Joaquin und anschließend Mikele. War ihr Avatar so einzigartig, dass es die Versammelten zu einem Raunen hingerissen hatte?

Mikele bedeutete ihnen, sich zu erheben. Sein Blick war unergründlich. So groß, wie er auch war, so wenige Worte verlor er darüber.

"Eine dermaßen kraftvolle Manifestation habe ich in meinen vierhundert Jahren noch nicht gesehen. Nun sorgt dafür, eure gemeinsame Erinnerung zu versiegeln. Sie gehört euch."

Ein Mann und eine Frau brachten einen Umhang und breiteten ihn vor dem Trio in der Mitte mit der Innenseite nach oben aus.

Aniram griff nach Joaquins Zauberstab und er nach ihrem.

"Für immer?", fragte sie leise.

Die Antwort kam genauso leise. "Ja, für immer. Sollte ich jemals nicht bei dir sein, was ich nicht hoffe, dann ist es an dir, eine Person zu finden, die deines Vertrauens würdig ist und bei der du eine Affinität feststellst. Für die ER", er hob den Zauberstab an, "sich entscheidet. Erst dann ist es an dir, die Versieglung aufzubrechen. Aber sei vorsichtig. Nicht jeder, dem du Hilfe anbietest, wird sie annehmen wollen."

War er überhaupt noch in der Lage, blasser zu werden? Emotionslos zu bleiben? Sich mit nichts anderem zu beschäftigen und wirklich im Selbstmitleid zu baden, wie sie ihm vorgeworfen hatte? Am ganzen Körper hatte er Gänsehaut. Denn spätestens nach diesen Worten begriff Snape die volle Tragweite dessen, was sie ihm nicht nur gezeigt, sondern anvertraut hatte. Gegen seinen Willen überfiel ihn abgrundtiefe Scham.

"Bereit?", fragte Joaquin. Sie nickte.

Diese Zauberstabtauscherei war das Merkwürdigste am gesamten Szenario. Sie waren auf den Benutzer geeicht und niemanden sonst. Doch scheinbar nahm in Australien diese Rolle der Umhang ein, ohne den nichts und niemand lief. Bei Merlin, wusste er überhaupt ansatzweise etwas über dieses Volk? Erst nahm dieser lange Kerl beide in seine Hände und jetzt tauschten sie auch noch untereinander, um…

"Arunya deslatu klianta tashikale!"

Kein Wunder, absolut kein Wunder, dass solche Sprüche mit jedem europäischen Stab versagten. Nicht nur mit dem Stab, sondern auch der Zauberer verspürte sicherlich keine Lust, sich einen Knoten in die Zunge zu machen und nebenbei noch den Kehlkopf zu brechen.

Beide richteten ihre Zauberstäbe auf den Umhang und was vormals ein simpler Umhang gewesen war, veränderte sich. Er bauschte sich auf und erweckte im Endzustand den Eindruck, als würde er eine Kugel umhüllen. Sah er vormals unschuldig sandfarben aus, wurde der Stoff jetzt von einem regelrechten Konglomerat roter Linien durchzogen. Zum Schluss war die "Kugel" ein einziges dichtes Netz.

Die Zeitlinie mit allen Zwischenstopps, die Aniram eingelegt hatte, erglühte im Gegensatz zu den anderen Linien blau. Giftig blau. Wie zähfließende Lava nach einem Vulkanausbruch wälzte sie sich durch das Gebiet.

Keine Strahlen verließen die Zauberstäbe, dafür war ein unterschwelliges Brummen zu hören.

Die blaue Linie erglühte, wechselte kurzfristig in ein ungesundes, wucherndes Orange, um sofort violett zu werden. Dieses wurde dunkler und dunkler, bis es sich der Farbe Schwarz näherte. Schlagartig wurde das Schwarz durchlässig und anschließend nicht mehr sichtbar.

Die Linie war versiegelt. Für immer.

Unsichtbar. Für immer.

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"Ist Ihre Frage, wie ich da wieder herausgekommen bin und was mich am Leben erhalten hat, beantwortet?"

Resolut schnipste Aniram die Projektion aus der Luft.

Snape vergaß zu atmen. Zu sehr hatte er sich in das Geschehen vor ihm vertieft, um zu bemerkten, dass die Vergangenheit zu Ende war und sie wirklich wieder zu ihm sprach. Nicht nur eine Frage geisterte ihm im Kopf herum.

Aber die wichtigste, die ihm auf den Lippen brannte, konnte er nach gebührlichem Ringen nach Luft endlich stellen. Er wusste, es war unsinnig, aber ihn befiel nagende Eifersucht. Auf...

"Wer ist Joaquin?"

Er schwor sich, Aniram so lange nicht gehen zu lassen, bis er eine Antwort hatte. Seit sie hier hereingeplatzt war und zum ersten Mal draußen seine Hand gehalten hatte, mit genau diesen Worten, als sie ihn für jemand anderen hielt, seitdem beschäftigte ihn dieser Kerl. Nun hatte er ihn zum ersten Mal gesehen, was die Grenzen seiner Eifersucht zu seinem Leidwesen ausdehnte.

Geduldig harrte er einer Antwort und zuckte zusammen, als er ihren spöttischen Tonfall hörte.

"So träge heute, Professor? Wenn ich vorstellen darf", sie wischte erneut mit dem Zauberstab durch die Luft.

"Professor Joaquin Okuna, stellvertretender Schulleiter und Lehrer für Zaubertränke und Magnetfeldforschung. Ausgebildeter Heiler und Ehrenschamane des Ameisenclans. Stolzer Vater von sieben Kindern. Mein Lebensretter, mein Vertrauter, mein Vater vor meinem Vater, mein zweites Ich, mein Gegenstück. Und mehr als das. Er hat mich nicht nur ins Leben zurückgeholt, sondern zu dem gemacht, was ich heute bin."

Ihr Zauberstab wischte wieder durch die Luft.

"Sie sehen vor sich das Resultat seiner fast zweijährigen, mühevollen Kleinarbeit und seine Begeisterung würde sich in sehr engen Grenzen halten, sollte er jemals sehen oder hören, dass aus mir ein im Staub kriechendes Individuum geworden ist. Nicht, nachdem ich mehrfach durch diese Hölle gegangen bin."

Er wusste, was sie damit meinte, er hatte sie gesehen. Schon holte er Luft und wollte noch eine Frage zu diesem riesigen Kerl loswerden, der eine scheinbar wichtige Position einzunehmen schien. Ansonsten hätte er wohl kaum die Zeremonie geleitet. Wiederum nahm sie ihm die Worte aus dem Mund.

"Ich weiß nicht, ob sie raten oder vermuten, aber das war Mikele Adomoo-Dongkada. Unser smarter Direktor ist ein Halbtitan, deshalb hat er auch die meisten Pendants. Für einen normalen Menschen wäre diese Anzahl zuviel, er würde es nicht verkraften und zusammenbrechen. Mikele könnte so gut wie jedes Fach unterrichten, nur fehlt ihm die Zeit dafür. Denn in erster Linie ist er ein hervorragender Psychologe und wie Sie sich überzeugen konnten, brauchen wir so etwas mehr als alles andere."

Severus war sprachlos. Dieser Mann, auf den er seit Schuljahresbeginn neidisch war, der nur lax Okuna hieß, was Vor- und Nachname gleichermaßen sein konnte, und bei dem die Schüler Schlange standen, das war ihr Zaubertranklehrer? In ihren späteren Unterhaltungen war nur noch die Rede von Joaquin gewesen, weshalb ihn auch der Gedanke an diesen ominösen Mann nicht losließ. Ständig hatte er hin und her und doch wieder zurück überlegt, wer sich hinter dieser Existenz verbergen konnte.

Dann hatte er gesehen, wie er sich kurz vor der Prügelei um sie gekümmert hatte, so warmherzig - eine Eigenschaft, die ihm selbst vollkommen fehlte und die ihm auch nie zuteil wurde, die er sogar als nervend empfand, kam sie aus Richtung Albus - und väterlich, dass ihn für eine kurze Zeit die Vermutung beschlich, es wäre ihr Vater. Aber wer sprach seinen Vater mit dem Vornamen an? Seine Gedanken drehten sich wie ein Karussell.

Nein, darauf wäre er nie gekommen, dass Joaquin gleich Okuna. Nie. Mit beiden Namen hatte sie hantiert, als wären es zwei eigenständige Personen.

"Na?"

Seine Gedanken wurden von diesem kurzen Wort aufgescheucht. Das Gesehene musste er erst verarbeiten. Bevor er weiter sprach - weiter sprechen konnte - musste er dieser Informationsflut Herr werden. Wenigstens ansatzweise musste er sich alles ins Gedächtnis zurückrufen. Beinahe glaubte er nicht an ein Gelingen. Dazu war alles viel zu fremdartig und zu komplex. Im Augenblick war er derjenige, dem ein gehöriger Kulturschock verpasst worden war.

Zu viel war auf ihn eingestürmt in diesen paar Minuten. Ja, zu seinem Entsetzen waren nur Minuten vergangen. Sein Blick auf die Uhr täuschte ihn nicht. Dieser Zauberstab war wohl in der Lage, Geschehnisse im Zeitraffer vorzuführen, zu veranschaulichen oder wie man das sonst nennen mochte. Dennoch blieb man mit dem Gefühl zurück, es wären Stunden vergangen. Noch immer konnte er es nicht fassen.

Seinen Blick hielt er immer noch starr geradeaus gerichtet, obwohl dort nichts mehr zu sehen war. Keine zaghaften Schritte, kein de Sade, kein Joaquin, kein Ayers Rock, keine Auseinandersetzung mit dem Erlebten, keine Zeremonie, die so fremd war und dennoch in der westlichen Hemisphäre ein Äquivalent hatte. Es stellte sich nur die Frage, ob diese Zeremonie dieselben Konsequenzen wie ein Unbrechbarer Schwur nach sich zog. Aber nach dem, was er gesehen hatte, glaubte er diese Frage mit einem Nein beantworten zu können. Dort ging es um etwas vollkommen anderes. Nicht "an die Stelle treten von", sondern "halbe/halbe" - wenn er es sehr vereinfachte.

Gewaltsam riss er sich los und schaute auf seinen Schreibtisch. Der Kaffee war gewiss schon kalt. Trotzdem griff er nach der Tasse und stürzte sie wie ein Verdurstender hinunter.

"Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Die beiden Typen, die den Umhang gebracht haben, sind meine Eltern."

Inwiefern er diese Information als nützlich oder sinnlos einstufte, überließ sie ganz ihm selbst.

Doch dieser kurze Satz genügte, um ihn erneut aus seinen Grübeleien zu reißen. Denn er beschäftigte sich mit einem ganz anderen Fakt. Ihm fiel auf, dass es einen gigantischen Unterschied zwischen der Aufnahme von Wort und Bild gab.

Beim Zuhören war die Beflügelung seiner Fantasie für ihn nicht nur neu gewesen, sondern er fand diese Erfahrung äußerst faszinierend und interessant. Bis zu ihren wahnwitzig fesselnden Vorträgen hatte er nicht einmal gewusst, dass er über Fantasie verfügte. Doch es war so. Es fiel nicht schwer, sich dank ihrer anschaulichen Erklärung unter Traumzeit genau das vorzustellen, das ein Australier darüber wusste, der damit aufgewachsen war.

Als absolut konträr empfand er die optische Wahrnehmung. Vor allem dann, wenn sie in einem solch atemberaubenden Tempo an ihm vorbei flog. Es machte ihm noch zu schaffen, dass er nicht nur etwas gesehen hatte, sondern gleichermaßen die Gedanken und Gefühle von zwei Personen hatte aufnehmen müssen. Dies drohte seine geradlinigen Gedankengänge zu verknoten und die Synapsen zum Glühen zu bringen. Sollte er wirklich hier an seinem eigenen Schreibtisch einem Teil seiner Gehirnkapazität verlustig gehen, weil er nicht begriff? Weil es einmal ausnahmsweise zu schnell ging? Weil im Normalfall ER die Geschwindigkeit vorgab?

Es geschah in ihrer Gegenwart wirklich nicht selten, dass es ihm das Wort verschlug. Diesmal konnte er sich zu nichts aufraffen. Jedes Statement wäre absolut fehl am Platz. Er musste sich erst näher damit beschäftigen. Beinahe hilflos zuckte er mit den Schultern.

"Wieso ich?" Das musste noch heraus.

Wie zur Antwort meldete sich das Mal erneut, diesmal intensiver. Verdammt, er hatte keinerlei Zeit für lange Diskussionen und blieb trotzdem wie festgefroren auf seinem Stuhl sitzen.

Aniram schüttelte in vollkommenen Unglauben den Kopf, bevor sie antwortete.

"Wieso? Kurz gesagt: weil Sie leiden und Hilfe benötigen, auch wenn Sie das leugnen bis zum Umfallen. Ich sehe aus, als stünde ich kurz vor der Rente und ich brauche Hilfe. Das Zeichen, dass uns irgendetwas verbindet, ist nicht zu übersehen und darf auch nicht unterschätzt werden. Es brüllt mich förmlich an."

Wortlos hielt sie ihm ihren Zauberstab unter seine Nase.

"Aber all das Offensichtliche scheint sich vor Ihnen zu teilen, um Sie herum zu fließen und sich hinter Ihrem Rücken wieder zu vereinigen. Mir fällt es ausgesprochen schwer, einfach so vor mich hinzuleben. Ich kenne das nicht. Wir teilen alles. Schmerz nur mit einem bestimmten Menschen, wie Sie inzwischen wissen. Aber es spielt überhaupt keine Rolle, wer was teilt. Vielleicht können und wissen wir deshalb so vieles oder sogar beinahe alles, weil niemand eine Information für sich behält? Wenn Sie so wollen, haben wir diesbezüglich ein äußerst gut funktionierendes Netz. Wir teilen, wir tauschen, wir informieren. Und dabei ist das beileibe kein Jahrmarktstreiben, das wir veranstalten."

Aniram senkte kurz den Kopf und sprach mit dem Fußboden.

"Normalerweise sollten gewisse zwischenmenschliche Beziehungen universell sein. Hier auf Hogwarts jedoch vermisse ich eine, die wir über alles stellen. Ich rede von Vertrauen."

Ihr Kopf kam wieder nach oben und ihre Miene war sehr ernst.

"Vielleicht dämmert Ihnen eines Tages, dass es ohne das nicht geht. Denn wer nicht in der Lage ist zu vertrauen, ist so gut wie tot. Der ist Kanonenfutter, der steht allein mit dem Rücken zur Wand. Es sei denn, er hat jemanden, der ihn auffängt. Es sind keine starken Arme dazu notwendig, DIESE Art von Kraft liegt hier und hier." Sie deutete auf ihren Kopf und ihr Herz.


"Ich glaube, Sie haben genug gesehen, um das entsprechend einschätzen und werten zu können. Treffen Sie Ihre Entscheidung. Gute Nacht, Professor."

Rabiat wandte sie sich um und ging. Ging einfach weg in dem Wissen, dass sie ihn mit einem nicht zu bewältigenden Informationshaufen zurückließ. Ohne Hilfe konnte er ihn nicht entknoten. Sie ging weg mit dem Wissen, dass ihre letzten Worte ein Ultimatum darstellten.

Wollte sie jedoch leben, weiterleben, überleben, dann musste sie ihn mit der Nase in diese sehr bittere Tinktur stoßen. Bequemlichkeit war süß und erfrischend, das Gegenteil davon war in der Lage, einen Menschen von innen heraus zu verätzen. Dieses Gefühl war ihr inzwischen nur allzu bekannt.

Aniram dachte nicht im Traum daran aufzugeben. Noch nicht. Sie hatte es einmal geschafft und diese Hölle, die sie ihm soeben präsentiert hatte, war um einiges schwieriger zu bewältigen gewesen. Hinzu kam, dass das zwei Jahre her war und sie inzwischen über mehr Erfahrung diesbezüglich verfügte. Selbstverständlich war es nicht bei einem Mal geblieben. Auch Joaquin hatte sie schon helfen können. Nicht müssen, sondern können und vor allem wollen. Das war ihre heilige Pflicht als Pendant.

Andererseits - wollte er denn Hilfe? Joaquins Worte klangen in ihrem Kopf und Bitterkeit schlich sich in ihr Herz, als sie registrierte, dass sie vor genau einem solchen Phänomen stand. Lass mich in Ruhe, ich schaffe das allein, ich schaffe alles allein. Schon immer. In Klammern - obwohl es mich fertig macht.

Er sah ihr sprachlos hinterher. Sie ließ ihn in einem nie gekannten Zustand zurück. Wahrscheinlich fühlten sich Schüler nach Verkündung einer Strafarbeit so, er wusste es nicht. Es ihm auch egal. Er war Snape. Das Gefühl, dass ganze Termitenschwärme seine Kopfhaut für eine Völkerwanderung auserkoren hatten, wurde immer stärker. Und auch unangenehmer.

Inzwischen kannte er sie gut genug, um zu wissen, wie sein Professorentitel aus ihrem Mund zu werten war. Oh nein, keinesfalls respektvoll. So nannte sie ihn nur, wenn sie nichts weiter als Verachtung übrig hatte. Zu seinem Erstaunen versetzte ihm das einen Stich. Eigentlich müsste es ihn kalt lassen.

Sie hatte ihm mit diesen Worten bewiesen, dass sie sehr viel reifer war als der Rest der weiblichen Hogwarts-Bewohner. Quietschend und kreischend liefen sie durch die Gänge und wurden sie ihrer männlichen Pendants ansichtig, quietschten und kreischten sie noch mehr.

Da war es wieder, das Wort. Pendant.

Sie nötigte ihm Respekt ab, da konnte er sich sträuben wie er wollte. Im Grunde genommen war sie kein Mädchen mehr, wollte man dieses Wort im klassischen Sinne definieren. Nicht, wenn man berücksichtigte, was sie in den letzten Wochen an Arbeit und Wissen offenbart hatte. Erst recht nicht, wenn man danach ging, was sie ihm gezeigt hatte. Sie war so jung und schon so vom Leben geprägt. Nein, es mochte ein sechzehnjähriger Körper sein, aber definitiv kein sechzehnjähriger Geist. Beinahe traurig blickte er zur Tür, die sich hinter ihr geschlossen hatte.

‚Warum bist du nicht älter, Mädchen? Oder ich jünger?'

Abrupt schoss sein Kopf in eine andere Richtung, weil er sich mit solchen Gedanken beschäftigte. War das wirklich noch er selbst, der über Sehnsüchte und Verlangen sinnierte? Ja, nicht Vertrauen, sondern Verlangen geisterte durch seinen Kopf. Das war so abwegig, dass er nur noch über sich den Kopf schütteln konnte. Dabei war er sich durchaus der Tatsache bewusst, dass er an dieser Stelle lieber die Vernunft regieren lassen sollte.

Sie hatte sein Leben, das bis jetzt nur ein Dasein gewesen war, völlig umgekrempelt. Sie hatte etwas hineingebracht, das nicht dort sein sollte. Und das er verdammt noch eins nicht gebrauchen konnte. Erst recht nicht jetzt.

Dennoch saß er für eine kleine Weile reglos auf seinem Stuhl. Zu dem Wissen, wie viel er zu wiederholen und aufzuarbeiten hatte, gesellte sich das Wissen, dass er gerade von einer sechzehnjährigen Schülerin eine Lektion erhalten hatte, die nicht nur ihn selbst, sondern auch seine nächste Umgebung zu Eis werden ließ. Er hätte nicht einmal konkret sagen können, ob die Kälte von außen oder innen kam.



Kapitel 32 - Doppeltes Risiko


Albus Dumbledore, der seine freiwillige Flucht vom letzten Abend nicht vergessen hatte, setzte zur Offensive an. Anders sah er keine Möglichkeit, an Severus heranzukommen. Er hatte schon so einiges mit diesem Mann ausgestanden und scheute sich auch nicht, die Brust hinzuhalten.

Der gestrige Abend jedoch war ihm als der falsche Zeitpunkt erschienen. Natürlich war ihm bewusst, dass er noch nie, und damit meinte er auch noch nie, den Kerker auf eine solche Art und Weise verlassen hatte. Severus hatte dermaßen kurz angebunden und schroff reagiert, dass ihm eine Einschätzung seines Zustandes nicht schwer gefallen war. In einem solchen Zustand konnte er unmöglich mit ihm reden.

Nein, seine eigene Auffassung von Ethik und Menschlichkeit verbot ihm regelrecht, eine Berichterstattung abzuverlangen. Dies lag weit unter seine Würde und die Gefahr, dass Severus noch mehr verletzt wurde, wuchs ins Gigantische.

Dennoch war er reichlich fassungslos gewesen, als er die Tür geschlossen hatte. Viel zu spät wurde ihm bewusst, dass er immer noch an derselben Stelle verharrte, als wäre er Kerkergangsinventar. Mit einem Gesichtsausdruck, den man an ihm höchstwahrscheinlich noch nie wahrgenommen hatte. So leicht war Albus Percival Wulfric Brian Dumbledore, eines der höchsten Tiere der Zauberergemeinschaft, nicht aus der Ruhe zu bringen.

Als ein unterschwelliges Raunen und Gackern um ihn herum einsetzte, taxierte er die Gemälde, die teils amüsiert wirkten, teils verächtlich die Nase rümpften.

Sein Gegenüber ergriff das Wort. "So ist es ihr am Anfang immer gegangen."

Mit einiger Verzögerung ging ihm auf, dass die Rede nur von Miss Hawkwing sein konnte. Er schob die Unterlippe nach vorn, wiegte den Kopf hin und her und entschloss sich, auf diesen kleinen Schreck doch lieber ein paar Schokofrösche zu verspeisen. Muggelquellen behaupteten, dass Schokoladenverzehr gut für die Nerven wäre. Auf dem Weg zu seinen Räumen befiel ihn ein leichtes Kichern und er dachte, dass Severus wohl besser daran tun würde, Schokolade statt Mango zu essen.

Natürlich war es ein sinnloses Unterfangen, seinen Zaubertrankmeister von dieser Art Genuss zu überzeugen. Dazu war er viel zu sehr auf die unerlässlichen Mineralien und Spurenelemente im Innern von Mangos fixiert. Aus dem Kichern war ein ausgewachsenes Grinsen geworden, als er endlich vor seiner Tür angekommen war.

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Nun stand er wieder vor der Kerkertür und überlegte, was ihn wohl diesmal erwarten würde. Schlimmer als gestern konnte es wohl kaum kommen.

Kurz entschlossen drückte er die Klinke herunter, trat ein und sah einen sehr bleichen Zaubertranklehrer am Tisch sitzen. Dieser verwandelte sich innerhalb kürzester Zeit von einer mumifizierten Leiche zur angriffslustigen Alraune.

Severus erwachte aus seiner Starre und sprang auf. Der Lord würde toben, wenn er es sich erdreistete, den Ruf noch länger zu ignorieren.

Kurz schaute er zur Tür, obwohl dieser Blick vollkommen überflüssig war. Er wusste, wer ihn um diese Tageszeit noch besuchte. Der ihn immer dann besuchte, wenn sie gegangen war.

"Keine Zeit, Albus, ich muss los."

Professor Dumbledore schnappte nach Luft. Severus machte damit seinem Gedanken, dass es schlimmer nicht kommen konnte, den Garaus. Eine weitere Erklärung außer diesem ‚ich muss los' benötigte er nicht, weil er wusste, wie der Satz weiterging.

Das kam wirklich aus heiterem Himmel und er bezweifelte stark, dass Severus die nötige Kraft und Konzentration aufbrachte, um Voldemort entsprechend gegenüber treten zu können. Es sei denn, es kam nicht aus heiterem Himmel und Severus hatte diese Information vor sich her geschoben, ohne sich die Mühe zu machen, darüber zu reden. Dieses Verhalten war sehr leichtsinnig.

"Seit wann denn schon?"

"Einige Tage", antwortete Severus kurz angebunden. "Praktisch, dass ich unterrichten muss, nicht wahr?"

Albus überhörte keinesfalls den sarkastischen Unterton. Darüber hinaus nahm er noch viel mehr wahr.

"Glaubst du, dass du ihm standhalten kannst? Du bist in einer fürchterlichen emotionalen Verfassung, mein Junge."

‚Mein Junge, das sagt nur Mikele zu Joaquin. Wieso schießt mir das jetzt in den Kopf? In meinem Kopf ist ohnehin genug Zeug, das mir suggeriert, den Ruf wirklich zu ignorieren.'

"Es ist keine Frage des Glaubens, sondern der Definition", fuhr er seinen Direktor wirsch an. "Bis jetzt bin ich jedes Mal wiedergekommen, oder? Egal wie. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest…", kurze ironische Pause, "ich muss zur Einsatzbesprechung."

Schon während dieser Worte kramte er den Portschlüssel hervor und ließ ihn in die Umhangtasche gleiten. Dann stand er hoch aufgerichtet vor seinem Direktor, der ihn vollkommen unverhofft Junge genannt hatte, mein Junge.

"Ich kann mir Fehltritte nicht leisten, Albus. Das weiß ich von uns beiden am besten", seine Stimme war zu einem leisen Fauchen geworden. Es war das Fauchen, mit dem er in der Regel Schüler unter Kontrolle brachte. Es war ebenfalls das Fauchen, das er leicht portioniert mit Öl bald benötigen würde.

"Ich hoffe, du weißt, was du tust."

Albus drehte sich um und ging - ohne weitere Frage, ohne Vorwurf, aber mit großer Sorge und genauso großem Entsetzen.

Selbstverständlich brannte ihm die Frage auf der Zunge, wieso Miss Hawkwing wieder im Kerker gewesen war. Er kannte niemanden, der sich nach einer solchen Offenbarung erneut in Severus' Nähe begeben würde. Scheinbar waren für sie Fehltritte und fadenscheinige Abwesenheitsbegründungen genauso verkehrt und falsch wie für Severus. Frontalangriff hieß wohl ihre Devise. Oder besser gesagt - eine ihrer Devisen.

Die beiden hatten mehr gemein, als es der äußere Eindruck vermittelte.

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Professor Snape verließ das Schloss, begab sich außer Reichweite der magischen Abschirmung und aktivierte den Portschlüssel. Er wusste nie, wo er landen würde. Der Lord, so lange er auch fort gewesen war, hatte seine eigene Auffassung von Geografie und holte sie selten zweimal an einen Platz.

Kälte, Feuchtigkeit und Moder schlugen ihm entgegen. Obwohl er sich zutraute, den Verbotenen Wald zu kennen, war dies doch eine Gegend, die ihm nicht bekannt vorkam.

Bevor er auch nur einen Fuß vor den anderen setzte, sorgte er dafür, seine unkontrollierten Emotionen, die ihn aus dem Hinterhalt überfallen und sich eingenistet hatten, in den Griff zu bekommen.

Albus hatte Recht, natürlich war das ein Risiko. Es war immer eines. Denn ausgerechnet diesmal wusste nicht einmal er selbst, inwiefern er sich unter Kontrolle hatte. Er konnte nur hoffen.

Seit Jahren bewegte er sich hart am Limit - am Limit dessen, was ein sterblicher Mensch aushalten konnte.

Er holte seinen Zauberstab hervor.

"Lumos!"

Mit unbewegter Miene setzte er einen Schritt vor den anderen und drang durch das Gebüsch. Es dürfte nicht mehr weit sein. Nicht mehr weit zum Lord und auch nicht mehr weit zum Rest. Wie zur Bestätigung hörte er schräg hinter sich ein leichtes Rascheln. Er drehte sich nicht um. Er war Snape. Snape, der weder hier noch dort Wert auf Konversation legte. Ausgenommen…

‚NEIN!'

Die Anzahl der leuchtenden Pünktchen nahm zu, je weiter er ging. Sie näherten sich von allen Seiten. Gespannt wartete er auf den Moment, an dem sein stummer Begleiter den Mund öffnete. Dass er es nicht tat, dafür bürgte sein Name.

"Schau an, Snape, du traust dich doch tatsächlich in die Nähe unseres Herrn", erklang es ölig und leise.

"Wenn der Dunkle Lord ruft, dann ist ein Erscheinen angemessen, meinst du nicht auch, Lucius?"

Arroganz und Schärfe hatte er in seine Stimme gelegt. Abrupt drehte er sich um und leuchtete in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Doch dort war nur eine Maske.

"Lass diese Scherze!" Ungehalten hielt der Angesprochene seine Hand vor den matten Strahl. "Der Lord wird nicht erfreut sein, dich in Zivil zu sehen. So wenig zugetan bist du ihm also, dass du es nicht für nötig erachtest, ihm in der einzig respektablen Kleidung gegenüberzutreten."

Snape lachte leise. Es klang wie immer. Eiskalt und mit einer gehörigen Portion Hinterhältigkeit. Es klang, wie es klingen sollte.

"Wenn du mir das Kunststück vorführst, durch Hogwarts in respektabler Kleidung zu laufen, dann nur zu. Meinst du ernsthaft, ich kann im Unterricht Umhang und Maske tragen? Dann bist du nicht viel heller als Draco, nur blonder."

Ein solcher Satz Malfoy gegenüber, ausgerechnet Malfoy, war sicher unangebracht. Immerhin beleidigte er damit dessen Sohn. In der augenblicklichen Situation erschien er ihm allerdings als geeignetes Mittel, um von sich und dem Sturm, der in seinem Inneren tobte, abzulenken.

Egal, ob er ihn beleidigte, egal, ob der Angesprochene sich über seine Wortwahl wunderte, wenigstens ansatzweise musste er an jemandem - und ihm lief nun einmal Malfoy zuerst über den Weg - seine übliche Tonlage üben, bevor er dem Lord gegenüber stand. Sehr zu seiner Zufriedenheit verstummte dieser kurz.

"Ich kann mir das nicht leisten, Lucius. Vergisst du, wer ich bin? Falls du je an meiner Gesinnung zweifelst", sein Schritt stockte kurz, als wollte er eine Warnung in seine nächsten Worte legen, "dann frag Draco."

Er konnte sich denken, dass Lucius Malfoy beim Lord nicht untätig geblieben war und vorgearbeitet hatte. Es lag in seiner Natur, eine große und fette Schleimspur zu hinterlassen, dass selbst eine Herde Zentauren unweigerlich darauf ausglitt.

Deshalb stellte er sich entsprechend darauf ein. Stellte sich auf Fragen, auf Freundlichkeit, natürlich falsche Freundlichkeit, auf Folter und auf Schmerzen ein. Er wusste, was kam und womit er in der Regel zu rechnen hatte. Grundsätzlich hatte er damit zu rechnen, aber da er es bereits zweimal versäumt hatte, zu einem Treffen zu erscheinen, mochte er tief, sehr tief in der Gunst des Lords gesunken sein.

Dieser wiederum hatte effiziente Methoden, sich der Treue seiner Anhängerschaft zu versichern. Eigentlich nur eine Methode. Folter, die er perfekt beherrschte. Natürlich beherrschte er genauso perfekt Legilimentik und manchmal fragte er sich, wer von ihnen beiden auf diesem Gebiet der größere Meister war. Offensichtlich war es dem Lord bis heute nicht gelungen, auch nur Fragmente seines Doppellebens ans Licht zu zerren.

Schweigend gingen sie weiter und näherten sich dem Zentrum. Malfoy wollte wohl nichts mehr einfallen. Severus war sich aber glasklar bewusst, dass das nur der Anfang war.

Malfoy hatte genug preisgegeben, um ihn wissen zu lassen, wo er stand. Den Rest würde der Lord erledigen. Er zwang sich zur Ruhe.

Als er in den Kreis trat, sah er nur Masken und plumpe Umhänge. Auch mit Masken wusste er, wer da war. Diese unförmigen Haufen namens Crabbe und Goyle, MacNair, Nott, Pettigrew...

Bevor er weiter durchzählen und eventuell herausfinden konnte, wer fehlte, erschien der Dunkle Lord in ihrer Mitte. Sehr zu seiner Überraschung mit einem unspektakulären Auftritt. Er war einfach da. Aber wie er aussah…

Wie alle anderen senkte er ergeben das Haupt. Weg von diesem großen schwarzen Umhang, dem langen weißen Gesicht, das nicht mehr menschlich wirkte, den roten Augen und den spindeldürren Fingern.

"Ich sehe, diesmal seid ihr vollzählig. Meine letzte Demonstration hat wohl Wirkung gezeigt und euch endgültig überzeugt."

Unterschwellig nahm Snape die Angst wahr, die einige beherrschte und beinahe greifbar war.

"Nun, Severus, mein lieber Giftmischer, hat es dir deine Zeit auch ermöglicht, mich aufzusuchen? Ich habe mir schon die Frage gestellt, wann du kommen würdest. Lucius vertrat die felsenfeste Überzeugung, dass du auch heute wieder fernbleiben würdest. Hier laufen schon Wetten, mein Teuerster."

Diese Stimme war nur ein Säuseln. Normalerweise sorgte es dafür, den Angesprochenen in Panik ausbrechen zu lassen. Aber Severus war nicht jeder andere.

"Mein Lord", begann er, "Ihr wisst, ich bin Euer ergebener Diener, gleich, was andere behaupten. Meine Pflicht als Lehrer auf Hogwarts hat mich leider daran gehindert, dem Ruf zu folgen, das ist wahr. Vielleicht", er machte eine bedeutungsvolle Pause und spielte volles Risiko, "solltet Ihr die Treffen auf die frühen Morgenstunden verlegen. Denn um diese Zeit bin ich mit Unterrichten, Korrigieren und Strafarbeiten beaufsichtigen fertig. Endlich. Verzeiht mein Fernbleiben, aber meiner Ergebenheit seid Ihr nach wie vor sicher."

Bei diesen Worten war er stehen geblieben. Es waren Worte, die jeden anderen hätten zu Boden sinken lassen. Nicht jedoch Snape. Wäre er auf die Knie gegangen und hätte auf diese Weise Respekt gezeigt, dann hätte der Lord gewusst, dass Lug und Trug dahinter steckten. Indem er sich verhielt wie immer, ging er einer sofortigen Bestrafung aus dem Weg.

Und so war es auch. Seine Worte, die ansonsten mit einem Avada Kedavra quittiert worden wären, weil er sich anmaßte, dem Lord Zeiten für die Treffen zu unterbreiten, wurden von diesem mit Heiterkeit aufgenommen. Obwohl das Lachen mit einer Falsettstimme alles andere als angenehm klang und zum mitmachen anregte, animierte es den Rest dennoch, einfach einzufallen. Malfoy eingeschlossen, der wohl mit weitaus schmerzhafteren Heiterkeitsausbrüchen gerechnet hatte.

Snapes Mundwinkel zuckte, er schaute dem Lord ins Gesicht und deutete eine kurze Verbeugung an.

"Euer Diener, mein Lord."

Schlagartig hörte dessen Lachen auf. Seine Hand fuhr durch die Luft und raubte jedem anderen auch den Atem. Stille senkte sich wieder über die Lichtung, als wäre sie nie unterbrochen gewesen.

Lauernd begann er mit der Befragung der Person, die in Hogwarts präsent war.

"Und - was sagt man so auf Hogwarts?"

"Man munkelt, mein Herr. Man mutmaßt und man hat Angst. Niemand schenkt den Worten eines Jungen Glauben. Der ewige Trottel Dumbledore weiß selbst nicht, woran er ist und demzufolge ist auch seine Geheimgesellschaft handlungsunfähig. Noch befindet man sich in Starre und Unsicherheit."

Voldemort legte den Kopf schief.

"Noch?" Unglauben lag in der Stimme und er spielte mit seinem Zauberstab. "Ich glaube, es wird Zeit, dass wir deutlicher werden. Einige Muggel zu beseitigen scheint diesen Menschenfreund nicht aufzurütteln, also müssen wir ein Zeichen in seiner Nähe setzen."

Bevor Snape auch nur mit der Wimper zucken konnte, hatte der Lord den Zauberstab auf ihn gerichtet.

"Crucio!"

Von einem roten Blitz gefällt riss es Snape von den Beinen und er wand sich am Boden. Noch schrie er nicht, aber er wusste, sein Meister würde erst von ihm ablassen, wenn er es tat. Doch jetzt schon zu schreien - das wäre ebenfalls nicht er. Das würde jeglichen ausgestandenen Torturen widersprechen. Der Lord kannte ihn als jemanden, der seine Zeit brauchte, bevor er schrie. Beißende Ironie begleitete diesen Gedanken. Noch war er in der Lage, klar zu denken. Während sein Körper zuckte und Voldemort nicht im Traum daran dachte, diesen Fluch von ihm zu nehmen, biss er sich die Lippen blutig und wurde nur von einem beherrscht - nicht öffnen. Stark bleiben, geschlossen bleiben.

Schlagartig erschlaffte er.

"So unkonzentriert, Severus? Du bist doch sonst ein so gelehriger Schüler."

Der Fluch wurde erneuert. Unsägliche Schmerzen brannten an und in seinem Körper und er hatte das Gefühl, als würde er auseinander gerissen. Minutenlang - für sein eigenes Empfinden stundenlang - hielt es diesmal an. Jemand versuchte mit Macht in seinen Kopf einzudringen. Es war grässlich. Es war schwierig, dagegen anzukämpfen. Nur mühsam hielt er die Barriere aufrecht, die vorgaukelte, mit welcher Intensität er an den befohlenen Tränken arbeitete. Er schwitzte im Schweiße seines Angesichts - sowohl hier auf dem Boden als auch bei der Arbeit in seinen streng geheimen Laboren, von deren Existenz niemand wusste.

Als diesmal der Fluch von ihm genommen wurde, keuchte er und stöhnte auf. Eine aus unmittelbarer Nähe kommende sadistische Freude walzte ihn wie eine große, schwere Wand nieder. Jeder freute sich - froh, stehen bleiben zu können.

"Nun, ein letztes Mal, vielleicht bist du dann gesprächiger. Crucio!"

Mit lässiger Eleganz tippte er seinen Zauberstab an. Beinahe war es unvorstellbar, dass eine solche Bewegung einen dermaßen großen Schmerz verursachen konnte.

Snape schrie. Diesmal ging es nicht anders. Er war schon einige Cruciatus-Flüche gewohnt, aber diese hier waren von einer Kraft, die nicht aus dieser Welt kam. Entsetzen packte ihn und er hoffte, dass das Entsetzen zusammen mit seinem Schrei die Gedanken an jemand anderen übertünchten.

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Im Mädchenschlafsaal des Ravenclaw-Turms schreckte Aniram aus dem Schlaf. Etwas oder jemand fuhr wie Hilfe suchend in ihren Kopf. Sie handelte aus reinem Reflex, als sie ihre Barrieren hochfuhr. Nicht in den Kopf, hämmerte es dumpf.

Ruckartig setzte sie sich hoch, um sofort wieder ins Kissen geworfen zu werden. Sie starrte nach oben ins Dunkel und begann zu zittern. Ihr Körper war schweißnass und er schmerzte. Hin und her wurde sie gebeutelt, es zwickte und riss irgendwo unablässig und der Schmerz wollte einfach kein Ende nehmen.

Ein glasklares Bild entstand vor ihren Augen. Schwarze Kutten. Dunkle Masken. Das… Jemand in der Mitte, das mit Ekel erregender Grazie den Zauberstab hielt. Severus am Boden, der zuckte und sich wand wie sie selbst. Severus! Also doch! Welches gefährliche Spiel spielte er? Dumbledore ein Trottel? Streng geheime Labore?

Plötzlich hörte alles auf und sie sackte erschöpft zusammen, um wie ohnmächtig weiterzuschlafen.

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Bevor Snape von einer Ohnmacht erlöst worden war, hatte er die Manifestation einer undurchdringlichen Mauer in seinem Kopf verspürt.

Voldemort warf noch einen letzten Blick auf den geschundenen Körper, bevor er sich an die anderen wandte.

"Mein lieber Lucius, es scheint, als hättest du dich getäuscht. Ich rate dir dringend", er bewegte sich schwebend auf ihn zu, "dich das nächste Mal gründlicher zu informieren. Wer weiß, vielleicht bestrafe ich die falschen Leute? Severus jedoch", seine Augen funkelten, "ist über jeden Verdacht erhaben. Wage es nie wieder, an seiner Loyalität zu zweifeln. Nicht mir gegenüber. Solltest du anderen gegenüber zweifeln, werde ich es erfahren."

Mit einem grausamen Lachen verschwand er, indem er sich einmal um sich selbst drehte.

Malfoy warf einen verächtlichen Blick auf Snape, der bewegungslos am Boden lag. Er konnte es nicht fassen, dass seine Information so falsch gewesen war. Mit Draco musste er dringend reden. Dieser dumme Junge ritt ihn ansonsten in Schwierigkeiten, die er weder begrüßte noch gebrauchen konnte und machte ihm seine weitere Karriere an der Seite des Lords unmöglich.

"Verschwinden wir, er wird wohl noch wissen, wo Hogwarts liegt."

Mit einer raschen Abfolge etlicher Plopps leerte sich die Lichtung.

Snape war reglos liegen geblieben, als er spürte, dass das Leben in seinen Körper zurückkehrte. Es war besser, dass die anderen ihn noch für ohnmächtig hielten. Dann bot er ihnen wenigstens kein wehrloses Opfer, an dem sie ihre Zauberstäbe ausprobieren konnten.

Malfoys Gedankenwelt war so präsent, dass sie ihn fast anschrie. Also doch Draco. Dieser Nichtsnutz. Hatte er wirklich geglaubt, seinem Hauslehrer eine Fallgrube schaufeln zu können, in die er blind hineinstolperte? Dann war der Sprechende Hut offensichtlich seniler als gedacht. Mit dieser Plumpheit gehörte eine solche Person nicht nach Slytherin.

Er nahm sich vor, bei der nächsten Strafarbeit vor dem Namen Malfoy nicht Halt zu machen. Filch würde sich freuen, das Aristokratenbürschlein beaufsichtigen zu dürfen. Sollte er sich bei seinem Vater beschweren, so wusste Snape, dass er damit ins offene Messer lief. Denn Malfoy würde sich weder an ihm rächen noch diese Tatsache vor dem Lord erwähnen. Mucksmäuschenstill würde er in Zukunft sein.

Bevor er jedoch auch nur ansatzweise solche Gedanken hegen konnte, musste er erst einmal wieder nach Hogwarts. Zunächst horchte er tief in sich hinein, wie schwer er durch den starken Cruciatus geschädigt worden war. Es sah überhaupt nicht gut aus.

Vorsichtig rollte er sich auf die Seite und hielt schon zum ersten Mal inne. Unter großen Mühen schaffte er es auch noch, sich hochzustemmen. Dann schüttelte er den Kopf. Weshalb war er nicht auf den Gedanken gekommen, gleich im Liegen den Portschlüssel aus dem Umhang zu ziehen und zu aktivieren? Er schnaufte und zog ihn heraus.

Mit dem Gedanken an Hogwarts wollte er verschwinden, bevor es sich vielleicht noch jemand anders überlegte und zurückkam. Schockiert blickte er sich um und stellte fest, dass er sich keinen Zentimeter bewegt hatte. Er war entweder nicht in der Lage zu apparieren oder der Portschlüssel war defekt.

Sein halbes Leben oder mehr würde er jetzt dafür geben, teleportieren zu können. Das sah so leicht aus, das schien so schnell zu gehen. In den Umhang wickeln und fort.

Doch er hockte hier auf dem Waldboden und konnte - nichts. Dabei wusste er nicht einmal, wo genau er sich befand. Der Vier-Punkte-Zauber würde wohl noch funktionieren und ihm verraten, in welche Ecke der Lord sie diesmal geschleppt hatte. Das war aber auch schon alles, den Weg zurück musste er zu Fuß bewältigen.

Nur allzu gern hätte er jetzt einen Australier an seiner Seite.



Kapitel 33 - Hart am Limit


Nachdem er herausgefunden hatte, wo er sich befand, begann er vorwärts zu kriechen. Er wagte keine Schätzung, wie lange er für den Weg benötigen würde.

Nach nicht einmal annähernd zwanzig Metern, die er reptilienartig hinter sich gebracht hatte, stockte er. Keuchend und mit einem dumpfen Rauschen in den Ohren starrte er auf zwei Schuhe, die wie Kähne aussahen. Auf einem See machten sie sich sicherlich gut, im Wald jedoch waren sie so fehl am Platz wie die Vorstellung, er könnte jemals einen weißen Umhang tragen.

Innerlich fluchte er. Er hasste es, so gesehen zu werden. Streng genommen hatte ihn noch nie jemand so gesehen. Denn er war der unbeugsame, strenge Snape, der über allen stand. Über allen Dingen. Über allen Personen. Alles konnte er im Augenblick gebrauchen, aber Hagrid ganz bestimmt nicht. Einen fliegenden Teppich würde er dem Halbriesen vorziehen.

Wieso dachte er jetzt an fliegende Teppiche?

"Professor, was machn Sie da unten? Ham Sie Kräuter verlorn?"

Ganz unschuldig, als gehörten auf dem Waldboden herumkriechende Lehrer zum Alltag, stellte Hagrid diese Frage.

Seine Anwesenheit im Verbotenen Wald weit nach Mitternacht empfand er selbst als vollkommen normal, denn jemand musste hier nach dem Rechten sehen. Er hätte es als Hüter der Schlüssel und Ländereien von Hogwarts als sträflich nachlässig empfunden, seiner Arbeit nicht ordnungsgemäß nachzugehen.

Im jetzigen Augenblick konnte er sich durchaus vorstellen, dass es Professor Snape überhaupt nicht recht war, dass er ihn sah. Er sollte lieber woanders sein. Er wünschte sich auch woanders hin.

Aber es war definitiv zu spät, um über eine Richtungsänderung nachzudenken. Vor allem jetzt, nachdem Professor Snape seine Schuhe bewundert hatte.

Seine Anwesenheit könnte sich durchaus als hilfreich heraus stellen, denn Professor Snape machte auf ihn keinen putzmunteren Eindruck. Als keine Antwort kam, bot er ihm seine Hilfe an.

"Na ja, is ja auch nich genügend Mond. Soll ich Ihnen helfn?"

"Nein, ich suche weiter. Licht brauche ich nicht", quetschte Snape hervor.

Dabei zitterte er am ganzen Körper und spürte ein Nachlassen seiner Kraft. Viel würde nicht mehr fehlen und die Stimme versagte zusätzlich. Ihm war so übel, so speiübel. Er schüttelte sich und sein Gesicht plumpste ins nasse, kalte Gras.

"Dann werd ich mal Dumbledore holn, was?"

Es hatte etwas Raubvogelartiges an sich, als Snapes Kopf in die Höhe schoss.

"Untersteh dich!"

Selbstverständlich wäre es realistischer, Hilfe anzunehmen, irgendeine Hilfe, aber bis jetzt war er jedes Mal mit seiner Hilflosigkeit fertig geworden. Damit das überhaupt einen Sinn ergab, musste er hinzufügen, dass ihn bisher auch nie jemand gefunden hatte.

Diese beiden Worte jedoch waren die letzten, derer er sich bewusst war. Dann versank alles um ihn herum und er selbst in bodenloser Schwärze.

Hagrid schulterte seine Armbrust, hob kurzerhand und nicht gerade zartfühlend Professor Snape hoch und setzte sich in Bewegung. So schnell wie möglich wollte er zurück nach Hogwarts. Unterwegs schwankte er, wo Professor Snape am besten aufgehoben wäre - im Krankenflügel oder bei Professor Dumbledore. Letztendlich entschied er sich doch für Professor Dumbledore.

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Aniram fuhr aus ihrer Pseudo-Ohnmacht auf. Irgendetwas stimmte nicht. Es war nicht nur so, dass sie wegen der noch herrschenden Dunkelheit nichts sah. Eher fühlte es sich an, als hätte sich ein Leichentuch auf sie und ihre Umgebung gelegt. So schwer und undurchdringlich, dass es sie lähmte.

Dann zuckte Severus durch ihre Gedanken. Dieser sture Trottel! Das Todesser-Gerücht war für sie nun keines mehr. Es musste wahr sein. Sicherlich, sonst wäre er damals nicht so in die Luft gegangen. Hatte er sich schützen wollen oder seine Umwelt?

Das Gefühl, dass er das nicht freiwillig tat, verstärkte sich. Todesser sein vielleicht. Dazu gehörte nach ihrem Verständnis jedoch nicht, freiwillig zu einem solchen Treffen zu gehen und sich foltern zu lassen. Demzufolge war er auch kein freiwilliger Todesser.

Nein, er nahm damit etwas auf sich. Etwas, das sie schon die ganze Zeit gespürt hatte und worüber er nicht reden wollte oder konnte, weil das hier eben nicht üblich war. Er brauchte wirklich jemanden. Mehr als er es sich eingestehen wollte. Sie war meilenweit davon entfernt, jemanden ob seines Handelns zu verurteilen. Das konnte sie immer noch tun, wenn sie die Beweggründe in Erfahrung gebracht hatte.

Als er sich den Unterarm gerieben hatte, war das also das Mal gewesen. Zwar hatte er versucht, alles abzuwimmeln, aber damit kam er bei ihr gar nicht gut an. Er musste doch langsam wissen, dass er der Diskussionswut in persona gegenüberstand.

Hoffentlich hatte ihn seine Ohnmacht - wenn dieses dumpfe Gefühl in ihrem Kopf richtig zu werten war - rechtzeitig genug von seinen Schmerzen erlöst. Jetzt nahm sie ihn nicht mehr wahr. Sie wurde in einen Sog aus Kälte und Dunkelheit gezogen. Dieser Sog mit genau dieser Mischung kam ihr seltsam vertraut vor.

Aniram machte sich große Vorwürfe. An diesem Abend hatte sie ihn mit Sachen konfrontiert, die weit über seinen europäischen Horizont gingen. Sie hatte ihm zusätzlich zu seiner eigenen seelischen Qual ihre aufgehalst, hatte alle Bedenken beiseite gewischt, jedes Verbotsschild Australien betreffend umgerannt UND zudem noch die Zeitlinie aufgebrochen - das alles in dem Glauben, sie beide könnten sich helfen und er wäre aufgrund dessen eher bereit, sich zu öffnen. Es musste handfeste Gründe geben, warum er so war, wie er war.

Intuitiv spürte sie jetzt, dass er in Gefahr war. Kurz entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett, fuhr in die Hausschuhe, griff nach ihrem Morgenmantel und hastete durch den Gemeinschaftsraum weiter zur Tür. Diese ließ sich zwar aufdrücken, doch Aniram stieß schnell auf Widerstand.

"He, was soll das?" Ihre Stimme war nur ein Wispern.

"Paaaasswort!", verlangte die Rüstung im Halbschlaf.

"Was soll das, ein Passwort verlangst du nur, wenn es hier rein geht, also mach gefälligst Platz!"

Aniram wurde ungeduldig.

"Paaaasswort, alle Schüler sollen schlafen", erwiderte die Ritterrüstung träge.

"Oh Mann, das kann nicht wahr sein. Halt die Klappe! Mach gefälligst Platz, du Blecheimer!"

Ungehalten und mit größerem Kraftaufwand stemmte sich Aniram gegen die Tür und konnte sie öffnen. So schnell es ging setzte sie sich in Bewegung. Dass die Rüstung umfiel und mit einem lauten Knall zu Boden ging, interessierte sie nicht. Auch nicht, dass dieses Gerassel alle anderen Rüstungen und Gemälde in der Nähe aufweckte.

"Bin kein Gemälde", quengelte die Rüstung, die am Boden lag.

So schnell ihre Füße sie trugen, rauschte sie die Treppe hinunter. Für ihre Begriffe nahm das zu viel Zeit in Anspruch. Wenn zu Hause jemand in Gefahr war, genügte ein Gedanke, um bei ihm zu sein. Hier aber? Das lenkte ihre Gedanken sofort zu Pyro. Wenn er und alle Hauselfen innerhalb eines Gebäudes munter umher springen durften, dann würde sie sich von Professor Dumbledore eine Sondergenehmigung einholen.

Abgehetzt kam sie in der Eingangshalle an. Sie wusste nicht einmal, wohin sie sich wenden sollte. Notfalls irgendwo nach draußen. Notfalls soweit, bis sie diese Abschirmung hinter sich gelassen hatte. Wo die zu Ende war, konnte sie mit einem Teleportationsversuch herausfinden.

‚Klar, Hawkwing, träum weiter. Du KANNST nicht! Du hast keinen Umhang. Ergo - es wird Zeit, dass du dir die richtigen Tränke braust. Erst dann bist du wenigstens wieder Halbaustralier.'

Ihre Grübelei wurde unterbrochen, als sie sah, dass Hagrid soeben das Schloss betrat - mit Severus auf den Armen. Er schien ein bestimmtes Ziel zu haben. Kurzerhand stellte sie sich ihm in den Weg.

"Hagrid, wo hast du ihn gefunden und wo willst du hin?"

Hagrid gehörte definitiv nicht zu den Leuten, die leicht aus der Bahn zu bringen waren. Aber aus einem unerfindlichen Grund war ihm Aniram unheimlich. Er konnte nicht sagen, ob das an den Augen lag oder an den Gesprächen, die er von Lehrern und Schülern aufgeschnappt hatte. Unsicher blieb er stehen, obwohl er sonst jeden Schüler beiseite gedrückt hätte.

"Hab ihn im Wald gefunden. War wohl auf der Suche nach'n paar Kräutern."

Anirams Gesicht erhellte sich.

"Ah, den verabredeten Kandinsky. Ja, ich weiß, die Suche nach dem schwächt unheimlich, man kann ihn nur nachts finden. Kannst du mir zeigen, wo er wohnt? Dann könnte ich mich um die Konservierung der Kräuter kümmern, ohne dass etwas von ihrem Elixier verloren geht. Und wie es aussieht, hat er sich auch noch eine Verletzung zugezogen. So leichtsinnig, ohne Lampe loszurasen."

Ihre Worte waren blanker Müll, aber sie plapperte einfach drauflos in der Hoffnung, Hagrid von genau diesem Tatbestand überzeugen zu können.

Ob zum Kräutersammeln ein kraftloses Zusammenbrechen gehörte, konnte Hagrid nicht einschätzen. Doch es klang alles so selbstverständlich. Dieses Mädchen hatte eine beinahe befehlende Art an sich, die entfernt an Professor Snape erinnerte. Dem ging man so gut es ging aus dem Weg. Innerlich seufzte er. Es sei denn, man fand ihn im Wald.

Sein Vorsatz, ihn zu Professor Dumbledore zu bringen, geriet arg ins Schwanken, als er hörte, dass es verabredet war. Dabei konnte er sich nicht vorstellen, dass ein Lehrer und eine Schülerin etwas verabredeten. Professor Snape verpasste Strafarbeiten, aber kein kollektives Kräutersammeln. In seinem Kopf schwirrte alles durcheinander. Er war sogar drauf und dran, die Wahrheit zusagen. Oder eher das, was er für die Wahrheit hielt und warum er ihn so gefunden hatte.

Dann nickte er Richtung Kerker. "Wohnt da unten."

"Na dann komm, wir dürfen keine Zeit verlieren. Es ist wichtig."

Sie zupfte Hagrid am Ärmel und zog ihn kurzerhand hinter sich her. Die Gemälde schliefen. Dieser Zustand hielt jedoch nur solange an, bis Hagrid durch den Gang polterte. An neugierige Blicke war Aniram mittlerweile gewohnt. Also legte sie nur den Zeigefinger auf ihre Lippen und bedeutete allen, still zu sein.

Manch ein Gemälde kam dieser Aufforderung einfach nur nach, manch eines hob erstaunt die Augenbrauen. Aber niemand wisperte oder sprach. Ein stumm befohlenes Klappehalten schloss aber nicht aus, sich untereinander bedeutungsvolle Blicke zuzuwerfen und das weitere Geschehen zu verfolgen.

Der Gang nahm für Anirams Begriffe kein Ende. Unvorstellbar, dass sich jemand freiwillig hier unten eine Wohnung einrichtete. Noch tiefer ins Dunkel wagte sie sich beinahe nicht. Glücklicherweise wurde sie von Hagrids Stimme aufgehalten.

"Hier isses." Mit einem Kopfnicken deutete der Halbriese auf eine Tür.

Sie ging zurück und wollte die Klinge herunter drücken. Natürlich! Wie dumm war sie nur? Am liebsten würde sie jetzt den Kopf gegen die Tür schlagen, um ihr Denkvermögen anzukurbeln. Sicherlich, im gesamten Schloss standen die Türen offen, niemand verlangte ein Passwort und warum in drei Teufels Namen sollte Professor Snape seine Privaträume doppelt und dreifach sichern? Nachdem diese Erkenntnis langsam durch ihr Hirn gerieselt war, wusste sie, dass ein einfacher Öffnungszauber keine Wirkung zeigen würde.

Aniram wandte sich zu den Gemälden um, schaute die an, die wach waren und drehte die Handflächen nach oben. Darin lag die unausgesprochene Frage, ob es ein Passwort gab und wie es lautete. Zu ihrem Leidwesen verhielten sich alle äußerst kontraproduktiv. Sie schwiegen.

Verärgert drehte sie sich um und zog ihren Zauberstab aus dem Ärmel. Wenn ihr Vorhaben missglückte, dann müsste sie Severus auf dem Gang verarzten - vor Hagrid und vor den Gemälden, die dann mit Sicherheit putzmunter würden. Kurzerhand richtete sie den Zauberstab auf die Tür.

"WARP EINS!"

Sie liebte Star Trek abgöttisch und fand es nur normal, sich ein paar Zauber mit diesem Vokabular zusammenzustellen. Warp Eins war ihr Universalschlüssel. Bis jetzt war seine Wirkungsweise ungebrochen und sie hatte jede Tür geknackt. Doch sie war nicht zu Hause, wo man den Türen beinahe bedeutungslose Existenzen zusprach, und noch nie standen ihr Zauberstab und sie vor einer solchen Herausforderung.

Bestenfalls ließen sich die Schutzzauber, von deren Existenz sie ausging, damit neutralisieren und schlimmstenfalls hatte Severus in den nächsten Augenblicken keine Eingangstür mehr. Der allerschlimmste Fall war, dass Feuer ausbrach, ein paar Mauern einstürzten und Magdalena die Mimosenhafte in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es gab nur eine Option und kein tiefes Hinterfragen, was wichtiger war - ein Gemälde oder ein schwer verletzter Mensch.

Ein kräftiges Donnern, gefolgt von einer elektrischen Entladung, erschütterte den Gang. Jeder, der zu neugierig gewesen war, floh wieder zurück in den eigenen Rahmen.

Die Tür begann zu glühen. Erst an dem Punkt, auf den Aniram mit ihrem Zauberstab gedeutet hatte, von wo aus es sich bis an den Rand ausdehnte. Geduldig wartete sie ab, bis das kräftige Rot einem Weiß gewichen war und schließlich ganz verschwand. Danach sah die Tür wieder aus wie vorher.

Aniram drückte forsch die Klinke herunter und trat ein. Sie wartete, bis Hagrid gefolgt war und schloss die Tür. Gegen die Dunkelheit hatte sie schnell etwas getan. Hoch über ihrem Kopf wirbelte sie den Zauberstab zwischen Zeige- und Mittelfinger einmal ringsum.

"Solaris totalus!"

Alles, was auch nur brennen konnte, spendete Licht.

"Schnell, Hagrid, leg ihn aufs Sofa."

Aniram ging davon aus, dass sie in einem Wohnraum stand und dass sich hier irgendwo ein Sofa befand. Für eine genaue Inspektion blieb keine Zeit.

"Kannst du ein Feuer anmachen? Er ist fürchterlich kalt."

"Weiß nich, eigentlich darf ich nich zaubern."

Er wusste nicht, weshalb er das sagte. Normalerweise war das auch keinem Schüler bekannt. Sie mussten nicht unbedingt wissen, dass und weshalb er nicht mehr zaubern durfte.

"Ach, komm schon, dann haben wir zwei eben ein Geheimnis, okay? Ich meine, niemand braucht zu wissen, dass und wie ich hier rein gekommen bin und niemand wird je erfahren, dass du gezaubert hast. Himmel noch eins, mach schon!"

Hagrid grinste erst zögernd, dann immer breiter. Geheimnisse hörten sich immer gut an.

"Okay, ich mach ja schon."

Mit dem Regenschirm, den er unter seinem Fellmantel hervorholte, entfachte er ein Feuer im Kamin. Kurz darauf zuckte er wie unter einem Peitschenhieb zusammen.

"Imneschkha absento!"

Auf dem Absatz wirbelte er herum und sah nur noch, dass Aniram ihren Zauberstab auf die Tür gerichtet hatte und ein riesiges X darüber malte. Mit einem lauten Knall wurde aus der Tür eine undurchdringliche Mauer.

"Keine Panik, hat nichts mit X-Men zu tun. Sollte ich mir auch mal wieder reinziehen."

Hagrid scharrte sich am Kopf, wusste weder mit X-Men noch mit reinziehen etwas anzufangen und schaute Aniram skeptisch an. Dann wurde ihm klar, warum er Feuer machen sollte, denn sie zog ihren Morgenmantel aus. Bevor er den Mund öffnen konnte, unterdrückte sie seine Frage mit dem Heben einer Hand.

"Ich brauch jetzt Ruhe und Konzentration und was du jetzt siehst, gehört auch zum Geheimnis, okay? Das ist ein Megageheimnis!"

Aniram kniete sich neben das Sofa und rollte ihren rechten Ärmel hoch. Den Arm brachte sie in Höhe der Ellenbeuge über seine Stirn. Mit geschlossenen Augen versenkte sie sich.

Es sah sehr schlimm aus. Beinahe grenzte es an ein Wunder, dass er hier lag. Die Gehirnströme näherten sich einer flachen Linie und die dahinter immer noch wütenden Schmerzen konnte sie deutlich ausmachen. Irgendetwas hatte er wohl von selbst ausgeschaltet, um halbwegs zu überleben. Das würde Zeit in Anspruch nehmen.

Langsam bewegte sie ihren Arm weiter nach unten und scannte Kehlkopf und Oberkörper. Hier zuckte sie zusammen. Sie erschrak nicht nur wegen der oberflächlichen Verletzungen. Schon die allein waren bestialisch genug. Das Herz schlug sehr langsam und der linke Lungenflügel begann sich mit Blut zu füllen. Joaquins gebeutelten und bunten Körper wiederherzustellen war ein Spaziergang gegen das hier. Ob sie sich übernahm?

Diese Frage geriet in den Bereich des Überflüssigen, denn nun war sie hier und Professor Dumbledore oder wen auch immer, der solche Verletzungen schon einmal gesehen hatte, nach ihrem gewaltsamen Einbruch herbeizuholen, wäre unsinnig. Sich die Zeit zu nehmen, um darüber nachzudenken, was sie jetzt tun sollte, war genauso unsinnig. Das hätte sie abschätzen sollen, als sie Hagrid über den Weg gelaufen war.

Im Augenblick war Zeit ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte.

Nach Abschluss ihrer Analyse begann sie vorsichtig, seine Jacke und sein Hemd aufzuknöpfen. Aniram machte sich auf einen grauenvollen Anblick gefasst. In Joaquins Erinnerung hatte sie gesehen, wie ihr Rücken beschaffen war. Zerfleischt und blutig. Doch bei dem Anblick, der sich ihr bot, dachte sie automatisch, dass sie besser ausgesehen hatte.

Das hier waren nicht einfach nur Verletzungen, die von Peitschenhieben stammten. Keine blutigen Striemen. Die Haut hing stellenweise in Fetzen herunter und das Fleisch wies tiefe Einschnitte auf. Blutergüsse gab es sicherlich auch, doch sie waren nicht zu sehen. Und verdammt, die Lunge. Ihr war klar, in welcher Reihenfolge sie arbeiten musste.

Das Ende ihres Zauberstabs setzte sie an ihr Implantat, richtete die Spitze auf seine Brust und drang auf Bewusstseinsebene in die Zellstruktur ein.

Vieles hatte sie von Joaquin gelernt. Ob sie wirklich alles gelernt hatte und überdies in der Lage war, es einzusetzen, darüber wagte sie nicht zu spekulieren. Trotzdem tat sie es, ohne nachzudenken.

Beinahe losgelöst vom eigenen Körper und hoch konzentriert ignorierte sie zunächst die äußeren Verletzungen. Den Luxus, sie zu heilen, konnte sie sich später leisten. Vorsichtig drang sie tiefer, bis sie die Lunge erreichte. Bereits das oberflächliche Sondieren hatte sie auf grauenvolle Verwüstungen vorbereitet. Tatsächlich wurde der erwartete Zustand übertroffen.

Zartfühlend begann sie damit, die Außenwand der Lunge zu reparieren, Schritt für Schritt. Zelle für Zelle. Dabei ging sie mit höchster Präzision zu Werke. Zunächst hatte sie geschwankt, ob sie von innen oder außen heraus heilen sollte, entschied sich aber letztendlich dafür, zuerst den Riss zu reparieren. Es würde nicht viel bringen, die Blutungen zu stoppen, die Gerinnungen aufzulösen und das Blut wieder in den Kreislauf zu drücken, solange dieser Riss noch bestand.

Nachdem die Lunge von außen verschlossen war, machte sich Aniram daran, hineinzutauchen. Ungesund und schwarz sah es aus und sie würde alles von dem, was ihr Implantat hergab, benötigen. Die Kraft, die ihm innewohnte, gepaart mit ihrem Zauberstab, müsste es eigentlich hergeben.

Nach und nach löste sie die Gerinnungen auf und schickte das gesunde Blut, das für ihre inneren Augen nun weiß aussah, wieder zurück. Hier ein Partikelchen, dort noch eines und nach einer Weile, die ihr selbst vorkam wie eine doppelte Ewigkeit, war diese ungesunde Schwärze einem Rosa gewichen. Die Segmente, die bereits weiß aussahen, würden ihre Nachbarzellen beim Gesundungsprozess und somit den Körper bei der Heilung unterstützen.

Leicht erschöpft hielt sie inne. Nie und nimmer hätte sich Aniram träumen lassen, dass sie für eine solche Tätigkeit dermaßen viel psychische Energie brauchen würde. Dagegen erschienen ihr die Erlebnisse, das hin und her gleiten IN inklusive des Zurückkommens AUS der Traumzeit wie der reinste Spaziergang.

Zum Umhang robben, sich auf den Rock konzentrieren und schon weg. Wo auch immer sie gewesen war - ein Gedanke brachte sie zurück.

Doch bereits nach der Wiederherstellung der Lunge begann ihr Arm zu zittern und sie wusste, sie musste all ihre Kraft aufwenden, um eine vollständige Heilung zu vollbringen. Ein kleines sarkastisches Stimmchen hätte ihr sicherlich nahe gelegt, dass es durchaus angebracht gewesen wäre, vor solchen Kraftakten zu meditieren.

Doch für Meditationen war es bereits zu spät gewesen, als sie aus dem Schlaf gerissen wurde. Eine nie gekannte Unsicherheit, die mit großen Vorwürfen sich selbst gegenüber einherging, befiel sie. Was, wenn er in der Lage gewesen wäre, seine eigenen Barrieren stark genug zu halten und Voldemort ein Eindringen unmöglich zu machen?

Ausgerechnet an dem Abend, an dem sie ihn mit allem überschüttete, das an ihr zehrte, seit sie hier angekommen war, musste er weg. Etwas in ihr sagte ihr, dass er nicht wollte, aber musste.

Auch mutete es ihr seltsam an, dass er seinem geschlossenen Geist einen weitaus höheren Stellenwert einräumte als seinem Körper. Er ließ sich foltern - sie wusste nicht, ob er damit rechnete oder nicht - und wurde nur vom Gedanken beherrscht, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Er wandte alle Kraft auf, das Gegenüber sehen zu lassen, was es sehen wollte.

Auf psychischer Ebene konnte er durchaus mit den Australiern mithalten, oh ja. Physisch? Im Augenblick definitiv nicht. Und sie als kleine Schülerin mit etwas anderen Methoden und Kenntnissen machte sich daran, dieses momentane Wrack wieder instand zu setzen.

Unwillkürlich seufzte sie. Für andere Maßnahmen, andere Personen war es definitiv zu spät. Sollte sie mit einem lauten Brüllen auf den Gang laufen, sämtliche Lehrer und die Krankenschwester zusammentrommeln mit den Worten "He, Leute, Professor Snape ist verletzt, aber ich kann das nicht alleine?" Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen hatte sie Hagrid von der Wichtigkeit des Kandinskys überzeugt, war gewaltsam hier eingebrochen und hatte zudem diesen Raum von außen unbegehbar gemacht.

Dieser ganze Kraftakt war natürlich extrem fatal vor dem Hintergrund ihres eigenen destruktiven Zustandes. Aber sie fühlte sich schuldig an seinem jetzigen Zustand und handelte so, wie es ihr der Instinkt vorgab.

Eine Unterbrechung konnte sie sich ebenso wenig leisten, denn sie wusste, dass sie dann unweigerlich aufgeben würde. Pause setzte sie nicht nur mit Pause und vorübergehender Erholung gleich, es bedeutete das definitive Aus, das Stopp.

Hagrid, der wie in Stein gehauen vor dem Kamin stehen geblieben war, beobachtete dieses seltsame Mädchen. Er wusste nicht, was sie tat, aber es schien sie alles an Kraft zu kosten, die sie hatte. Oder auch nicht. Er zweifelte, ob es ein guter Gedanke gewesen war, sich von ihren Worten einlullen zu lassen, statt geraden Wegs zu Professor Dumbledore zu stürmen.

Dass sie etwas vollkommen anderes verfolgte, wurde ihm schnell klar, weil sie sich nicht im Geringsten um das ach so kostbare Elixier kümmerte, von dem sie geschwatzt hatte. Bildete sie sich wirklich ein, Professor Snape heilen zu können? Selbst er wusste, dass sie vor einer Aufgabe stand, an der Madam Pomfrey oder auch manchmal Professor Dumbledore Nerven und Kraft ließen.

"Was machstn da?" begehrte er zu wissen. Denn für ihn war nicht die geringste Wundversorgung feststellbar.

"Ich sagte doch, ich muss mich konzentrieren."

Zu weiteren Antworten raffte sich Aniram nicht auf und selbst diese kurze Antwort war von einem deutlich herauszuhörenden ‚du nervst' begleitet.

Für die Versorgung der inneren Verletzungen hatte sie die Augen geschlossen. Nun, wo es an die sichtbaren Schädigungen ging, musste sie sie öffnen. Auch wenn sie wusste, dass es damit noch lange nicht getan war. Die gebrochenen Rippen mussten wiederhergestellt und der Geist beruhigt werden.

Letzteres war eine Arbeit, die zuerst hätte verrichtet werden müssen, doch Severus befand sich in einem solch tiefen Schlund der Ahnungslosigkeit, Verwirrung und des immer noch rasenden Schmerzes, dass er unmöglich hätte mitarbeiten können. Im Gegenteil, er hätte sie gehindert. Ganz sicher hätte er sie an dem gehindert, was sie gerade tat. Kontraproduktivität konnte sie im Augenblick nicht gebrauchen.

"Sorry, Hagrid, ich mach mich jetzt an die äußeren Wunden. Wärst du so nett, es noch ein bisschen wärmer zu machen? Danke."

Sie fror wie ein Neugeborenes, dem man das wärmende Handtuch verwehrte.

Aniram hatte leise gesprochen, nur das Notwendigste und nur so viel, um Hagrid nicht noch mehr zu vergrämen und misstrauischer zu machen. Er war ein Riese, sein Verstand war einfach gestrickt, aber er war sicherlich nicht dämlich.

Ein kurzer Augenblick der Furcht blitzte in ihr auf, denn sie bewegte sich mit ihrem Können und Wissen wirklich hart am Limit. Ihrer Entschlusskraft setzte das aber keine Grenzen. Sie würde zu Ende führen, was sie begonnen hatte.

Nach einigen Reinigungszaubern, die sie ohne Implantat ausführen konnte, begann sie damit, die tiefen Wunden von innen nach außen zu heilen.

Hagrid, der einen kleinen Vulkanausbruch hervorgerufen hatte, indem er seinen Regenschirm ins Feuer hielt, trat anschließend näher. Was er sah, erstaunte ihn. Von der geschundenen Haut, die er gesehen hatte, war nichts mehr zu erkennen.

Blassrosa Schimmer oder blaue Flecken waren an die Stellen der Wunden getreten. Er wohnte einem Heilungsprozess bei, den es eigentlich nicht gab. Er war in der Magierwelt groß geworden zu sein, sehr groß. Doch das Gesehene war ihm absolut unverständlich. Denn selbst Madam Pomfrey konnte das nicht, ohne zumindest zwei Tage andauernde Narben zu hinterlassen. Hier jedoch schlossen sich die Wunden beinahe wie von selbst.

Verdammt, wenn ihm wieder mal ein Zentaur ein Veilchen verpasste, dann wusste er, wohin er sich wenden sollte, statt tagelang mit einem blutigen Steak im Gesicht herumzulaufen.

"Wozu brauchstn immer dein Arm?"

Er rechnete nicht ernsthaft mit einer Antwort und bekam auch keine. Stattdessen erntete er ein Kopfschütteln, das jedoch nicht mehr ganz so heftig und abwehrend ausfiel.

Aniram tat es beinahe leid, Hagrid im Regen stehen zu lassen, nachdem sie ihn dermaßen überrumpelt hatte. Er hätte sie durchaus mit einem Wischen seiner Hand aus seiner eingeschlagenen Richtung fegen können.

Zu wirr, zu abstrus und unkonzentriert arbeitete inzwischen ihr Verstand. Aniram war froh, den größten Teil der Arbeit bereits erledigt zu heben. Jetzt musste sie nur noch die Rippen heilen und abschließend den äußerst effizienten Zauber gegen Blutergüsse sprechen. Dieser Zauber verhinderte, dass sich Verletzungen weiterhin nach außen sichtbar machten. Sie blieben im Körper und heilten dort. Joaquin hatte sie schließlich auch wieder mit seinem ursprünglichen Aussehen beglücken können.

Was jedoch übrig blieb, war die Beruhigung des Geistes. Dort einzudringen wagte sie sich nicht. Dabei spielte die Überlegung keine Rolle, ob sie für diese Barriere verantwortlich war oder ob er einen dermaßen ausgeprägten Schutzmechanismus entwickelt hatte, um Sachen wie diese hier zu überstehen.

Nach diesen Anstrengungen war ihre Stimme nur noch ein Krächzen.

"Weißt du, Hagrid, wir Australier sind ein bisschen anders. Wir benutzen gerne unseren Arm. Genügt es dir zu wissen, wenn ich sage, dass das ein weiteres Geheimnis bleiben muss?"

Hagrids Gesicht arbeitete. Dann nickte er einfach und akzeptierte das Gesagte, weil er es mit dem Gesehenen in Verbindung brachte. Diese australischen Zaubersprüche allein schon taten den Ohren weh. Allerdings hatte er auch gesehen, dass sich, als sie in diese silbrige Spirale hineinschlug und sie sich mit einem dumpfen Knall in diffusen Nebel auslöste, Professor Snapes blaue Flecke weg waren. Noch ein Grund mehr bei Zentaurentritten.

Zumindest war er froh, dass sie ihm anscheinend nicht geschadet hatte. Dennoch kratzte er sich unbehaglich am Kopf, als er sich bewusst war, dass irgendjemand es herausfinden würde, wer sich hier unbefugt Zutritt verschafft hatte. Über die Konsequenzen war er sich nicht, noch nicht, im Klaren. Aber die Gemälde würden schon für ein entsprechendes Lauffeuer sorgen. Er wusste schon, warum er in seiner Hütte keine hatte.

Aus diesen Gedanken wurde er wiederum gerissen, als Aniram ihm sagte, er sollte Professor Snape ins Bett legen.

"Bett? Meinste, wir solltn hier noch mehr rumschnüffeln? Weiß nich, wo sein Bett is, ehrlich nich."

Aniram raffte sich immer noch am Boden kauernd ihren Morgenmantel und schälte sich hinein.

"Na ja, irgendwas muss uns einfallen. Er muss zugedeckt werden und irgendwie sollte auch das Feuer erhalten bleiben, weil er ohnehin unterkühlt genug ist. Sonst hab ich mir umsonst den Hintern aufgerissen."

Severus einfach hier auf dem Sofa liegen zu lassen erschien ihr als nicht gerade klug. Sie stand auf und schwankte.

"Vielleicht hat er noch ein paar Umhänge, mit denen wir ihn zudecken können. Und ich kann echt nicht mehr, bist du so nett und schiebst das Sofa näher an den Kamin?"

Mit diesen Worten sah sie sich um und wurde sogar fündig. Sie nahm einfach den zweiten Umhang vom Haken und verbot sich eine weitere Inspektion seiner Räumlichkeiten.

Für Hagrid war es ein Leichtes, das Sofa an die gewünschte Stelle zu transportieren. Dazu benötigte er nicht einmal seinen Zauberstab.

Nachdem Aniram noch dafür gesorgt hatte, dass Severus ordentlich eingehüllt dalag und das Feuer nicht herunterbrannte, sackten ihre Schultern nach unten. Schuldbewusst schaute sie Hagrid an.

"Dir ist schon klar, dass ich dich angelogen habe, ja?"



Kapitel 34 - Gespräche unter Helfern


Hagrids Augen wurden nach dieser Offenbarung kullerrund und er konnte nur stumm nicken. Wer hätte so etwas schon zugegeben?

"Hab ich spätestens gemerkt, als du dich nich um die Kräuter gekümmert hast."

"Lass bitte den Rest auch unser Geheimnis bleiben. Was du gesehen hast, hat noch kein Europäer gesehen."

‚Bis auf Severus in meinen Erinnerungen, aber auch dort bei weitem nicht so ausführlich.'

"Geheimnis, okay. Aber wie, ich meine, wenn er aufwacht..."

"Ich regle das schon, keine Sorge. Nur muss ich jetzt dringend hier raus, sonst kippe ich um."

Australische oder eigen komponierte Zauber hin oder her, selbst das simple Finite war in der Lage, sie aufheben. Die Tür wurde wieder sichtbar. Aniram reduzierte das Licht im Raum so weit, bis nur noch der Feuerschein übrig blieb.

Erst dann ließ sie ihren eigenen Erschöpfungszustand zu, doch sie konnte ihn nicht bekämpfen. Gekämpft hatte sie heute Abend genug und jetzt war nicht das kleinste Quäntchen Energie mehr übrig. Sie winkte Hagrid mit dem Kopf und fasste nach der Klinke. Draußen auf dem Gang holte sie tief Luft.

Die Gemälde waren inzwischen alle munter geworden, denn der Knall, den es von drinnen gegeben hatte, ließ niemanden mehr schlafen. Sorgenvoll schlichen sie innerhalb ihres eigenen Rahmens hin und her oder tauchten wie Schlafwandler in anderen auf. Nun erstarrten alle und wandten ihre Köpfe dem schwachen Lichtschein und den beiden davor stehenden Gestalten zu.

Aniram nickte knapp und flüsterte: "Er ist gesund und schläft. Die Tür kann ich nicht wieder versiegeln, weil er nicht mehr heraus oder auch niemand hinein könnte." Kurz überlegte sie, ob Professor Dumbledore eine Ausnahme darstellte. "Sollte sich jemand hier unerlaubt Zugang verschaffen wollen, dann schreit ihr das Schloss zusammen. Einverstanden?"

Um sie herum nickte alles einhellig. Diese Reaktion wäre wohl kaum so ausgefallen, würden sie ihrer speziellen Freundin, der sie so manchen Schlagabtausch verdankten, nicht den Status "befugt" einräumen. Aber sie kannten sie lange und gut genug, denn es verging kein Abend, an dem sie nicht in den Kerker kam.

Außerdem gingen sie davon aus, dass ihr Herrscher es zugelassen hätte. Schließlich hatte er sie einmal eigenhändig durch den Gang geschleppt als gälte es, ihr Leben zu retten.

"Ich dank euch, Leute. Hagrid habt ihr auch nicht gesehen."

"Pft, erstens wer ist das und zweitens ich hab geschlafen."

Damit war die Diskussion für alle Beteiligten beendet.

Verstohlen blinzelte Aniram zu Hagrid hoch. "Jetzt darfst du dich aber auch nicht verplappern."

Er brummte etwas Undefinierbares und ging neben ihr her. Bis ihm auffiel, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Genauso kurz entschlossen, wie er im Wald Professor Snape aufgehoben hatte, tat er das jetzt mit Aniram, die ein leises Dankeschön hauchte.

"Mir ist s-so f-fürchterlich kalt. Ei-eigentlich könnt i-ich nen Tee gebrauchen." Ihr Zähneklappern war inzwischen deutlich hörbar. "Du wie-weißt nicht, wo die Küche ist, ohoder?"

"Na doch", brummelte Hagrid, "weiß nur nich, obs gut is, dich dorthin zu bringn."

"D-doch, doch. Hau-Hauptsache w-w-warm."

"Na gut, dann Küche."

Obwohl Anirams Unterbewusstsein diesen Wunsch nicht gut hieß, ja sogar für noch schädigender hielt als den überstandenen Kraftakt, kämpfte sie es nieder. Sicher würde sie anders handeln, wäre sie noch in der Lage dazu.

Aber jetzt auf dem Astronomieturm herumzuschleichen, ohnehin schon total ausgekühlt und sich noch mehr der Kälte auszusetzen - das wäre so ziemlich das Dämlichste, das sie selbst bei klarem Verstand tun würde.

Einer Puppe gleich hing Aniram in Hagrids Armen. Ausgelaugt, fertig, nur noch halb beieinander. Normalerweise hätte sie sich mit Begeisterung den Weg in die wahrscheinlich gut versteckte Küche eingeprägt. Jetzt fand nicht einmal der Gedanke an Pyro ansatzweise in ihrem wattierten Hirn Nahrung. Auch nicht die Tatsache, dass sie überhaupt auf dem Weg in die Küche war. Es war alles so weit weg... Nichts, aber auch gar nichts schenkte sie in diesem Moment Beachtung.

Selbst dass sie vor kurzer Zeit noch alles daran gesetzt hatte, diesen Weg auszukundschaften, hatte sie verdrängt.

Im Augenblick wollte sie nur umsorgt werden, beschützt, wollte Wärme in ihren Körper pumpen und... das Unvermeidliche. Die Heilung hatte sie jeglicher physischer und psychischer Energie beraubt. Wollte sie morgen nicht ihre Astralprojektion in den Unterricht schicken, musste sie zu ungewöhnlichen Mitteln greifen. An die Konsequenzen dachte sie inzwischen nicht mehr.

Hagrid stieß mit einem Fuß die Tür zur Küche auf. Er musste sich tief beugen, um durch die Tür zu passen.

Die Hauselfen erstarrten in ihrer Arbeit und begannen damit, an ihren Geschirrtüchern herumzukneten. Seit wann, seit wann gab es Besuch von Hagrid? Dass die Weasley-Zwillinge sie des Öfteren mit ihrer Anwesenheit ehrten, weil ihr Hunger unstillbar war, daran hatten sie sich gewöhnt. Aber Hagrid?

"Brauchtn Tee, das Mädchen."

Hagrid fühlte sich ziemlich eingeengt und deshalb unbehaglich, obwohl ihm die Wärme und Gemütlichkeit hier gefielen.

Waren seine Worte eigentlich dazu angetan, die Hauselfen aus ihrer Erstarrung zu reißen, fielen sie im nächsten Moment wieder in diesen Zustand zurück. Der Grund dafür war ein kleines Stimmchen, das einem Hauselfen gehörte, der bei Hagrids Eintreten gerade eine wunderschöne Fleischpastete zubereitet hatte.

"Missy Hawkwing?" Dabei schlackerte er aufgeregt mit den Ohren und flitzte zum großen Ofen, um eine Tasse Tee einzuschenken.

"Eh, Pyro, alter Gauner...", normalerweise, und normal bedeutete nur so vor Kraft und Elan sprühend, hätte sich Aniram vielleicht witzig angehört.

Sie selbst hätte es als Witz definiert. So aber überlegte jedes anwesende magische Geschöpf, weshalb Pyro ein Gauner war. Er arbeitete doch gut! So wie sie alle.

Behutsam setzte Hagrid Aniram ab. Er kam zur Einsicht, dass sie weder laufen noch stehen konnte, deshalb drückte er sie auf einen Stuhl und diesen so weit an die Tischkante, dass sie höchstens noch seitwärts herunterfallen konnte.

Pyro näherte sich mit dem Tee und setzte ihn vorsichtig vor ihr ab.

"Melissentee, Missy, bringen Missy wieder auf die Beine."

"Danke, Pyro", flüsterte Aniram schwach, "hast du vielleicht noch Honig?"

In Pyros Augen war es ein Frevel, diesen Tee mit Honig zu verschandeln, aber wenn Missy das so haben wollte, dann bitteschön.

"Könnt ich auchn Tee kriegn?"

Während ein anderer Hauself auf der Suche nach einer Tasse für Hagrid war, fragte er Aniram: "Sag mal, wieso kennstn nicht nur die Hauselfn, sondern auch die Namen von denen?" Mit dem Kopf nickte er in die Küche. "Das is komisch, eigentlich legen sie Wert drauf, unentdeckt zu bleiben. Jawoll."

Ein anderer Hauself brachte eine Tasse und auf Hagrids Frage, was darin sei, antwortete er, es sei Kräutertee.

"Hm, und warum krieg ich kein' Melissentee?"

Pyro übernahm die Antwort. "Weil Missy viel grässlicher aussehen als Hagrid."

Nach diesen Worten wandte er sich um und schlug mehrmals mit dem Kopf gegen die Wand.

Aniram lachte kurz und freudlos auf, so dass es wie ein Hicksen klang.

"Will viel heißen, was?"

Sie glaubte nicht, dass Hagrid wirklich großen Wert darauf legte zu erfahren, wieso sie einen einzigen Hauselfennamen kannte. Eher wirkte er wie: hm, ist mir kurzfristig eingefallen, aber wenn keine Antwort kommt, ist auch in Ordnung.

Stattdessen schaute sie voller Irritation Pyro bei dessen Tun zu. Das musste eine Illusion sein, denn kein Mensch verhielt sich so. Auch kein anderes Wesen. Sie unterließ es, ihn danach zu fragen, warum er das tat.

Noch hatte sie nicht begonnen zu trinken, weil sie sich dazu nicht in der Lage fühlte. Die Tasse würde schnell geleert werden, aber nicht, weil sie trank, sondern auf den Tisch fiel und dort zerschepperte.

Sie überlegte, ob ihr Tun vielleicht ein Fehler gewesen war. Allerdings hatte sie sich darauf verlassen, sich genügend Wissen und Können als Pendant eines Ehrenschamanen, der mit bestimmten Riten seines Clans vertraut gemacht worden war, angeeignet zu haben. Mehrmals hatte sie geheilt, es war nicht das erste Mal. Mit einem Unterschied - Joaquin war immer bei ihr gewesen. Um einzugreifen, wenn er einen Fehler voraussah - und niemand war frei von Fehlern - oder um die Heilung zu Ende zu führen, wenn sie keine Kraft mehr hatte. In der Anfangszeit war das logischerweise häufig vorgekommen.

Dass Joaquin nicht da war, empfand sie vor allen anderen Dingen als äußerst gravierend und hinterließ in ihr eine unglaubliche Leere. Etwas in ihr fehlte - von ihr.

Dennoch hegte sie Zweifel, ob die beinahe zweijährige Assistenz diesbezüglich genügen würde und ob sie nichts, aber auch wirklich nichts verdorben hatte. Das wäre nicht nur peinlich. Immerhin hing ein Menschenleben an ihrem Eingreifen und für einen derartigen Fauxpas gab es keinerlei Rechtfertigung. Keine Entschuldigung. Nichts.

Aniram fühlte sich wie leer gesaugt und meinte, ihr Gehirn würde in Watte treiben. Gab es das? Leicht schüttelte sie den Kopf und schaute auf ihre immer noch unberührte Tasse. Ihre Hände hatte sie um die angenehme Wärme gelegt und wünschte sich eigentlich nur noch dicke, warme Strümpfe.

Diese Kälte, der sie seit September schon ausgesetzt war, fraß sie von innen auf. Ein Australier! Mit Strümpfen! Weil er fror! Was für eine verrückte Welt!

Nicht einmal der kurze ironische Gedanke, dass bald wieder die Sonne scheinen würde, trug zu ihrer eigenen Erheiterung bei.

Hagrid brummelte nur etwas Unverständliches und griff nach der Tasse. Dabei ging er sehr vorsichtig zu Werke, denn was er da in seinen Pranken hielt, war lediglich ein Fingerhut, der entsprechend schnell geleert wurde. Er fragte nach Nachschub und einem größeren Behälter.

"Weiß ja nich, wie du sonst aussiehst, aber nachdem du Professor...", er musste abbrechen, weil er einen Tritt vors Schienbein bekam und einen strafenden Blick kassierte.

Aniram hatte sogar die Kraft, die sie nicht mehr hatte, in diesen Tritt gelegt. Himmel noch eins, dagegen sollte sie wirklich etwas unternehmen. Sie konnte es nicht gebrauchen, dass sich Hagrid verplapperte.

Wobei sie den heutigen Abend nicht einfach aus Hagrids Erinnerung löschen konnte. Hagrid gehörte in den Wald, das war normal. Hagrid hatte Severus gefunden. Die Gemälde waren auch noch da. Nein, unmöglich, sie musste sich darauf verlassen. Oder besser gesagt - hoffen, dass er die Klappe hielt.

Ihr Mundwinkel zuckte kurz. Eines Tages würde sie wohl noch jedem Grashalm die Klappe verbieten, so sehr waren ihr diese drei Worte in Fleisch und Blut übergegangen.

Geboren in der Wut, weiter getragen von Angst, manifestiert in Hoffnungslosigkeit. Ihrer mittlerweile ständigen Begleiterin.

Hagrid schaute betreten drein. Doch das hielt nicht lange an. Sobald ein kleinerer Eimer für ihn als Trinkgefäß gefunden war, widmete er sich nur seinem Tee. Trotzdem neidisch auf Anirams Melissentee. Was war nur so Besonderes an dem?

Aniram nahm einen kurzen Schluck und hustete. Die Hitze war dermaßen ungewohnt, dass sie ihr postwendend in den Kopf stieg.

"Naa, wirken Spezialmischung bei Missy?"

Pyro hatte sich wohl inzwischen beruhigt, denn er stand vor ihr und stellte diese Frage sehr interessiert. Auf sein zerknautschtes Gesicht stahl sich ein Lächeln, als er den hochroten Kopf der späten Besucherin sah.

"Wasn da drin?"

Aniram fand, dass sie sich anhörte wie Hagrid.

Pyros Ohren schlackerten noch ein bisschen heftiger. "Melisse und Honig - und ein klein wenig Feuerwhiskey."

"Wirkt gut, glaub ich. Hauptsache, ich werd nicht besoffen."

Abwehrend hob Pyro die Hände. "Nein, nein, nicht so viel, dass Missy Schaden bekommt, nur Wärme."

Seine Augen strahlten mit seinem Gesicht um die Wette und während des ganzen Gesprächs hatte er sich nicht vom Platz gerührt.

Hagrid polterte los: "He, selbst wenn ich andren Tee krieg, wieso is da drin kein Feuerwhisky? Ich brauch das auch, hab Wache geschoben."

"Hagrid...", Aniram konnte nur noch hauchen.

"Ja, ja, schon gut", brummelte er zurück. Teufel, war das schwer. Um nicht noch einmal loszuplappern, widmete er sich lieber seinem Tee. Die Hauselfen schleppten eine Flasche Feuerwhisky herbei, so dass Hagrid seinen Tee verfeinern konnte.

Hagrid griff danach und ersetzte damit kurzerhand den Tee. Von wegen, Spezialmischung. So etwas trank er ständig.

Aniram saß ganz still und genoss die Wärme, die sich in ihr ausbreitete. Wie sollte sie nur ihr weiteres Vorhaben in die Tat umsetzen? Das war schwierig.

In einem Augenblick, als Hagrid nicht her sah, winkte sie Pyro noch näher zu sich heran.

"Pyro, ich brauch mal deine Hilfe."

"Ja, Missy? Selbstverständlich, Missy, Pyro hilft, wenn er kann und darf."

Er war unheimlich stolz darauf, dass er ihr bei etwas helfen durfte.

Hagrid machte sich auf die Suche nach Nachschub, denn der Whisky wurde von ihm schneller geleert als man eine Flasche voll zaubern konnte, also nahm Aniram ihren Zauberstab zur Hand, tippte ihren Hals an und sichtbar wurde ein Anhänger von wunderlicher Form.

"Ich brauch das hier. Nur eins. Ich hab zu wenig Kraft."

"Natüüürlich", hauchte Pyro. "So etwas Wundervolles macht Pyro gern."

Er wusste nicht, worum es ging, aber es hörte sich wichtig an und Missy Hawkwing schien ihm zu vertrauen. Mit seinen kleinen Fingern öffnete er den Verschluss und kippte eines dieser Krümelchen heraus. Er reichte es ihr.

"Danke, Pyro."

Als würde ihr Leben daran hängen, wanderte dieser Krümel in ihren Mund und mit der Zunge drückte sie es mehrmals gegen ihren Gaumen. Sie vertraute darauf, dass es hier in der beinahe beängstigend wirkenden Enge eine ebensolche Wirkung wie unter freiem Himmel entfaltete.

Es dauerte ungewöhnlich lange, bis sie auch nur ansatzweise so etwas wie einen Knoten im Magen spürte oder einen Knall im Kopf hörte. Diesmal, wirklich nur diesmal, betete sie inständig, dass sie die Grenze nicht überschritten hatte. Dass es genauso wirkte wie sonst. Inzwischen war ihr bewusst geworden, sollte sie jemals gezwungen sein, mehr als eines zu nehmen, dann würde es sie unweigerlich in den Abgrund reißen.

‚Bitte, bitte.'

Vielleicht waren diese inständigen und immer wiederholten Worte dafür verantwortlich, dass es ihr endlich als erstes Vorzeichen den Magen zusammenzog. Es war grässlich, aber wenn sie daran dachte, was es in der Konsequenz bedeutete, dann war dieses Gefühl herzlich willkommen.

Kurz schoss ihr in den Sinn, dass sich diese unersetzliche Substanz im Zusammenspiel mit Feuerwhisky anders verhalten könnte. Das hatte sie schließlich bis heute noch nie probiert.

Aniram musste würgen und wurde von mehreren Schockwellen durchflutet. Nicht dass alles umsonst war! Bitte nicht!

Das Risiko musste sie eingehen. Sie öffnete den Mund und holte tief Luft - auch auf die Gefahr hin, dass sowohl Tee als auch Krümel wiederkamen. Aber sie blieben wo sie waren.

Nach einer halben Unendlichkeit breitete sich wohltuende Wärme in ihr aus. Weite. Innen, außen, überall. Ihre Kräfte kehrten zurück - in mehrfacher Hinsicht. Sie atmete auf.

Um die Tasse auszutrinken, musste sie die Augen öffnen. Sie musste sie auch öffnen, um ihre Amphore wieder unsichtbar zu zaubern. Ob Pyro einen Schlag bekam? Seufzend schlug sie die Augen auf.

Pyro prallte zurück. "Oh Missys Augen sind wieder hellgelb. Schön, Missy so zu sehen."

Aniram tat nichts weiter als den Finger auf den Mund zu legen.

"Pyro hat schon verstanden, keine Sorge, Missy." Dann kroch er verschwörerisch näher. "Pyro heißt doch nicht Hagrid."

Diesem letzten Satz folgte ein ausgewachsenes Heulen. Dann setzte der kleine Hauself zu einer Flucht an, die sich gewaschen hatte. Wenn sich Aniram nicht täuschte, liebkoste er sämtliche Ecken und Vorsprünge dieser gigantischen Küche.

Als er seinen Rundgang beendet hatte und immer noch heulend wieder vor ihr stand, sagte sie zu ihm: "Du hast vergessen, deinen Kopf in den Ofen zu stecken oder unters Messer zu halten. Warum tust du das nur immer? Tut ihr das etwa ALLE?"

Pyro knetete an seinem Geschirrtuch herum. Verlegen antwortete er: "Pyro darf so nicht sprechen, nicht gut für Arbeit. Pyro bekommt riesigen Ärger."

"Ich raff das nicht, ehrlich. Ihr dürft mit niemandem sprechen, ihr kriegt Ärger, deshalb rennt ihr euch lieber die Köpfe ein und wozu? Euch hört doch sowieso niemand. Ach, vergiss es."

Sie winkte müde ab und schaute zu Hagrid, der sich offensichtlich inzwischen mit der gesamten Küche angefreundet hatte. Zumindest mit dem flüssigen Teil. Aniram wettete alles, was sie gerade in der Tasche hatte - und das war nichts - dass ihr unfreiwilliger Helfer den Tee als zu unwirksam befand und nur noch Whisky trank. Seine gerötete Knollennase ließ darauf schließen.

Jetzt, wo ihr Hirn wieder einigermaßen arbeitete, erinnerte sie sich daran, dass sie Pyro hatte finden und fragen wollen.

"Du, Pyro?"

"Ja, Missy?"

"Warum dürft ihr eigentlich in Hogwarts tele... parieren? Äh, wie heißt das bei euch? Also apparieren? Du bist ja so schnell verschwunden, als ich zu Se... Professor Snape kommen sollte, da bin ich richtig neidisch geworden."

Pyro breitete daraufhin seine Handflächen nach oben aus.

"Das ist schon immer so und Pyro weiß nicht, warum er das darf. Ist aber nützlich, wenn man den Kindern und Erwachsenen unbeobachtet alles..."

Er brach ab, um wieder ein lautstarkes Winseln vernehmen zu lassen. Bevor er auch nur ansatzweise etwas unternehmen konnte, deutete Aniram auf die Wand. Sofort hörte das Winseln auf und machte einem großen Fragezeichen im Gesicht Platz.

"Na ja", meinte Aniram, "hau dir die Birne ein, wenn du dich hinterher wohler fühlst und denkst, dadurch einen guten Job erledigen zu können. Aber ich lege keinen Wert darauf, mir anzuschauen, wie sich jemand weh tut, nur weil er denkt, er muss das tun. Also lass es in meiner Gegenwart, in Ordnung?"

Pyro schniefte einige Male und schien sich zu beruhigen. Zumindest rannte er nicht mit dem Kopf gegen die Wand oder sonstige Gegenstände.

Wenn es ihn schockierte, dass Missy so direkt fragte, dann ließ er sich das nicht anmerken. Seine Loyalität galt Hogwarts mit allem, was darin wohnte. Also auch Missy.

"Ihr räumt also auch den Lehrern alles hinterher, ja? Wer ist denn der größte Schlumpf?"

Jetzt zitterte der ganze Körper. "Oh nein, Pyro darf nicht..."

"Ist ja schon gut, beruhige dich. Ich kann mir auch vorstellen, wer der größte Ordnungsfanatiker ist."

Sie grinste breit übers ganze Gesicht.

"Oh, tatsächlich? Wem trauen Missy Ordnung zu?"

Sie legte den Kopf schief.

"Ich denke schon, dass es Professor Snape ist. Bei ihm hat glaube ich jedes Staubkorn seinen Platz. Oder ist gar durchnummeriert. Oh, ganz vergessen."

Mit ihrem Zauberstab tippte sie an die Amphore und stopfte sie fest unter das Nachthemd.

Auf Pyros Gesicht hatte sich bei ihren letzten Worten so etwas wie Stolz auf dem Gesicht ausgebreitet. Er setzte sich vor ihr auf den Tisch und flüsterte.

"Ja, Professor Snape ist sehr ordentlich. Dort hat Pyro überhaupt nichts zu tun. Sehr fein, sehr sauber. Mögen Missy Professor?"

Aniram war perplex über diese Frage.

"Mögen? Ja, ich glaube mögen trifft es schon. Irgendwie." Sie lächelte dabei. "Warum fragst du?"

"Oh, weil...", unsicher sah sich Pyro nach entsprechenden Bestrafungsgegenständen um, fand dann aber, dass der lange Holztisch durchaus geeignet wäre, den Kopf darauf zu schlagen. "Eben weil Professor Snape niemand mag. Die Schüler erst recht nicht."

Er verzog das Gesicht vor Schmerz und taxierte die polierte Tischplatte. "Nein, nein", wimmerte er, "Pyro darf das nicht sagen, überhaupt nicht sagen."

"Ach? Ich hab jetzt gar nichts gehört. Hast du was gesagt? Die Spezialmischung hat es wirklich in sich, das muss ich sagen. Wer hat sie erfunden?"

Pyro war erst irritiert, dann erleichtert. Seine Antwort kam sehr schnell.

"Das war ich. Für... zum Aufwärmen."

Aniram hatte das Stocken sehr wohl bemerkt, überging es aber. Lieber beschäftigte sie sich mit dem Gedanken, ob Pyro nur für Severus zuständig war oder auch für andere Lehrer. Aber ihn noch einmal zu fragen, würde nichts bringen, weil sie glaubte, dass die Einrichtungsgegenstände der Küche zu Brennholz verarbeitet würden. Fest stand jedoch, dass Severus, könnte er im Augenblick trinken, durchaus einen mit Feuerwhisky versetzten Melissentee gebrauchen konnte. So schnell war ihr noch nie warm geworden.

Beinahe tat es ihr leid, die Behaglichkeit hinter sich zu lassen und stattdessen durchs kalte Treppenhaus zu trampeln. Doch ein wenig Schlaf würde ihr auch zu Gute kommen. Mit Professor Dumbledore musste sie unbedingt reden. Vielleicht bekam sie eine Sondergenehmigung, um durch Hogwarts zu hüpfen, wann immer es ihr beliebte. Wie hieß es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt.

"Ich danke dir für alles, Pyro." Damit umarmte sie den kleinen Hauselfen und stand auf.

"Oh, Missy können jederzeit wiederkommen, wenn Spezialmischung benötigt wird."

"Das mach ich, Pyro, danke. Vorausgesetzt, ich finde den Weg zur Küche. Vorhin hab ich ihn mir nicht merken können."

"Oh, das ist ganz einfach. Von der Großen Halle aus nach links, zwei Türen weiter und dann hängt ein großer Teppich… vor unserer Tür."

Er strahlte mit den Leuchtern um die Wette.

"Gut zu wissen, nochmals danke. Hagrid?"

Das Brummeln klang sowohl abwesend und als auch abweisend und Aniram konnte sich vorstellen, dass Hagrid die Küche überhaupt nicht mehr verlassen wollte.

"Bleibst du oder gehst du auch nach Hause?"

"Werd wohl auch gehn, denk ich. Warn harter Job heut Nacht."

Er erhob sich aus seiner Ecke und leerte den kleinen Eimer mit immer was er enthielt. Aniram tippte auf Feuerwhisky mit Kräutertee. Sie sah, dass er sich ziemlich schwerfällig bewegte und hoffte, dass er den Weg in seine Hütte fand.

An der Tür drehte sie sich um und winkte in die Runde. "Bis irgendwann mal."

Draußen im kalten Flur angekommen stellte sie fest, dass ihr Körper immer noch warm war. Die Spezialmischung hatte es wirklich in sich.



Kapitel 35 - Schock


Professor Snape spürte, wie das Leben langsam in seinen Körper zurückkehrte. Es kostete ihn einige Mühe, nicht reflexartig zusammenzuzucken. Die Augen hielt er noch geschlossen und versuchte vorsichtig, mit anderen Sinnen seine Umgebung zu ertasten oder zu erspüren. In Sicherheit glaubte er sich noch lange nicht.

Das Tosen hinter seiner Stirn veranschaulichte ihm nur allzu deutlich, was auf ihn zukam. Er hasste es, nach einer Nacht wie dieser aufzuwachen. Bei dem Gedanken an Hagrids Schuhe wurde ihm zusätzlich übel.

Noch nie hatte ihn jemand gesehen oder gefunden, deshalb hatte es immer im Bereich SEINER Kraft, SEINER Möglichkeit, SEINER Konstitution und SEINER Ignoranz der Schmerzen gelegen, sein Image kräftig sowohl auf- als auch auszubauen. Er war ein Meister der Täuschung und die Gründe für gestiegene Gereiztheit mochten höchstens von Albus erahnt werden. Vom hundertprozentigen Wissen war auch dieser weit entfernt.

Wie lange er sich tatsächlich mit nicht heilen wollenden Wunden herumschlug, ging niemanden etwas an. Für die Berichterstattung bei Albus war seine körperliche Verfassung nicht von Relevanz.

Nur wenn er wirklich medizinische Hilfe benötigte und sich gezwungen sah, diese auch anzunehmen, sprach er darüber. Allerdings dermaßen distanziert, als wäre es nicht sein Körper, der litt. Doch bevor er diesen Schritt ging, musste eine äußerst extreme Nacht überstanden worden sein - und er immer noch am Leben. Bekanntermaßen waren Tote wenig mitteilungsbedürftig.

Im Moment nahm der Schmerz in seinem Kopf ungeahnte Dimensionen an. Er musste sich irgendwie zwingen aufstehen, um zu einem Schmerztrank zu kommen.

Seinen augenblicklichen Zustand konnte er schwer beschreiben. Er war mehr eine Schwebe zwischen Wachen und Träumen und nicht gerade dazu angetan, ihm Geborgenheit zu vermitteln.

Schon der Gedanke an Geborgenheit verdeutlichte ihm, dass er für seine Normen absolut kein Gespür mehr hatte. Im Grunde genommen interessierte es ihn nicht, interessierte es ihn nie, wie, wo und wann er ankam. Solange er zurückkam. Im Falle eines Versagens würde er sich wenige Gedanken machen, ob er zurückkehren und Bericht erstatten konnte.

Diesmal war es anders. Er wusste nicht, was seinem Unterbewusstsein signalisierte, auf jeden Fall, und sei es halbtot, zurückzukehren. Warum nur? Warum? Was zog ihn wie ein Magnet nach Hogwarts?

Er fühlte sich wie lebendig begraben. Es war so, als würde er in einem Sarg liegen, dessen Deckel man vergessen hatte zu schließen und Schaufel um Schaufel schwerer Erde fiel auf ihn nieder. Noch immer strengte er sich immens an, um diese merkwürdigen Zustände zu trennen. Wann war er wach, wann träumte er?

Mittlerweile hatte sich Schweiß auf seinem Gesicht gebildet. Unruhe flackerte auf. Das war ebenfalls etwas, das bis jetzt unbekannt war. Nur mühsam und mit maximalem Kraftaufwand gelang es ihm endlich, diese beiden Szenen in und um ihn herum zu trennen.

Wie in einem Strudel perlten die Ereignisse nach oben. Die Nacht im Wald, der fehlgeschlagene Apparierversuch, Hagrids Schuhe. Dann der Filmriss. Nur noch Dunkelheit. Also konnte er noch keine klare Struktur erkennen und es wirbelte alles durcheinander.

Er wusste nur eines: selbst wenn Hagrid ihn in den Krankenflügel oder zu Albus geschleppt hatte, würde sein Körper grün und blau aussehen, noch tagelang schmerzen und schwer verheilen, ganz zu schweigen von dem, das sich im Augenblick im Kopf abspielte.

Dort hockte etwas, das nicht zu ihm gehörte. Oder besser - nicht von ihm ausgelöst worden war. Es fühlte sich fremd an, doch gleichermaßen merkwürdig vertraut. Da war ein kleiner Faden… Doch bevor er ihn aufnehmen und verstärken konnte, riss er. Etwas sehr Sonderbares war geschehen. Nur was?

Diese immer noch vorhandene Barriere tat ihr Übriges, um ihn vollends zu verwirren. War sie im Normalfall dazu gedacht, ihn zu schützen, vermittelte sie ihm im Augenblick das Gefühl, extra aufgebaut worden zu sein, um die Schmerzen in seinem Kopf einzusperren. Lebenslänglich. Das Werk eines Sadisten, dachte er in fast gewohnter Manier.

Quälend langsam dehnte er sein Wahrnehmungsfeld aus. Die zurückkehrenden Gedanken krochen wieder in den Kopf und machten sich breit. Sie schenkten der Tatsache, dass sie mit den Schmerzen in seinem Hirn um die Vorherrschaft stritten, keinerlei Beachtung.

Er tastete sich vor. Er lag definitiv nicht im Wald, nicht in Albus' Büro, nicht im Krankenflügel. Severus hatte beinahe Angst davor, die Augen zu öffnen. Wo war er?

Schlagartig registrierte er, dass es warm um ihn herum war, beinahe heiß. Ein nur allzu vertrauter Geruch erreichte seine Nase.

Es war seine Wohnung! Er riss die Augen auf, ohne dabei an die hämmernden Kopfschmerzen zu denken. Wie zur Hölle war er hierher gekommen? Wer hatte sich erdreistet…

Nein, nicht erdreistet. Dass jemand seine Räume, seine PRIVATräume betreten konnte, ohne dass die Schutzzauber von ihm selbst gelöst worden waren, war schlichtweg unmöglich. Nicht einmal Albus gestattete er diesen Zugang. Denn es genügte vollauf, wenn dieser ihn im Kerker überfiel oder zu sich zitierte.

Jeder Mensch hatte doch wohl ein Recht auf Privatsphäre, er selbst benötigte dringend einen solchen abgeschotteten Bereich und soweit sich Severus Snape erinnern konnte, war er immer noch der Klasse der Humanoiden zuzuordnen.

Dennoch konnte er nicht weiterdenken. Ihm fiel keine Möglichkeit, vor allen Dingen keine Person ein, die dazu in der Lage wäre. Wer hatte das getan? Seine letzte bewusste Erinnerung führte ihn zu Hagrid.

Hagrid? Kurz und freudlos lachte er auf. Nein, Hagrid auf gar keinen Fall. Wie zur Hölle…?

Er fluchte und stellte fest, dass er nicht in der Lage war, seine Gedanken zu Ende zu führen.

"Höllischer Abend, Severus, Glückwunsch. Du liegst hier und weißt nicht, wer oder was dich hierher gebracht hat."

Verwirrt schüttelte er den Kopf, was er sofort bereute. Die kurze Bilanz sah nicht gut aus.

Das Kaminfeuer, das Sofa am Kamin - und hier wurde ihm wirklich heiß und kalt, denn er hoffte nicht, dass ausgerechnet Hagrid das dorthin geschoben hatte - UND die Tatsache, dass es jemandem gelungen sein musste, sein Passwort inklusive aller Schutzzauber zu knacken - all das beunruhigte ihn. Nein, es löste Panik aus. Dies alles lediglich beunruhigend zu finden war geradezu lächerlich.

Mühevoll richtete er sich auf und versuchte dabei die Verbände zu ertasten. Irritiert hielt er inne. Er trug keine Verbände, nichts. Ungeachtet der Kopfschmerzen und der Tatsache, dass sich jemand sehr viel Mühe gemacht hatte, ihn zuzudecken, wühlte er sich unter dem Haufen hervor, stand auf und schoss ins Bad.

Sein Spiegelbild zeigte ihm nichts als blanke, blasse Haut. Haut, die aussah, als hätte sie nie Schmerzen - Schmerzen mit den dazugehörigen Wunden - davongetragen. Seine Wunden waren nicht nur versorgt worden, sondern schlicht und einfach weg. Das war ein Ding der Unmöglichkeit.

Das passte nicht zur vergangenen Nacht. Er müsste wesentlich schlimmer aussehen. Die Schmerzen im Kopf waren schließlich auch immer noch da.

Bevor er weiter auf Erkundungstour ging, zog er die oberste Lade der Kommode auf. Seufzend entschied er sich für den violettfarben schimmernden Trank. Das war der stärkste, den er je gebraut hatte. Ihm war auch nach etwas sehr Starkem. Die Spezialmischung wäre sicherlich auch keine schlechte Idee.

Severus schaute wieder in den Spiegel. "Du siehst fürchterlich aus, weißt du das? Aber nicht halb so fürchterlich, wie du solltest."

Sein Spiegelbild antwortete nicht. Nicht einmal in Form von Nicken oder Kopfschütteln. Er wartete darauf, dass die schlimmsten Schmerzen abklangen. Den Gefallen taten sie ihm aber nicht. Sie hockten hinter seiner Stirn, als wären sie festgewachsen.

Mit zusammen gebissenen Zähnen ging er zurück ins Wohnzimmer. Dort heftete sich sein Blick auf seine Tür. SEINE! TÜR! Er ging darauf zu und öffnete sie.

"Wer war hier drin?"

Die Frage war an niemanden Bestimmtes gerichtet, sondern an alle. Antwort erhielt er keine. Im Gegenteil, alle Gemälde erweckten den Eindruck, als würden sie im Koma liegen. In ihrem speziellen Fall: hängen. Wütend warf er die Tür ins Schloss.

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Aniram hatte dank ihres Wundermittelchens den Weg zum Ravenclawturm besser gefunden und erreicht als sie beim Verlassen der Küche angenommen hatte.

Woran sich Gemälde zwischenzeitlich gewöhnt hatten, nahmen Rüstungen wahrscheinlich sehr, sehr übel. Anscheinend hatte sich der Passwort-Blecheimer nur unter großen Mühen hochstemmen können. Beinahe wollte er sie nicht einlassen. Aber das Passwort war korrekt und den Personen, die es korrekt über die Lippen brachten, musste er Zugang gewähren. Ausnahmsweise war ihr diesmal alles egal, sonst hätte sie sich wohl mit ihm angelegt oder ihn auf morgen vertröstet.

Zufrieden und mit immer noch wundervoller Körperwärme schlich sie ins Bett. Das rasende Herzklopfen ignorierte sie so weit wie möglich. Es könnte doch am Feuerwhisky gelegen haben. Beunruhigt fühlte sie sich deshalb nicht. Im Extremfall wachte sie morgen nicht auf. Doch bis dahin wollte sie nur schlafen.

Wegen Hagrid machte sie sich Sorgen, große Sorgen. Was, wenn er sich tatsächlich irgendwann verplapperte? Sie seufzte.

In ihrem Kopf begann alles durcheinander zu wirbeln.

Die vergangene Nacht war anstrengend gewesen - doch mindestens genauso informativ. Sie hatte Pyro gefunden und wusste, wie sie ihn jederzeit besuchen konnte. Und darüber hinaus wusste sie, dass Sev wirklich der Ordnungsfanatiker unter den Lehrern war. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Es entbehrte nicht einer gewissen Komik, sich den Hauslehrer der Slytherins beim Durchnummerieren von Staubkörnern oder Fusseln vorzustellen.

Hoffentlich ging es ihm gut und er schlief sich gesund. Bevor sie endgültig in einen tiefen, traumlosen Schlaf glitt, löste sich jeder gedankliche Knoten in Luft auf. Jede Besorgnis, jegliche Angst, an der Enge von Hogwarts zu ersticken, machte einer großen, unendlich wirkenden Leere Platz.

Auch die von ihr im Reflex errichtete Barriere bröckelte und hinterließ nichts mehr als imaginären Staub am Boden. Doch das nahm sie nicht mehr wahr.

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Severus begann sich anzukleiden. Eine Tätigkeit, die er sehr schnell wieder verwarf. Eigentlich wäre es praktischer, vorher zu duschen, also zog er sich wieder aus. Er schüttelte den Kopf über so viel Unentschlossenheit und stellte fest, dass die Kopfschmerzen verschwunden waren. Zum Glück, denn beinahe hätte er zu einer zweiten Phiole gegriffen.

Mit dem Verschwinden der Kopfschmerzen kehrte sein logischer Verstand zurück.

Hatte er sich eben noch von Verwirrtheit und Panik leiten lassen, wurde er nun extrem wütend. Gleich, welche Person die Tür aufgebrochen hatte, sie würde dies kein zweites Mal tun. Seine Überlegung, jemanden zu fragen - und das wäre maximal Albus gewesen - verwarf er genauso schnell, wie sie aufgekommen war. Unmöglich konnte er zugeben, dass seine Schutzzauber von einer fremden Person überwunden worden waren. Was natürlich bedeutete, dass er seine Tür mit neuen und stärkeren Zaubern belegen musste. Er sollte wohl die Tür verschwinden lassen und sich einmauern!

Skeptisch wanderte er zurück ins Wohnzimmer und heftete seinen Blick an die Tür, als könnte sie ihm Rede und Antwort stehen. Als könnte sie ihm sagen, womit sie am effektivsten zu versiegeln wäre, damit sich wirklich niemand gewaltsam Eintritt verschaffen konnte. Er stemmte die Hände in die Seiten und bemerkte erst jetzt, dass er immer noch nackt war.

Knurrend griff er zum Zauberstab, den jemand auf seinem Tisch abgelegt hatte, und versiegelte die Tür.

Überhaupt hatte jemand für Ordnung gesorgt und alle Kleidungsstücke, die er nicht mehr trug, bevor er sich selbst ausgezogen hatte, fein säuberlich auf einen Haufen gelegt. Dieses Bild brachte ihn beinahe zum Lachen. Aber wirklich nur beinahe. Es hätte noch gefehlt, die einzelnen Kleidungsstücke wären durchnummeriert worden. Wobei der zerschlissene Gehrock noch in 1a und 1b hätte unterteilt werden müssen.

War das Pyro gewesen? Hier entstanden drei Fragezeichen auf seinem Kopf. Zwar wäre es möglich, weil Pyro sich frei bewegen konnte. Aber er wusste auch genauso, dass sich der Hauself hier nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis zu schaffen machte. Außerdem konnte er nicht wissen, wo er in der vergangenen Nacht gewesen war und in welchem Zustand er sich danach befunden hatte. Er glaubte kaum daran, dass Hagrid ausgerechnet Pyro aufgesucht hatte statt Albus oder Madam Pomfrey zu Rate zu ziehen. Die Fragezeichen verdoppelten sich.

Müde, in gleichem Maße überwach und desorientiert stapfte er in die Dusche. Als er den Wasserhahn aufdrehte und sein Gesicht dem kalten Strahl entgegen hielt, überlegte er, welche Punkte er in welcher Reihenfolge abarbeiten musste.

Nach einer halben Stunde und Tonnen eiskalten Wassers wollte die Erleuchtung immer noch nicht kommen. Eines hatte die Dusche jedoch bewirkt: seine Wut und seine Frustration waren nicht mehr so ausgeprägt wie vorhin. Das hieß noch lange nicht, dass sie verschwunden waren. Sie hatten lediglich und für einen kurzen Zeitraum etwas anderem Platz gemacht.

Mit verkniffenem Mundwinkel drehte er den Wasserhahn zu und dachte, dass wohl selbst der negativste seiner Gedanken vor dieser Sturzflut den Rücktritt angetreten hatte.

Es beunruhigte ihn, dass er der augenblicklichen Situation wesentlich mehr Aufmerksamkeit widmete als dem Geschehen im Wald. Das war sehr ungewöhnlich. Im Zuge dessen rückte die Nacht ins fast nicht mehr Greifbare. Ironisch dachte er, dass er wohl damit beginnen sollte, sich das Wichtigste für eine Berichterstattung zu notieren. Es war generell nicht seine Art auszuschmücken, doch einen kleinen Ansatz des Erlebten sollte er schon im Hinterhirn behalten. Wobei er sich fragte, was zu diesem kleinen Ansatz gehören sollte. Diese sich fremd anfühlende Barriere? War es angebracht, Albus damit zu konfrontieren? Nein, das war Beiwerk, das er allein ergründen musste.

Aber er konnte im Moment alles, nur nicht denken. Zu sehr beschäftigten ihn die aufgebrochene Tür und seine Spontanheilung. Snape wusste nicht einmal, ob Hauselfen dazu in der Lage waren. Sie konnten vieles, aber auch heilen? Wenn ja, warum hatte sie noch niemand dafür eingesetzt? Wieder und wieder strich er sich über seinen Oberkörper und erwartete jeden Moment Schmerzen. Aber da war nichts.

Seine Gedanken rankten sich unwillkürlich um die Hauselfen, weil er an den ordnungsliebenden Einbrecher dachte. Die Sache hatte einen Haken. Hauselfen mussten nicht brachial durch die Tür. Oder war selbst seine Versieglung für sie undurchdringbar? Wenn ja, womit zur Hölle war ein Hauself dann hereingekommen?

Er seufzte, stieg aus der Dusche und kleidete sich an. Viel Zeit bis zum Unterrichtsbeginn blieb ihm nicht mehr, also entschied er sich dafür, in voller Montur sitzen zu bleiben. Schweren Herzens ließ er Pyro kommen.

Ein Versagen seiner Schutzzauber... nie und nimmer. Das tiefsinnige Verfeinern dieses Gedankens glich einer Sandburg. Mühsam aufgerichtet wurde es mit der nächsten Welle niedergerissen.

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Pyro schwang seine Arme in der Küche wie noch nie. Seine Augen leuchteten wie die von Missy Hawkwing. Sie waren so schön! Es erwärmte sein Herz, dass jemand Professor Snape mochte. Das kam nun wirklich in zehntausend Jahren einmal vor und motivierte außerordentlich. Dass die Spezialmischung genauso anschlug wie bei seinem…

Weiter kam er nicht, denn er hatte nach ihm geschickt. Pyro machte sich auf den Weg.

Vor der Tür zu Professor Snapes Räumen hielt er an und klopfte. Erst nach einem brummigen Herein wagte er es, die Tür zu öffnen. Die Stimmung oder auch Laune - dieses Wort behielt er für sich - war berechenbar. Die Spezialmischung wurde immer nur geordert bei wirklich, wirklich schlechter Laune.

Zaghaft trat er ein, wackelte zum Tisch und stellte das Tablett ab. Unsicher, ob er einschenken sollte oder nicht, schaute er hoch.

Oh, oh! Dieser Blick! Hatte Pyro doch richtig vermutet. Sehr, sehr schlechte Laune. Schon setzte er zum Rückzug an, als sich sein Meister noch einmal rührte. Er war für die Ordnung in Professor Snapes Wohnung verantwortlich, er brachte die Spezialmischung, wann immer sie benötigt wurde, also war er auch sein Meister. Pyro war sich nicht ganz sicher, ob er einen Lehrer überhaupt so einstufen durfte. Aber er tat es ohne nachzudenken und nach dem, was ihm Missy Hawkwing anvertraut hatte, bereitete es ihm Freude.

"Bleib hier."

Schlotternd blieb Pyro stehen.

Snape entging das nicht, aber es kümmerte ihn nicht. Mit ruhiger gewordenen Händen schenkte er sich ein und lehnte sich zurück.

"Warst du gestern Nacht oder heute Morgen hier drin?"

Pyro war regelrecht entsetzt. Seine Stimme kippte um.

"Nie.. niemals, Professor Snape, Sir. Pyro würde nie von sich aus diese Räume betreten!"

Dabei machte er eine weit ausladende Handbewegung, die halb Hogwarts mit einzuschließen schien.

"Gut." Snape trank einen Schluck und betrachtete nachdenklich die Tasse. "Wieso war die Spezialmischung so schnell fertig? Bevor sie ihre volle Wirkung entfaltet, muss sie erst eine Weile ziehen und ich könnte mich nicht daran erinnern, dir das schon vor einer halben Ewigkeit gesagt zu haben."

Wäre er Hellseher oder hätte er gewusst, was nun kommen würde, hätte er zu Gunsten seines Gesundheitszustandes wohl nicht gefragt.

Pyros Gesicht hingegen begann zu strahlen.

"Oh, es war noch ein bisschen übrig. Missy Hawkwing kam in die Küche und sah fürchterlich aus. Wirklich ganz fürchterlich. Also hat Pyro ihr ein wenig von der Spezialmischung gegeben. Und wissen Sie was, Professor Snape, Sir? Sie hatte anschließend wieder wunderschön gelbe Augen."

Sicher, warum sollte er nur mit einem Schock am Abend leben? Das war ungesund. Genauso ungesund war, dass er sich nun gehörig verschluckte. Zum Henker, jetzt trank er schon die Reste von Gelbauge-Hawkwing. Er war stocksauer und konnte diesen Namen nicht mehr hören, ohne von beinahe physischen Schmerzen gepeinigt zu werden.

"Hawk... Hawkwing? Ich weiß, dass sie dich sucht, aber kein Schüler findet je die Küche."

Seine Augen bohrten sich in den kleinen Hauselfen, der daraufhin noch mehr schrumpfte und sicherheitshalber sein Gesicht zusammenknautschte.

"Sie kam mit Hagrid in die Küche, Sir. Er hat sie getragen, sie konnte sich nicht mehr rühren. Gar, gar nicht mehr, die arme Missy."

Normalerweise hätte er jetzt wieder die Hände entschuldigend ausgebreitet, doch er ließ nur den Kopf hängen. So entging ihm auch die elektrisierende Wirkung seiner Worte, als der Name Hawkwing in Verbindung mit Hagrid fiel. Snape wurde übel und alle Alarmglocken schrillten.

Ätzend stieß er hervor: "Sonst noch was Neues, außer dass sie von der Spezialmischung gelbe Augen bekommt?"

"Missy mögen Professor sehr, sehr. Und Pyro soll nicht ständig diesen Unsinn betreiben und sich selbst bestrafen, wenn er etwas gesagt hat, das besser nicht seinen Mund verlassen sollte, Sir."

"Raus!"

Verdutzt riss Pyro den Kopf hoch. Hatte er etwa etwas Falsches gesagt? Doch die Blicke genügten und er entschied sich doch für eine entsprechende Bestrafung. Blitzartig verließ er den Kerker.

Snape saß wie in Stein gehauen am Schreibtisch. Die Offenbarung von Pyro hatte ihn mehr als getroffen. Die Namen Hagrid und Hawkwing in einem Satz? Zufall? Nein, das war mehr als bloßer Zufall. Nun stand die Frage im Raum, wie eines zum anderen gekommen war. Wer zu wem?

Etwas Eiskaltes kroch durch seine Gedärme. In Verbindung mit seinem wieder arbeitenden Verstand sorgte das für einen ausgewachsenen panikartigen Anfall.

Aber wie war das möglich?

Ein einziges Mal hatte er eine solche merkwürdige Heilung, bei der anschließend nicht einmal blaue Flecken oder Schwellungen zu sehen waren, erlebt. Nein, nicht erlebt, ihm wurde das Gefühl vermittelt, mittendrin zu sitzen. An Okuna. Oder Joaquin oder wie immer sie ihn zu nennen beliebte.

Wenn alles einen Sinn machen sollte und er wusste, dass Hagrid nicht zaubern durfte, dann gab es nur eine einzige Möglichkeit. Wenn sie für alles verantwortlich war, wie bei Merlins Glatze war sie hier hereingekommen? Wann und wo hatte sie Hagrid aufgegabelt? Dass dieser sie nicht aus dem Bett geschüttelt hatte verstand sich von selbst. Verfügte sie über so etwas wie einen überirdischen Sinn? Unwillkürlich kam ihm die fremde Barriere im Wald in den Sinn. Sie hatte sich in genau demselben Augenblick manifestiert, als er an sie denken musste. Es war der richtige Schutz zur richtigen Zeit gewesen, weil er krampfhaft damit beschäftigt war, unter etlichen Crutiatus-Flüchen an seinen Hirngespinsten gegenüber einer bestimmten Person - konnte man ihn noch Person nennen? - festzuhalten.

Dass sie schlecht ausgesehen hatte, würde bedeuten, dass sie bis zum Exzess gearbeitet hatte - woran auch immer. Wahrscheinlich an seiner Heilung. Doch er selbst hatte seine eigenen Verletzungen sondiert und er wusste nicht, ob sie wirklich zu einer solchen nahezu perfekten Gesundung hätte beitragen können. Verflucht - von wegen nahezu perfekt! Ihm fehlte nichts! Nicht mehr.

Seine Gedanken glichen mittlerweile einem Wirbelsturm. Krampfhaft hielt er sich an seiner Tasse fest. Seine Augen blickten unstet. Beinahe gab es keine andere Option als alles mit ihrer Anwesenheit zu erklären. Sicher, seine Zauber waren effizient genug und wohl nichts und niemand auf der Welt hätte es sich gewagt, alles niederzureißen. Schlicht und einfach deshalb, weil sie normalerweise unüberwindbar waren.

Doch wie er bereits mehrfach konstatiert hatte - das Wort normal war mit Australien und seinen Einwohnern unvereinbar. Dank der letzten wirklich informativen Abende wusste er auch, wozu ihr Zauberstab in der Lage war. Wenn er sich verwandeln konnte, lag es so fern, damit auch seine Schutzzauber zu neutralisieren?

Diese Vorstellung behagte ihm definitiv nicht, doch nach dem Gesehenen und Erlebten würde er sich keinesfalls wundern, wenn sie die Welt aus den Angeln heben könnte. Nichts, aber auch gar nichts würde ihn je wieder verwundert zurücklassen. Nicht, wenn er sich mit den australischen Gepflogenheiten auseinandersetzte, mit denen sie ihn letzte Nacht überhäuft hatte. Es war über ihn hereingefallen wie ein lange schwelender und längst überfälliger Vulkanausbruch.

Eines bezweifelte er mit Sicherheit nicht: alle Fakten waren unter Garantie der Kategorie Staatsgeheimnisse zuzuordnen.

Morgen würde er sie zur Rede stellen. Nein, heute schon. Über den Wortlaut war er sich noch nicht im Klaren. Dass es keine direkte Frage sein durfte, verstand sich von selbst. Andererseits - weshalb nicht? Stellte sie vielleicht Fragen über fünf Ecken?